Kristoffer Bark ging am Restaurant vorbei und holte seine Lunchbox aus dem Kühlschrank. Irgendwas roch da drin schlecht, und er schlug die Kühlschranktür so schnell wie möglich wieder zu. Hauptverdächtiger war natürlich der Techniker aus Rödeby, der ein Faible für Sauerkraut, frittierten Haggis und geräucherten Aal hatte. Dazu noch ein bisschen Kartoffelpfanne, und der Geruch fand seine Erklärung.
Er hatte keine Zeit, das Essen aufzuwärmen, sondern beeilte sich, die Wendeltreppe zum Turmzimmer hinaufzukommen. Die heutige Therapieeinheit mit Mia Berger hatte er verschoben und hoffte, dafür nicht von Zimmermann abgemahnt zu werden, die damit drohte, sein Anstellungsverhältnis zu beenden, wenn er die Therapie nicht konsequent durchführte. Doch jetzt im Moment schaffte er es einfach nicht. Ehe sie nicht ausschließen konnten, dass Josef Bredow ermordet worden war, zählte jede Minute. Es war immer besser, die Zeugen so früh wie möglich zu befragen, denn später wurden die Aussagen oft vage und unsicher. Wenn Sara recht hatte und ihr Ehemann tatsächlich umgebracht worden war, dann würde sich diese Arbeit hinterher auszahlen.
Bevor sie mit den Verhören des Nachmittags anfangen konnten, sollte die Gruppe noch einen ersten Durchgang mit dem Chef der Kriminaltechnik, Ali Kathami, haben. Er war ein durchtrainierter Mann um die sechzig mit graumeliertem Haar. In den Siebzigerjahren war er aus dem Iran geflohen und hatte mit dem Mut der Verzweiflung versucht, sich den schwedischen Traditionen anzupassen. Seltsame Sitten, wie Brote mit verfaultem Fisch und Mittsommerfeste, auf denen erwachsene Männer beidbeinig um das heidnische Phallussymbol, das der Mittsommerbaum seiner Ansicht nach war, herumhüpften und Lieder von kleinen Fröschen sangen.
Man sollte meinen, dass ein Mann wie Ali, der darüber hinaus unzählige Obduktionen durchgeführt hatte, entspannt sein müsste. Doch auch für ihn gab es eine Grenze. Sein Sidekick Rödeby war eine ständige Quelle des Ärgers. Meist ging es dabei um die schrägen Essensgewohnheiten des Kollegen, doch diesmal kam er auch noch zu spät.
Henrik, Alex und Ingrid saßen bereits am Konferenztisch, und Ali hatte vor dem Whiteboard Platz genommen. Er schaute auf die Uhr. Es war drei Minuten nach der vereinbarten Zeit. Er schien einen kleinen inneren Konflikt mit sich auszufechten, beschloss dann aber, nicht weiter auf Rödeby zu warten, sondern mit dem Vortrag zu beginnen.
»Josef Bredow wurde 38 Jahre alt. Er war gesund, durchtrainiert und nahm nach den Krankenakten, in die ich Einsicht hatte, keine Medikamente. Ab und zu hatte er mal Halsschmerzen, dann ist da ein gebrochener Arm als Siebenjähriger, und als er fünfzehn war, musste mal nach einem Hockeymatch eine Augenbraue genäht werden. Er hatte niedrigen Blutdruck, und das sind die einzigen Besonderheiten, die in der Akte erwähnt werden.«
»Ist es okay, wenn ich derweil was esse?«, fragte Kristoffer und öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten die Lunchbox. Die Blicke der anderen störten ihn ein wenig, aber er hatte seit fünf Uhr früh am selben Morgen nichts gegessen, und jetzt war schon Nachmittag.
Ali schenkte ihm ein abschätziges Lächeln und wandte sich dann wieder seiner Zeitlinie zu. »Josef Bredow ist irgendwann in der Zeit zwischen drei und fünf Uhr in der Nacht auf Sonntag gestorben. Das ist eine ungefähre Schätzung, in die auch die Raumtemperatur als Parameter hinzugezogen werden muss. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Leiche nicht bewegt worden ist. Die Ansammlung von Gewebeflüssigkeit deutet darauf hin, dass er auf der rechten Seite gelegen hat, als er starb, und er lag auch noch auf dem Bett, als die Polizei kam.«
Ali hielt inne, als der Fahrstuhl sich quietschend zum Turmzimmer hinaufbewegte. Kurz darauf flutete Rödeby herein, mit einem Supersandwich in der einen Hand und einer 2-Liter PET -Flasche Cola in der anderen und demselben genüsslichen Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er mal aus der Forensischen Abteilung rausgelassen wurde.
»Setz dich«, sagte Ali mit müdem Blick. Wenn es irgendetwas gab, was er noch weniger mochte als Leute, die zu spät kamen, dann, denen auch noch dabei zusehen zu müssen, wie sie Junkfood aßen. Er selbst war Gesundheitsfanatiker.
»Da gibt es etwas, was mich wundert«, sagte Rödeby, und Bark brauchte eine Weile, bis er seine Worte durch die schmatzenden Kaugeräusche interpretieren konnte. »Die viereckigen Abdrücke …«
»Dazu komme ich noch.« Ali warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Es gibt keinerlei Anzeichen für äußere Gewalt, doch eine Sache erstaunt uns. Josef hatte viereckige Abdrücke auf dem Rücken.«
»Das sieht aus wie ein allergischer Ausschlag«, flocht Rödeby ein und biss einmal quer über die ausladende Stulle. Sein Mund war ziemlich klein, und es blieb ein Schnurrbart aus Krabbenmayonnaise mit Dill auf der Oberlippe zurück, der ihm nicht sonderlich gut stand.
Ali stöhnte laut und fuhr fort: »Wir wissen nicht mit Sicherheit, was für Abdrücke das sind oder ob sie von Bedeutung für seinen Tod waren. Doch müssen sie entstanden sein, als er noch lebte. Es wäre gut zu wissen, wie lange diese roten Vierecke dort waren, vielleicht weiß seine Frau Sara davon. Sie hat seinen Rücken gesehen, als sie entdeckte, dass er tot war, aber keine irgendwie gearteten Abdrücke erwähnt, was natürlich auch an dem schwachen Licht gelegen haben kann.«
»Ich werde sie fragen«, sagte Bark.
Ali richtete sich auf und fühlte nach, ob der Krawattenknoten noch korrekt saß. »Das ist alles fürs Erste«, sagte er. »Die Leiche wird in die Gerichtsmedizin nach Linköping geschickt, wo sie heute Nachmittag eine Obduktion durchführen werden, und dann wird es noch eine Weile dauern, ehe wir Antwort auf die Proben erhalten werden, die genommen worden sind. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann haben mehrere Zeugen ausgesagt, dass Josef ziemlich betrunken war.«
»Sein Bruder Wilhelm musste ihm ins Bett helfen«, erklärte Bark.
Ali schüttelte bedauernd den Kopf. Er selbst trank so gut wie nie Alkohol. »Ich konnte nichts Erbrochenes im Schluckbereich sehen, und er lag auf der Seite, es besteht aber natürlich die Gefahr, dass er sich erbrochen und es in die Lunge gezogen hat. Wie gesagt, nach der Obduktion werden wir mehr wissen.«
»Haltet Ausschau nach Anzeichen auf Fentanyl.« Das war ganz ins Blaue gesagt, aber Kristoffer wollte einen Zusammenhang mit dem Fall Emelie Kartman ausschließen, deren Ehemann ja durch dieselbe Substanz ums Leben gekommen war.
Als Ali mit Rödeby im Schlepptau das Zimmer verlassen hatte, fasste Kristoffer das Gespräch mit Sara zusammen. »Die Eingangstür war die ganze Nacht über verschlossen, jedoch mit einer Ausnahme. Sara hat sie selbst ziemlich exakt um vier Uhr aufgeschlossen, um ihre Brille aus dem Auto zu holen, und sie dann wieder verschlossen, als sie reinging. Das Auto stand draußen auf der Einfahrt, sie hatte die Tür also im Blick. Niemand kann rein- oder rausgegangen sein, ohne dass sie es bemerkt hätte. Soll heißen, wenn Josef ermordet wurde, dann war es wahrscheinlich jemand im Haus, der ihn umgebracht hat. Ich habe, als ich dorthin kam, alle Türen und Fenster kontrolliert, und sie waren sämtlich zu und verschlossen, und Gunilla Svensson, die Schwiegermutter des Opfers, hat ausgesagt, das sei auch während der Nacht so gewesen.«
»Falls sich nicht jemand schon früher reingeschlichen hat, oder falls jemand von außen einen Schlüssel hatte«, schob Henrik ein. »Letzteres kann ich mit ihr besprechen.«
»Gut. Ich werde jetzt gleich Sara anrufen, damit wir eine Antwort auf Alis Frage nach den Abdrücken bekommen, die Josef auf dem Rücken hatte.« Kristoffer ging auf den Flur hinaus und kehrte nach dem Telefonat zu den anderen zurück.
»Sie konnte nicht sagen, was für Abdrücke das sein könnten. Als sie in der Nacht zu ihm ging, war es zu dunkel, um irgendetwas zu sehen. Aber sie ist ganz sicher, dass er sie am Samstag um die Mittagszeit noch nicht hatte. Da stand er nämlich mit dem Rücken zu ihr im Neonlicht und hat sich mit nacktem Oberkörper rasiert. Wenn es da schon diese Abdrücke gegeben hätte, dann wären sie ihr definitiv aufgefallen.« Kristoffer setzte sich an das kurze Ende des Tisches. »Ich habe Ali schon benachrichtigt.«
»Ich mache weiter mit Bredow-net und Dorteus Bygg«, erklärte Ingrid. »Die vom Dezernat für Wirtschaftsverbrechen werden das hier nicht priorisieren, wenn es nicht einen konkreten Verdacht auf Mord oder klare Hinweise auf ein Wirtschaftsverbrechen gibt. Außerdem muss ich mit Ulf zusammenarbeiten. Er mag in Sachen Wirtschaftsverbrechen einer der Besten sein, aber deswegen ist er trotzdem ein Idiot. Ich sollte dafür einen Zuschlag bekommen.«
»Du bist eine der Besten. Und es wäre gut, wenn ihr euch einigen könntet«, sagte Kristoffer und fuhr sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über den sprießenden Schnurrbart. »Bitte die vom Wirtschaftsdezernat, alle Informationen auszuspucken, die sie über Dorteus Bygg haben. Untersuch die Transaktionen, die sie mit Bredow-net haben. So kriegen wir die Informationen auch gleich mit, ohne den vollen Scheinwerfer darauf richten zu müssen. Ich vertraue auf dein Fingerspitzengefühl.«
Kristoffer wandte sich Alex zu. »Ich möchte, dass du alles heraussuchst, was es über Sara und Josef gibt, vor allem in Bezug auf die Anzeigen, die gegen sie erstattet worden sind. Alles, was du findest.«
Alex sah etwas peinlich berührt aus. Er warf den schwarzen, langen Pony zurück, sodass sie Blickkontakt hatten. »Ich habe schon angefangen, Sara zu checken. Und ein Vögelchen hat mir geflüstert, dass Josef am Freitag davon gesprochen hätte, den Betrag seiner Lebensversicherung raufzusetzen. Ich habe keine Papiere gesehen, aber das ist, was ich gehört habe.« Alex fühlte die Blicke der anderen, die auf eine ausführlichere Erklärung warteten. Er aber schüttelte den Kopf. »Ein anonymer Tipp. Alex Molin gibt niemals eine Quelle preis. Aber wir sollten es einfach mal checken.«
Kristoffer schauderte es. »Du hast einen anonymen Tipp bekommen? Muss ich dich an die unbegründeten Anzeigen erinnern, die zuvor gegen die Bredows erstattet wurden? Ich finde, du solltest die Quelle preisgeben, Alex. Du bist Polizist und nicht verantwortlicher Herausgeber eines Revolverblatts.«
»Okay, ich hab mit einer alten Tante gequatscht, die ich kenne und die im selben Haus wie Sara wohnt. Frideborg. Sie hat im Treppenhaus gehört, wie Sara am Telefon über die Lebensversicherung gesprochen hat.«
»Dann möchte ich ihre Kontaktinformationen. Außerdem möchte ich, wie gesagt, dass du die Krankenkasse kontaktierst, um die anonymen Anzeigen und Tipps, die sie zu der Familie bekommen haben, zu überprüfen. Bitte Gaby um eine Vollmacht, und sprich auch mit Sara und dem Versicherungsgeber, ob an dem Tipp über die erhöhte Lebensversicherung irgendetwas dran ist.«
Kristoffer wandte sich an Henrik. Dem mochte man ja keine eiligen Aufträge überlassen, doch war er ein Meister der sorgfältigen Arbeit und Analyse. »Henrik, abgesehen davon, dass du Gunilla noch mal zu den Hausschlüsseln befragen solltest, möchte ich, dass du das Material von unseren Kollegen im Außendienst zusammenfasst und nach allem suchst, was du über Antonia und Wilhelm Bredow privat herausfinden kannst. Wenn wir erfahren, dass es sich um Mord handelt, werde ich Kontakt zum Jugendamt aufnehmen. Bis dahin ist es im Prinzip unmöglich, die dazu zu bringen, ihre Schweigepflicht zu brechen.« Kristoffer zögerte. »Ingrid und ich werden morgen das Ehepaar Dorteus vernehmen. Das Verhör würde ich gerne in deren Büro verlegen.«
Ingrid bestätigte mit einem Zwinkern: »Gut, vor Ort kann man immer mehr sehen, als wenn sie hierherkommen. Spontan würde ich vorher ja gerne noch einen Blick in ihre Buchführung werfen. Ich werde mir die öffentlichen Zahlen ansehen. In meiner Jugend habe ich nämlich in einem Steuerbüro gearbeitet.«