Es war später Nachmittag am Mittwoch. Die Stadt war in eine schwere graue Wolkendecke eingebettet, und ein Gewitter lag in der Luft. Sara kauerte mit einer schlafenden Moa im Schoß auf Lisas Bettsofa in der Einzimmerwohnung an der Hertig Karls allé. Die Kopfschmerzen hämmerten gegen ihre Schläfen. Gunilla hatte Moa in der Tagesstätte abgeholt und würde sich um sie kümmern, während Sara und Wilhelm zum Bestattungsinstitut gingen. Lisa war noch bei der Arbeit.
»Warum hat Wilhelm es denn so eilig, zum Bestattungsinstitut zu kommen?«, erkundigte sich Gunilla vorsichtig. »Es sind erst vier Tage vergangen. So dringend wird es ja wohl nicht sein.«
»Ich weiß es nicht. Es ist irgendwas mit dem Testament und der Firma. Wilhelm hat gesagt, es sei notwendig, die Papiere so schnell wie möglich fertig zu machen. Die Obduktion müsste heute beendet sein.«
»Ich bin heute Morgen schon wieder verhört worden«, berichtete Gunilla. »Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass sie mich ausgefragt haben. Diesmal wollten sie wissen, ob ich Emelie Kartman kennen würde, du weißt schon, die Frau, die sie im Baggersee bei Lanna tot in einer Nageltonne gefunden haben. Warum fragt die Polizei mich denn nach der?«
»Ich weiß nicht, Mama. Woher sollte ich das wissen?«
Sara hob Moas Kopf an und schob sich vorsichtig unter dem Kind heraus, legte es auf dem Sofa ab und stand dann auf. Sie ging ins Badezimmer und wusch sich das vom Weinen geschwollene Gesicht ab. Sie hielt alle diese Fragen nicht mehr aus. Ihre Mutter kannte nicht das ganze Bild. Anfänglich hatte Sara versucht, ihr von den Schikanen zu erzählen, vor allem von der ersten Anzeige beim Jugendamt, aber da hatte Gunilla sofort Josefs Fähigkeiten als Vater infrage gestellt, und Sara war wütend geworden und hatte beschlossen, den Mund zu halten. Inzwischen war so viel geschehen, dass man sie nicht mehr auf den neuesten Stand bringen konnte. Sie wäre nur sauer, weil sie ausgeschlossen worden war. Sara zog die schwarzen Kleider an, ihre Mutter fand, dass sie die als Witwe tragen müsste. Als ob die Trauer in den Kleidern säße. Doch auch darüber zu diskutieren hatte sie nicht die Kraft. Sie band sich das lange rote Haar zu einem Pferdeschwanz und begann dann, ihre goldenen Ringe auf der linken Hand zu betrachten, den Verlobungsring und den Ehering. So viele schöne Erinnerungen, so viel Liebe und Glück hatten sie trotz allem während der sieben Jahre, in denen sie zusammen gewesen waren, gehabt. Sie versuchte sich auf das Helle zu fokussieren, um nicht in den tiefen schwarzen Abgrund der Trauer gerissen zu werden. Es ging darum, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt getan werden musste, und die Sorge vor der Zukunft wegzuschieben.
Sara hob Moa vom Sofa und trug sie in ihr Bett, danach ging sie in die Küche. Wilhelms Volvo parkte direkt vorm Fenster. Er stand daneben und rauchte. Das erstaunte sie. Sie hatte ihn noch nie rauchen sehen. Rasch umarmte sie ihre Mutter und eilte ins Treppenhaus hinaus. Wie lange hatte er schon da gestanden und gewartet? Sie hoffte, Antonia würde nicht dabei sein. Die Schwägerin hatte eine Tendenz, alles in die Hand zu nehmen und am besten zu wissen. Sicherlich war sie eine ausgezeichnete Organisatorin und Krankenschwester, wenn in akuten Situationen rasche Entscheidungen getroffen werden mussten. Doch sonderlich feinfühlig war sie nicht.
Am Telefon heute Morgen hatte Wilhelm gesagt, dass er Sara im Bestattungsinstitut vertreten könnte, wenn sie ihm eine Vollmacht geben würde. Doch darauf war sie nicht eingegangen. Warum wollten alle in ihrer Umgebung ihr das Recht nehmen, selbst zu entscheiden und zu bestimmen? Als sie Antonia am Steuer sitzen sah, fiel es Sara schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie hätte zu Hause bei Moa bleiben sollen, die Geborgenheit der Tochter war derzeit das einzig Wichtige. Die Beerdigung hätte noch warten können. Doch jetzt war es zu spät, sich aus dem Termin beim Bestattungsinstitut herauszuziehen. Antonia hatte den vereinbart.
Sara stieg ins Auto, und sie kreuzten durch die Stadt, wo schon der Feierabendverkehr begonnen hatte. Es war halb fünf und schwer, einen Parkplatz zu finden. Sie mussten mehrere Runden drehen, ehe in der Nähe des Bestattungsinstituts »Abend« ein Platz frei wurde.
Weil sie zu spät kamen, wurden sie direkt an der Tür begrüßt, wo der Bestatter sicherlich bereits nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Man führte sie in ein helles Zimmer. Kataloge mit Särgen, Urnen und Blumenarrangements lagen in einem ordentlichen Stapel.
Der Bestatter, ein älterer Mann im dunklen Anzug, drückte ihnen sein Beileid aus und bat um ihre Ausweise. Man brachte ihnen Kaffee und ließ sie eine Weile allein, um in den Katalogen zu blättern und sich zu entscheiden, wie die Anzeige und das Blumenarrangement zur Beerdigung aussehen sollten.
Als der Bestatter zurückkam, sprach Wilhelm ihn an. »Was das Testament angeht …«, begann er, und Sara sah, dass ihr Schwager gestresst war; seine Wangen waren rotfleckig, und er zog an den Fingern, sodass die Gelenke knackten. »Was das Testament angeht, können wir das als Erstes besprechen?«
»Wenn Sie möchten, dass wir uns darum kümmern, dann haben wir einen Juristen, der am Ende dieser Besprechung zu Ihnen kommen kann.«
»Danke«, antwortete Antonia für sie alle. »Wilhelm und ich haben mal ein paar Sachen für die Beerdigung zusammengestellt. Wir hätten gerne sowohl Verwandte als auch Freunde und Geschäftsfreunde dabei.«
Sara hatte das Gefühl, auf ihrem Stuhl zu erstarren, als Antonia ein fertiges Konzept auf den Tisch legte. An die achtzig Personen waren aufgelistet, und ein Programm für die Beerdigungszeremonie und die Erinnerungsstunde war mit Psalmen und allem anderen bereits geplant. Ihr wurde mit einem Schlag schwindlig, und sie musste um Atem ringen.
»Jetzt aber mal langsam. Es ist mein Mann, der da begraben wird, und ich bin es, die hier die Entscheidungen trifft.«
Wilhelm, der erkannte, wie verärgert sie war, legte ihr den Arm um die Schultern. Er roch nach Schweiß, Parfüm und Zigarettenrauch. »Was denkst du denn zur Beerdigung, Sara?«
»Du musst dich nicht darum kümmern«, fügte Antonia hinzu und legte den Kopf schief, als würde sie mit einem Kind reden. »Wir können uns um alles kümmern. Du sollst nicht …«
»Ich will eine kleine Beerdigung im allerengsten Kreis. Allerdings weiß ich nicht einmal, wie ich das Geld dafür zusammenbekommen soll und wie ich das durchstehen kann.«
Der Bestatter sah sie sanft lächelnd an. »Es gibt da gute Versicherungen, die die Kosten decken. Wissen Sie, ob Ihr Mann versichert war?«
»Nein, das weiß ich nicht. Er hat sich um alle Papiere gekümmert.« Und plötzlich erinnerte sie sich. »Er wollte doch die Versicherungssumme für die Lebensversicherung erhöhen. Davon hat er am Freitag gesprochen. Ich weiß nicht, ob er das dann auch getan hat.«
Wilhelm starrte sie an. »Was sagst du da? Hat er die Lebensversicherung erhöht und ist einen Tag später gestorben? Wussten noch mehr Leute außer dir davon?«
»Was? Warum fragst du das?« Sara blieb die Luft weg, als ihr der Grund seiner Frage aufging.
»Ich meine gar nichts. Das musst du nicht so auffassen. Ich finde nur, dass es ein seltsames Zusammentreffen ist.«
»Wir vergessen das und konzentrieren uns auf die Aufgabe«, sagte Antonia, während sie in dem Katalog mit Mustern für die Anzeige blätterte. Sie setzte den Zeigefinger auf die Überschrift Beliebte Gedichte zum Thema: liebe Mutter . »Das hier ist ja zu witzig: Du lenktest, du tatest, du wolltest uns wohl …«
»Ich kann das hier nicht«, sagte Sara und hielt sich krampfhaft am Tisch fest, während die Wände des Zimmers sich drehten und schwankten. Sofort spürte sie Wilhelms Hand auf ihrem Rücken, schüttelte sie aber ab.
»Das Wichtigste in diesem Moment«, begann der Bestatter, »ist, dass alle Bevollmächtigten hier vor Ort sind oder vertreten sind, wenn wir mit einer Testamentseröffnung beginnen sollen, und natürlich, dass das Konto von Josef nicht angerührt wird. Notwendige Rechnungen können vom Bestattungsinstitut bezahlt werden, wir können Ihnen damit helfen, wenn Sie die hierherbringen. Unterstützung für die Beerdigung kann man bei der Gemeinde beantragen. Normalerweise bekommt man ungefähr 20.000 Kronen dazu.«
»Wir wissen noch nicht einmal, ob er ermordet wurde«, flüsterte Sara. »Warum ist es so eilig? Ich bin noch nicht bereit und will nicht eine Menge Leute dabeihaben, wenn ich mich auf der Beerdigung verabschiede. Das geht nicht.«
»Vielleicht können wir dann die Details über den Sarg und die Erinnerungsfeier später besprechen und uns jetzt mit Ihrem Juristen treffen«, schlug Wilhelm vor und lächelte Sara mitleidig an. »Wir müssen da durch, und wir werden es zusammen regeln. Das, was Antonia geplant hat, ist nur ein Vorschlag.«
»In Ordnung, wir sprechen mit Ihrem Juristen.« Sara nickte dem Bestatter zu und fing dann Wilhelms Blick ein. »Ich muss das hier in meinem eigenen Tempo machen können.«
Ein paar Minuten später war der Bestatter durch eine etwa fünfzigjährige Juristin ausgetauscht worden. Sie lächelte ihnen mütterlich zu und klappte ihren Laptop auf. »Ich nehme an, dass Sie die nächsten Angehörigen bereits über den Todesfall informiert haben. Und Sie wissen auch, dass Sie keine der Behörden, wie zum Beispiel das Finanzamt oder dergleichen, kontaktieren müssen, nicht wahr? Das geschieht automatisch.«
»Das wissen wir«, erwiderte Antonia und lächelte wie eine fleißige Schülerin, die die richtige Antwort auf alle Fragen gibt.
»Der Nachlass besteht aus dem, was Josef besessen hat«, erklärte die Juristin und wandte sich an Sara. »Sie waren verheiratet. Wenn es keinen besonderen Ehevertrag gibt, beerben Sie Ihren Mann. Wie ich hörte, haben Sie eine gemeinsame Tochter, doch Sie sind die Haupterbin, und Ihre Tochter wird aus diesem Erbe erst nach Ihrem Tod etwas bekommen.« Die Juristin ließ den Blick über die Versammelten wandern. »Es sei denn, es gibt Kinder aus anderen Ehen oder Beziehungen, die nicht Ihre gemeinsamen sind. Diese Kinder würden direkt erben.«
»Was?« Sara fiel es schwer zu folgen. »Fragen Sie mich gerade, ob Josef außer Moa noch weitere Kinder hatte?« Sie starrte die Juristin an und versuchte zu begreifen. »Das weiß ich nicht. Wie sollte man sich so einer Sache je sicher sein?«
»Sara, reiß dich zusammen!« Wilhelm presste die Lippen zu einem harten Strich aufeinander und sah sie mit einem strengen Blick an. »Es gibt einen die Firma betreffenden Ehevertrag. Unser Vater hat uns das damals empfohlen, als wir Brüder die Firma von ihm übernommen haben. Das bedeutet, dass du, Sara, keinen Anteil an der Firma hast. Aber alles darüber hinaus gehört dir.« Er sah die Juristin wieder an, als würde er um Unterstützung für seine Behauptung bitten. »So ist das.«
»Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, brauche ich Unterlagen, um den Nachlass regeln zu können. Hier habe ich schon einmal die Papiere aufgelistet, die ich von Ihnen benötige.«
»Wie lange kann das mit dem Nachlass dauern?«, fragte Wilhelm, der nun wieder sichtlich nervös war. »Ich muss Geschäfte machen können, obwohl mein Bruder tot ist.«
»Es ist schwer zu sagen, wie lange es dauert, bis Sie grünes Licht bekommen, vor allem, solange die Todesursache nicht feststeht. Wenn Sie noch ein wenig Zeit haben, dann können wir die Punkte durchgehen, die für die Firma wichtig sind. Ansonsten können wir im Moment nicht viel mehr für Sie tun, doch müsste ich von Ihnen, Sara und Wilhelm, noch eben kurz die Ausweise sehen.«
Sara zeigte ihren Führerschein und wandte sich Antonia zu. »Kannst du mich nach Hause bringen? Ich kann nicht mehr.«
»Selbstverständlich, das sage ich ja die ganze Zeit. Du musst loslassen, Sara, und uns vertrauen.«
Wilhelm blieb im Bestattungsinstitut. Sara und Antonia brachen auf. Als sie vor dem Gebäude standen, kam eine schwarz gekleidete Frau mit eiligen Schritten auf sie zu. Sie war schlank, an der Grenze zu mager, das dünne blonde Haar flatterte im Wind vor ihrem bleichen Gesicht. Sara erkannte sie. Es war Ulla Haugren, die Frau, die sich um Josef gekümmert hatte, nachdem seine Mutter gestorben war.
»Hallo, Sara, meine Liebe«, sagte sie mit unerwartet tiefer Stimme.
»Hallo.« Sara war ein wenig überrascht über den familiären Ton, sie selbst kannte Ulla nicht, aber Josef hatte großes Vertrauen in sie gehabt. Wusste sie, was geschehen war?
Noch ehe sie irgendetwas sagen konnte, reichte Ulla ihr einen Umschlag, den Sara verwundert entgegennahm.
»Das hier ist ein Brief an Sie von Josef.«
Sara begann mit einem Mal zu beben. Die Hände zitterten. »Wie kommen Sie daran?«
»Ihr Mann hat mich am Samstagnachmittag besucht. Er hat gesagt, wenn ihm etwas zustoßen würde, sollte ich Ihnen diesen Brief geben. Das war kurz bevor Sie Gäste bekamen.«
Was die Frau sagte, klang völlig unwahrscheinlich. Und dass sie plötzlich hier und jetzt auftauchte. Die Jahre als Polizistin hatten Sara wachsam gemacht. »Woher wussten Sie, dass ich hier sein würde?«
»Ich arbeite mit dem Bestattungsinstitut Abend zusammen, das Sie eben gerade besucht haben. Dort empfiehlt man mich.« Sie reichte ihr eine Visitenkarte. Ulla Haugren, Trauertherapeutin stand darauf. »Ich weiß, dass Sie es jetzt sehr schwer haben, Sara. Falls Sie jemanden brauchen, mit dem Sie reden können, wissen Sie, wo ich bin.« Ulla blieb bei ihnen stehen und lächelte ihr sanftes Lächeln.
»Willst du den Brief nicht öffnen?«, fragte Antonia.
»Nein, nicht jetzt.« Sara steckte das Kuvert in die Jackentasche. »Der ist für mich.«