Als Sara gegen acht Uhr am Donnerstagmorgen von Kristoffer Bark geweckt wurde, fühlte sie sich, als sei sie eben erst eingeschlafen. Trotzdem hatte sie geträumt. Josef war so gegenwärtig und liebevoll gewesen. Sie hatte in seiner Wärme bleiben und seinen nackten Körper an ihrem spüren wollen. Aber die durchdringenden Klingeltöne des Handys hatten sie in die Wirklichkeit und die Gewissheit, dass er tot war, zurückgeholt. Nach dem Gespräch mit Bark wusste Sara kaum mehr, worauf sie überhaupt geantwortet hatte. Aus Moas Zimmer hörte sie die laute Stimme ihrer Tochter, die mit Lisa über Kleidung stritt, obwohl sie sich gestern Abend schon auf Kleider geeinigt und sie rausgelegt hatten. In den letzten Tagen war Moa über alles in Streit geraten. Ihr Verhalten war wie ein Protest dagegen, dass ihr Papa verschwunden war, und ein Test, um herauszufinden, ob der Rest der Welt noch da war, dachte Sara. Lisa behielt die Ruhe. Pädagogisch mit Konflikten umzugehen, war eine Eigenschaft, die zum Polizeijob gehörte. Ehe Moa und Lisa die Wohnung Richtung Tagesstätte verließen, schauten sie kurz herein, um Auf Wiedersehen zu sagen, der Streit wie weggeblasen. Anstelle des viel zu dünnen Prinzessinnenkleids hatte ihre Tochter die Kleider an, die sie rausgelegt hatten. Der Kompromiss war eine riesengroße Rosette im Haar, vier Perlenketten und vier Armbänder.
Die Stille, nachdem die beiden gegangen waren, fühlte sich drückend und schwer an. Sara griff nach dem Brief, der sie den größten Teil der Nacht wach gehalten hatte. Josefs eckige Handschrift mit den offenen Buchstaben, wo ein a aussah wie ein u und ein g wie ein y. Wieder und wieder hatte Sara den Brief gelesen, um seine Bedeutung zu begreifen. Nun las sie ihn noch einmal.
Meine geliebte Sara.
Wie gern hätte ich doch unser gemeinsames Leben fortgesetzt. Du warst die Sonne in meinem Dasein und der Sinn für alles, und ich hoffe, dass du daran niemals wirst zweifeln müssen. Ich habe dich geliebt, Sara. Ich habe dich mehr geliebt, als ich in dem Kampf um die Bewältigung des Alltags zeigen konnte.
Wenn du diesen Brief in deiner Hand hältst, ist das Schlimmste geschehen, und es gibt mich nicht länger in deinem Leben. Deshalb muss ich dir sagen, wie es um dich steht. Jemand will dir schaden. Jemand in deiner Nähe, der dich gut kennt. Ich habe dich mit der Wahrheit verschonen, dich vor dem, der uns Böses will, schützen wollen. Deshalb habe ich dir nie das ganze Bild gezeigt, und deshalb habe ich versucht, die Drohungen gegen uns herunterzuspielen. Nun kann ich das nicht länger tun. Ich weiß nicht, wer es ist, sondern nur, dass die Bosheit dieser Person grenzenlos ist. Sara, du kannst niemandem vertrauen.
Du wirst Zeichen dafür finden, dass ich untreu gewesen sei, aber ich versichere dir, das ist nicht die Wahrheit. Ich habe dich niemals betrogen. Einen Keil zwischen uns zu treiben, gehörte zu den Bemühungen, uns fertigzumachen. Allerdings habe ich andere Verfehlungen begangen. Aber nichts, wovon ich glaube, dass es dich beeinträchtigen wird. Ich hoffe, dass mein Tod die Situation lösen wird und dass du nun in Ruhe gelassen wirst. Den Brief in deiner Hand hast du von Ulla Haugren bekommen. Ich habe an den meisten in unserer Umgebung gezweifelt, doch niemals an ihr. Wenn du Unterstützung brauchst, dann ist sie es, an die du dich wenden kannst.
Verzeih mir, Sara, wenn das, was unserer Familie geschehen ist, eine Folge meiner schlechten Entscheidungen war. Du hast alles Glück verdient. Umarme Moa von mir. Halte die Erinnerung an mich für sie lebendig. Erzähle ihr von den schönen Stunden. Zeige ihr Fotos. Wenn es von dem Ort, an dem ich mich befinde, möglich sein wird, dann wird meine Liebe euch immer begleiten. Ihr seid das Kostbarste, was ich habe.
Josef
Sara faltete den Brief zusammen, steckte ihn wieder ins Kuvert, stand auf und versteckte ihn ganz unten in ihrer Wäscheschublade. Die Wohnung war durchsucht worden, was Sara dasselbe Gefühl des Ausgeliefertseins vermittelte, als hätte es einen Einbruch gegeben. Auch wenn die Techniker ihre Arbeit auf respektvolle Weise getan und alles wieder ordentlich hingelegt hatten, waren sie doch in ihre Privatsphäre eingedrungen, mussten die Schmutzwäsche durchwühlen, den Badezimmerschrank und die Schublade mit Wäsche durchsuchen. Was hatten sie gesehen? Was hatten sie mitgenommen? Im Dienst war sie oft dabei gewesen, wenn die Wohnungen anderer Menschen durchsucht wurden. Es war eine neue und sehr unangenehme Erfahrung, dem selbst ausgesetzt zu sein.
Sara begann, Josefs Kleider systematisch zu durchsuchen, leerte die Taschen von Büroklammern und Notizzetteln, Parkscheinen und einem verlorenen Knopf. Am liebsten hätte sie laut herausgeschrien. Der Brief bestätigte, wovon sie und niemand sonst überzeugt gewesen war: Josef war ermordet worden. Er hatte das schon gewusst, noch ehe es passiert war.
Sie würde es der Polizei und allen anderen erzählen, doch noch war sie nicht bereit, den Brief aus der Hand zu geben. Es fühlte sich an, als wären Josefs Worte das Einzige, was ihr noch von ihm blieb. Und auch wenn der Inhalt ihr Angst machte und schlimmer war, als sie es sich hätte vorstellen können, so waren die Sätze doch mit einer Zärtlichkeit formuliert, die sich wie echte Liebkosungen anfühlte. Einer Zärtlichkeit, die sie seit ihren ersten Jahren als frisch Verliebte nicht bei ihm bemerkt hatte. Sie hatte, ehe sie den Brief las, befürchtet, dass er untreu gewesen sein könnte. In den letzten Jahren hatte sie sich so unfassbar erschöpft und unattraktiv gefühlt und es nur selten geschafft, seine Lust zu befriedigen. Je mehr ihr gemeinsames Leben verebbte, desto mehr hatte sie quasi auf einen Betrug gewartet. Die Unterhose, die sie in seiner Jacketttasche gefunden hatte, wurde so zu einer Quittung dieses Verdachts. Aber der Brief hatte alles wieder gedreht. Stimmte es, was Josef schrieb? Sie wollte nur zu gern glauben, dass jemand ihm einen angeblichen Beweis seiner Untreue untergeschoben hatte, aber sollte sie wagen, darauf zu vertrauen?
Sara duschte und zog sich an. Ihre Gedanken fuhren Karussell und quälten sie. Die Zeit lief ihr davon, und plötzlich war es elf Uhr, und an der Tür klingelte es. Sie öffnete, und da stand wie verabredet Kristoffer Bark. Er sah müde aus, die Haare waren zerzaust, und der Dreitagebart war dichter geworden. Sie gaben sich die Hand. Sie sah sein freundliches Gesicht mit den traurigen, leicht dreieckigen Augen, die ihm etwas Löwenähnliches gaben.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie.
»Nur, wenn du auch einen trinken willst.« Er lächelte, und ihr fiel wieder die warme und leise Stimme auf. Die hatte ihr schon gefallen, als sie sich das erste Mal im Krankenhaus sahen. Eine ruhige Stimme, die Geborgenheit ausstrahlte. Sara, du kannst niemandem vertrauen . Aber Kristoffer Bark würde sie doch wohl vertrauen dürfen?
»Dann setzen wir uns an den Küchentisch«, sagte sie und schaltete die Kaffeemaschine ein, ehe sie Brot, Butter und ein Stück Käse herausholte. »Das ist alles, was das Haus bieten kann«, sagte sie verlegen.
»Das ist ganz wunderbar. Ich habe eine erste Frage: Wo ist Josefs Auto? Wenn ich die Sache richtig verstanden habe, dann habt ihr keinen Privatwagen, aber er hatte einen von der Firma, oder? Die Techniker müssten den durchgehen. Den Mietwagen, mit dem ihr nach Nora gefahren seid, haben wir schon geholt.«
»Das Auto? Das ist in der Werkstatt in Lillån. Ich kann die Nummer aufschreiben. Irgendetwas stimmt mit den Bremsen nicht oder mit den Reifen. Ich erinnere mich nicht.«
Während Sara ihnen beiden Kaffee einschenkte, erzählte sie von dem Brief. Sosehr sie ihn behalten wollte, wusste sie doch, dass es unmöglich war. Er war zu wichtig für die Ermittlung. »Ich werde ihn holen.«
Auf dem Weg zum Schlafzimmer versuchte sie sich daran zu erinnern, was Josef über das Auto gesagt hatte. Was war noch mit den Bremsen gewesen? Nein, ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. Als sie wieder zurückkam, hatte Kristoffer Bark Gummihandschuhe angezogen. Vorsichtig nahm er den Brief zwischen Daumen und Zeigefinger, und Sara verfluchte ihre Dummheit. Es könnte ja noch weitere Fingerabdrücke auf dem Papier geben. Sie war Polizistin, aber dieser Teil des Gehirns funktionierte momentan nicht sonderlich gut.
Kristoffer las schweigend. Sie sah, wie seine Augen feucht wurden. Er räusperte sich und runzelte die Stirn. »Dieser Brief hier. Wie hast du den bekommen?«
Als Sara von Ulla Haugren, die ihr den Brief gegeben hatte, erzählte, wirkte Kristoffer noch nachdenklicher.
Dann fiel ihm etwas ein, und sein Blick wurde intensiver. »Ich glaube, ich habe sie einmal auf dem Friedhof in Längbro getroffen. Eine schmale blonde Frau um die fünfzig? Schwarz gekleidet?« Er suchte in seiner Jackentasche, holte die Visitenkarte heraus und zeigte sie ihr.
»Ja, genau. Ulla wohnt in Nora. Sie stammt genau wie mein Mann aus Vallsta, daher kannten sie sich. Sie war in seiner Jugend wichtig für ihn.«
»Ich werde natürlich auch Ulla Haugren befragen«, sagte Bark, immer noch über Josefs Brief gebeugt. »Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um herauszufinden, was deinem Mann zugestoßen ist und wer für das hier verantwortlich ist.«
»Warum hast du gefragt, ob Josef Grippe gehabt hätte und unruhig und rastlos gewesen sei, oder wie du es am Telefon ausgedrückt hast?«
»Dazu kommen wir gleich. Ist es in Ordnung, wenn ich das Tonband einschalte?«
»Absolut.« Sara antwortete routiniert auf Barks allgemeine Fragen.
Er machte eine kleine Kunstpause und sah sie an. »Nahm Josef irgendwelche Drogen?«
Sara war aufrichtig erstaunt. »Nein, nichts außer der Flasche Wein, die wir uns schon mal am Wochenende teilten.«
»Keine anderen Drogen, bist du da ganz sicher? Die Symptome von Entzug können einer Grippe ähneln oder einer großen Unruhe.«
»Wir haben bereits darüber gesprochen, und die Antwort ist Nein.« Bark musste sie nicht belehren. Sara war ein wenig verärgert über seine wiederholte Frage, sie hatte schon mit Drogenabhängigen gearbeitet, bevor sie bei der Polizei begonnen hatte. »Natürlich war er nervös, aber aus anderen Gründen. Er machte sich Sorgen um die Zusammenarbeit mit Dorteus Bygg und …«
Sara hielt inne. Irgendetwas erfasste sie nicht richtig.
»Was ist denn? Sag, was du denkst!«
Kristoffer sah sie ernst an und sagte:
»Josef ist an einer Überdosis Fentanyl gestorben.«
»Das ist unmöglich, das kann nicht wahr sein!«
»Es tut mir leid. Doch es ist so.« Kristoffer berichtete ihr, was Ali gesagt hatte, und erzählte auch von den Pflastern.
»Natürlich hat er sich die nicht selbst aufgeklebt! Josef war nicht sonderlich beweglich, und er war allergisch gegen Heftpflaster, er hat niemals Pflaster benutzt. Außerdem steht in dem Brief klar und deutlich, dass ihn jemand ermordet hat. Glaubst du, dass es einer von denen gewesen ist, die bei dem Abendessen in Nora dabei waren?«
»Was glaubst du selbst, Sara?«
»Ich weiß nicht. Das mit den Schikanen geht schon sehr lange. Und ich weiß auch nicht, seit wann sich mein Mann und Per-Gunnar und Carola kannten.«
»Weißt du denn, welche Vereinbarungen dein Mann mit Dorteus Bygg hatte?«
»Nein, aber das müsste Wilhelm beantworten können. Alle Unterlagen befinden sich im Büro. Ich schaffe das hier nicht, ich bin außerstande, mir zu überlegen, wer schuldig sein könnte. Das, was Josef schreibt, dass ich niemandem vertrauen kann, das macht mir Angst. Ich fühle mich einsam, und ich fürchte mich.« Sara sah Bark eindringlich an und versuchte, ihn einzuschätzen. »Kannst du das Tonband abschalten?«
»Ja, natürlich.« Er schaltete es ab. »Was möchtest du sagen?«
»Ich möchte einen Gedanken ausprobieren, für den ich mich schäme.«
»Ich höre.« Er war spontan im Begriff, seine Hand auf ihre zu legen, tat es aber nicht.
»Meine Mutter hat Josef verabscheut. Ich weiß nicht warum, aber es war offensichtlich. Sie wollte ihn niemals beim Namen nennen, sondern sagte immer nur er . Manchmal hatte ich das Gefühl, als würden sie hinter meinem Rücken einen Streit ausfechten. Sie sprachen schlecht übereinander und mieden die Gesellschaft des anderen. Mama kam nur hierher zu Besuch, wenn Josef nicht zu Hause war. Nicht, dass ich denken würde, sie hätte ihn ermordet, aber jetzt versucht sie andauernd, mir einzureden, welche Vorteile es hat, dass er tot ist.«
»Um dich zu trösten.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Du kennst meine Mutter nicht.«
Bark räusperte sich und wechselte das Thema. »Kanntest du Emelie Kartman, die 2011 tot im Baggersee von Lanna gefunden wurde?«
Der Name versetzte Sara einen Schlag in die Magengrube, auch wenn sie die Verbindung nicht gleich begriff.
»Nein, nicht persönlich. Das war kurz bevor ich meinen Anwärterdienst bei der Polizei Örebro angetreten habe. Die Kollegen haben von nichts anderem geredet. Warum fragst du?«
»Glaubst du, dass Josef sie kannte?«
Sara dachte nach. »Ja, ich erinnere mich, dass ihr Tod ihm sehr zugesetzt hat. Er wusste, wer sie war. Sie kamen aus demselben Dorf in Hälsingland.«