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Josefs Beerdigung fand am Nachmittag des 5. Oktober in der Längbro kyrka statt. In der Luft hing eine frostige Kälte, und der Himmel war blau. Ein Schwarm Gänse zog in einer perfekten V-Formation über die Kiefernwipfel des Karlslundwalds gen Süden. Auf dem Friedhof hinter den hohen Tannenhecken war es verschwiegen und still, als die Trauergemeinde auf das rote Ziegelsteingebäude der Kirche zuging. Vorn Gunilla mit einer widerstrebenden Moa an der Hand, dann Lisa mit dem Arm um Sara und zum Schluss Wilhelm und Antonia. Alle waren schwarz gekleidet.

Moa hatte eigentlich ihr Prinzessinnenkleid aus rosafarbenem Tüll anziehen wollen, und Sara hatte zu ihrer Mutter gesagt, man würde nicht mit den Kleidern trauern, doch in diesem Punkt blieb Gunilla entschieden. Was sollen die Leute sagen . Das war ihre Standardantwort. In den letzten Wochen war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter auf eine harte Probe gestellt worden. Da Josef nicht mehr da war und das Vorpreschen der Schwiegermutter aufhielt, hatte Gunilla eine gemeinsame Aktivität nach der anderen vorgeschlagen, zum Beispiel Großreinemachen und Fensterputzen. Oder ein neues Auto zu kaufen, oder eine billige Spontanreise zu buchen, sodass sie wirklich mal Zeit hätten, sich umeinander zu kümmern. Aber Sara wollte nicht bedrängt werden. Die Wochen nach Josefs Tod hatte sie wie im Nebel verbracht. Und trotzdem fühlte es sich an, als würde ihr Kopf von allen Eindrücken und Gedanken platzen. Dank Gunillas Hilfe konnte Moa zu Hause bleiben, anstatt in die Tagesstätte zu gehen, und es war unschätzbar für Sara gewesen, sie unter Aufsicht zu haben. Doch war sie mehr als einmal kurz davor gewesen, ihre Mutter zu bitten, sie in Frieden zu lassen. Ihre Fürsorge war immer ärgerlicher geworden. Sie hatte Süßigkeiten über Moa ausgeschüttet und ihr Kekse, Kuchen und süßen Saft einverleibt, obwohl sie wusste, dass Sara das nicht wollte. Sie hatte darüber geschimpft, dass Sara die Herbstgardinen nicht aufgehängt hatte, die sie ihr geschenkt hatte. Aber wie sollte sie es denn schaffen, Gardinen zu wechseln, wenn sie kaum ihre persönliche Körperpflege aufrechterhalten konnte? Die Kritik war mehr als genug, aber das Schlimmste war, dass ihre Mutter ihnen nicht zugestand, um Josef zu trauern.

Er war nicht gut für dich, Sara, das musst du doch erkannt haben. Er hatte andere, das ist ja wohl klar. Für den einen kannst du dir tausend nehmen. Komm, jetzt lach doch mal. Das Leben geht weiter, wenn man nur eine positive Einstellung hat und jeden neuen Tag als Herausforderung mit neuen Möglichkeiten sieht. Du musst dich zusammenreißen, Sara. Denk an deine Haltung. Denk an deine Kleidung, und achte darauf, alles ordentlich zu haben. Was sollen denn die Leute sagen?

Es gab Momente, in denen Sara ihre Mutter tausend Meilen wegwünschte, aber sie war abhängig von ihrer Unterstützung. Sara konnte es sich nicht leisten, Hilfe von irgendjemandem abzulehnen. Lisa, die zu Sara gezogen war, um ihr mit Moa und im Alltag zu helfen, hatte sich überflüssig gefühlt, als Gunilla andauernd auftauchte. Sara hatte sich vorgenommen, wenn nur die Beerdigung mal vorbei war, sich endlich durchzusetzen. Es war nicht vernünftig, dass ihre Mutter die ganze Verantwortung für Moa übernahm, wenn sie sich nicht einig darüber waren, wie das aussehen sollte. Doch das war kein Gespräch, auf das sie sich freute, und sie verspürte große Sorge vor der Zukunft. Was sollte sie nur tun, wenn Lisa es leid wurde, ihnen zu helfen? Würde sie dann gezwungen sein, Moa zu ihrer Mutter zu geben oder zu Wilhelm oder Antonia? Das letzte Wochenende, als Lisa mit Dreamcatcher auf einem Dressurwettkampf war, hatte Moa bei den beiden verbracht. Als sie Moa zurückbrachten, hatte Antonia das Kind gegen seinen Willen auf dem Arm getragen. Sara hatte es schon gespürt, dass dort nicht Moas Bedürfnisse wichtig waren, sondern die von Antonia, und spürte wie sie wütend darüber wurde.

Als sie in die kühle und dunkle Kirche gekommen waren und sich in den Bänken niedergelassen hatten, begann die Glocke zu läuten. Ihr Klang hallte zwischen den kahlen Wänden des Kirchenraums und mahnte zu Ernst und Würde. Ungefähr dreißig Personen waren versammelt, um Abschied von Josef Bredow zu nehmen. Wilhelm hatte auf Sara gehört und Antonias Gästeliste auf ein Minimum zusammengestrichen. Dafür war Sara dankbar. Sie hatte die weitere Planung der Begräbniszeremonie nicht mehr ausgehalten und die Entscheidungen Wilhelm überlassen.

Sara warf einen Blick über die Schulter und entdeckte ganz hinten in der Kirche Ulla Haugren. Mit ihr würde sie gern sprechen. Warum hatte sich Josef ausgerechnet ihr anvertraut? Warum hat er den Brief nicht seinem Bruder überlassen? Oder Carola, dachte Sara und schnaubte innerlich. Wilhelm hatte angedeutet, Josef habe alle seine Geheimnisse mit ihr geteilt. Worüber hatten sie gesprochen? Hatte er erzählt, wie es in ihrer Ehe lief? Dass sie nie die Kraft hatte, um Sex zu haben? Vielleicht war das noch ein schlimmerer Betrug, so verraten zu werden, als durch einen körperlichen Seitensprung. Vielleicht auch nicht. Sara verspürte dennoch einen Stich der Eifersucht.

Die Pfarrerin war eine junge Frau mit dunklen Haaren und klarer Singstimme. Die Psalmlieder rankten sich umeinander, und ihre Rede war schön und spiegelte die helle Seite dessen, was Sara kannte, wider – eine große Trauer, aber auch Dankbarkeit für all das Schöne, das sie und Josef gemeinsam gehabt hatten. Die Tränen flossen. Als es an der Zeit war, zum Sarg vorzugehen und Abschied zu nehmen, zitterten Saras Beine völlig unkontrolliert. Gunilla stand als Erste auf und marschierte mit Moa an der Hand nach vorne. Es fühlte sich falsch an, die Mutter vor dem Sarg nicken zu sehen, sie hatte Josef ja nicht leiden können. Mithilfe von Wilhelm stand Sara auf. Ihr war schwindlig, und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie hatte das Gefühl, in Ohnmacht zu fallen, die Orgelmusik kam und ging in Wellen, und schwarze Flecken tanzten vor ihrem Gesicht. Der Duft der weißen Freesien schlug ihr süß und schwer entgegen, und das Atmen wurde schwer. Sie versuchte die Gedanken an Josefs Leiche da in dem Sarg, die verbrannt und zu Asche werden würde, beiseitezuschieben. Was hätte er gewollt? Das wusste sie nicht. Was, wenn er sich eine Erdbestattung gewünscht hätte? Das Bild von Josef, der in die Erde gesenkt wurde, war noch schlimmer. Eine Leiche im Zustand der Verwesung. Als Polizistin hatte sie so viele Obduktionen mitgemacht, dass sie allzu gut um die Vergänglichkeit und den Verfall des Körpers wusste. Sara hielt den Atem an, als sie ihre Rose auf den Sarg legte, nickte und wankte zurück zur Bank, die ganze Zeit mit Wilhelms festem Arm hinter dem Rücken und seine Hand in ihrer.

Ganz hinten im Raum entdeckte sie Kristoffer Bark und eine Frau mit langen grauen Haaren, die Ingrid hieß. Sie gehörte zu den Zivilangestellten bei der Polizei. Die beiden waren unter den Letzten, die nach vorn gingen und Josef ihre Ehre erwiesen. Auch das fühlte sich seltsam an. Jetzt spür doch nicht allem so verdammt viel nach. Das hätte Josef gesagt. Aber so einfach war es nicht. Sie hob den Blick und schaute über die Versammelten. Das Ehepaar Dorteus hatte auch auf Antonias Liste gestanden, doch sie waren nicht hier. Sara hatte von Lisa gehört, dass sie wegen Betrugsverdachts in Haft waren. Vorige Woche hatte ein Ermittler vom Dezernat für Wirtschaftsverbrechen Sara verhört. Sie hatte ihnen nicht weiterhelfen können, denn sie wusste nichts über Josefs Geschäfte. Wilhelm hingegen wusste umso mehr. Auch er war zu mehreren Vernehmungen in der Polizeizentrale gewesen.

Von der Empore spielte eine Trompete Autumn leaves, und es war Zeit, die Kirche zu verlassen.

Nach der Zeremonie gab es im Gemeindehaus Kaffee und Smörgås-Torte. Sara bekam kein Stück hinunter und versteckte das, was sie genommen hatte, unter ihrer Serviette. Eine Rede folgte auf die nächste. Wilhelm erzählte auf rührende Art, wie sein großer Bruder sich um ihn gekümmert hatte, als sie Kinder waren und die Eltern nicht für sie da waren. Josef hatte sogar im Laden Lebensmittel geklaut und Essen aus der Schulmensa geschmuggelt. Er hatte ihre Kleider gewaschen, Geschirr gespült, wenn keine Teller mehr da waren, und Wilhelm bei den Hausaufgaben geholfen. Josef war es gewesen, der ihn getröstet hatte, wenn mit der Dunkelheit die Albträume kamen und die Erwachsenenwelt sie im Stich ließ. Die Rolle, in der Josef sich am wohlsten gefühlt hatte, war die des Helfenden, des Beschützers und Helden gewesen. Die Rede war gefühlvoll, und obwohl sie dieselbe Person und dieselben Eigenschaften berührte, war sie völlig verschieden von dem, was Wilhelm an dem Abend bei Sara über seinen Bruder gesagt hatte. Als handelte es sich um zwei unterschiedliche Personen, dachte sie. Der helfende Josef und der gefährlich manipulative. Konnten beide Beschreibungen Teile derselben Wahrheit sein? Wilhelm beendete die Rede mit einem Prost, obwohl sie nur Kaffee in ihren Bechern hatten, und erhielt für seinen Bruch der Etikette einen missbilligenden Blick von Gunilla. Sara war die Einzige, die offen weinte, und alle sahen sie an, als würde sie sich unpassend verhalten. Aber wann sollte man schon weinen, wenn nicht auf einer Beerdigung?

Moa saß auf Lisas Schoß, und es schien ihr da gut zu gehen, sodass Sara, als ihr die Blicke zu viel wurden, zur Toilette verschwand und dort ihr vom Weinen geschwollenes Gesicht wusch. Als sie wieder herauskam, stand Ulla da. Ihr Kleid war aus ungefärbtem Leinen, und Sara konnte nicht umhin zu denken, dass es an ein Leichentuch erinnerte. Sofort schämte sie sich für die Idee. Ulla schenkte ihr ein dünnes Lächeln.

»Bitte schön«, sagte Sara mit einem Nicken zur Damentoilette.

»Ich will gar nicht hin.« Ulla kam auf sie zu und legte ihr in einer umarmenden Geste die Hände auf die Schultern. »Ich wollte nur hören, wie es dir geht. Können wir einen kleinen Spaziergang machen?«

Als die Gäste gegangen waren und Sara sich bei der Pfarrerin bedankt hatte, traf sie Ulla, die auf dem Parkplatz beim Bovieran wartete, einem Altenheim, das für sein gigantisches Gewächshaus bekannt war, wo die Bewohner auch im Winter zwischen tropischen Gewächsen gemütlich zusammensitzen und Boule spielen konnten.

»Ein bisschen unerfreulich, ein Altersheim direkt neben den Friedhof zu legen«, sagte Ulla. »In dem Alter muss das eine höchst düstere Aussicht sein.«

»Oder praktisch mit so kurzer Entfernung.«

»Du meinst, wenn man einen Angehörigen begraben muss, dann hat man es näher zum Friedhof?«

Sara wechselte das Thema und schlug vor, dass sie über die Straße gehen und ein Stück der beleuchteten Langlaufspur folgen sollten. Sie überquerten den Gäddestavägen und gingen dann entlang der Spur, die zunächst einen Hügel hinaufführte und dann steil wieder herunter zum Start- und Zielbereich. Zwischen den hohen Kiefern und dem dichten Unterholz konnte man Wochenendhäuser, klein wie Spielzeughäuschen, erkennen. Sara merkte, dass ihre Kondition viel schlechter war als die der älteren Frau neben ihr. Das war erschreckend, wenn man bedachte, dass sie vor knapp drei Jahren noch den Frauenmarathon gelaufen war.

»Warum hat Josef dir den Brief anvertraut?«, fragte sie.

Ulla blieb stehen und ließ sie Atem schöpfen. »Für die Jungs war ich wie eine zusätzliche Mutter, als sie klein waren. Das hat er sicherlich erzählt. Josef wollte immer, dass wir Kontakt halten. Er hat mich ein paarmal im Monat angerufen und geredet.«

»Josef hat dir vertraut«, fuhr Sara gedehnt fort. »Als er dir den Brief gegeben hat, hat er da etwas gesagt?«

»Er kam nur ganz kurz vorbei und hat ihn abgegeben. Ihr habt am Abend ja Gäste erwartet. Es hat mich erstaunt, ihn zu sehen, da er und deine Mutter ja nicht so gut miteinander klarkamen.«

»Das war eine Krisensituation.« Sara konnte es nicht besser erklären, sie war jetzt nach der Beerdigung gefühlsmäßig am Ende und musste das Wichtigste einfach ohne Umschweife ansprechen. »Warum hat er einen Brief geschrieben? Warum hat er nicht stattdessen direkt mit mir gesprochen? Er wusste, dass er sterben würde, warum hat er nichts gesagt?«

Ulla legte den Arm um ihre Taille. »Was stand denn in dem Brief, ist das etwas, das du mir erzählen kannst?«

»Nicht jetzt. Ich muss nachdenken. Alles ist so verwirrend.«

»Ich kann verstehen, dass du es schwer hast und dass es viel gibt, was du verarbeiten musst. Ich glaube, ich kann dir helfen weiterzukommen und nicht in der Trauer stecken zu bleiben.«

»Wie meinst du das? Josef ist ermordet worden. Wir wissen nicht, wer es getan hat und warum. Ich kann nichts verarbeiten, ehe ich nicht weiß, was passiert ist.«

»Ich werde einen Kurs in Trauerarbeit ihn Hälsingland halten. Ich habe viele Jahre Erfahrung darin und sehr positive Rückmeldungen von früheren Teilnehmern. Gönn dir das, Sara.«

Ein trockenes Lachen entfuhr ihr. »Wie sollte das gehen? Ich bin ausgebrannt, ich habe kein Geld und eine Tochter, die ich nicht allein lassen kann.«

»Vielleicht hast du ja eine Freundin, die sich in der Zeit um Moa kümmern kann. Oder Gunilla. Ich glaube, du würdest mehr schaffen, wenn du die schwere Last der Schuld ablegen würdest, die du mit dir herumschleppst.«

Sara sah auf und begegnete Ullas Blick, der warm und freundlich war. Etwas von dem, was sie sagte, hatte sie plötzlich angesprochen. Vielleicht das mit der Last.

»Auch wenn ich will, kann ich Moa doch nicht mehrere Tage alleine lassen. Sie braucht Geborgenheit.«

»Vielleicht könnte ja deine Kollegin, mit der du befreundet bist, mitkommen. Möglicherweise würde sie ja auch selbst in der Gruppe mitmachen wollen. Ich weiß, dass sie kürzlich ihre Mutter verloren hat. Du könntest Lisa und Moa und noch jemand anders mitbringen, der sich um das Mädchen kümmert. Wir werden im Hotel Orbaden wohnen, einem charmanten Hof aus den 1920er-Jahren mit Spa und einer großartigen Aussicht über den Orsjön und die Blauen Berge. Frühstück, Mittagessen und ein Drei-Gänge-Menü am Abend sind inbegriffen.«

Sara schüttelte resigniert den Kopf. »Das kann ich mir nicht leisten.«

»Ich lade dich ein. Um Josefs willen bekommst du es gratis. Ich habe Wilhelm auch dazu eingeladen. Ich glaube, das hier ist genau das, was ihr beiden nach all dem, was passiert ist, braucht.«

Sara war sprachlos. Es fühlte sich an, als hätte die Hexe in Schneewittchen ihr eben einen Apfel gereicht, dem sie nicht widerstehen konnte.