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Nach knapp sieben Stunden Zugreise von Örebro, die laut Fahrschein eigentlich nur fünf hätte dauern sollen, erreichten sie Vallsta. Die Verspätung lag an einer Signalstörung, was alles von Kollision mit einem Elch, Selbstmordversuch oder lediglich schlechtem Zustand der Schienen bedeuten konnte. Während der Reise hatten Sara und Lisa das Wort Signalstörung als eine neue Beschimpfung in die schwedische Sprache eingeführt: »Du Idiot, hast du eine Signalstörung, oder was?«

Moa, die auf Lisas Schoß saß, hatte wie verrückt gelacht, obwohl sie den Witz eigentlich gar nicht richtig verstand.

Als sie ausstiegen und den Bahnsteig verließen, war die Luft klar und frisch. Der Sauerstoff war dringend nötig, denn im Waggon war es stickig gewesen. Moa hatte Pixi-Bücher angeschaut, die sie zu Hause bei ihrer Großmutter gefunden und mit auf die Reise genommen hatte. Sara und Lisa hatten derweil versucht, ein Gespräch über neutrale, ungefährliche Themen in Gang zu halten. Die beiden hatten bewusst vermieden, die Schrift auf dem Fenster zu erwähnen, doch war keine Minute vergangen, ohne dass Sara daran gedacht hätte. Das Drohbild gegen sie existierte immer noch. Sowie sie im Hotel eingecheckt hätten, würde sie Bark anrufen und Anzeige erstatten.

Auf jeden Fall war es schön, Örebro und damit auch den Verrückten hinter sich gelassen zu haben. Der kleine Ort, durch den sie nun spazierten, ließ es Sara leichter ums Herz werden. Vallsta erinnerte an die Modellhäuschen einer Märklin-Bahn. Der Einkaufsladen hieß Tempo, was altmodisch klang, und war, wie sich herausstellte, ein Laden, in dem man so ziemlich alles bekommen konnte. Sara kaufte eine Zahnbürste, die sie vergessen hatte, und Haargummis für Moa. Auf der anderen Seite der Straße fand in einer roten Scheune ein Flohmarkt statt, doch auch wenn Moa quengelte, hatten sie weder Zeit noch Kraft, dorthin zu gehen. Ulla hatte eine Karte geschickt, und es schien nicht schwer, den Herrensitz Gästgivars zu finden, auf dem der Kurs stattfinden sollte. Lisa holte das Handy heraus, googelte Hälsingegård und las während des Spaziergangs laut vor.

»Gästgivars ist einer der sieben Höfe, die auf der Liste des UNESCO -Weltkulturerbes stehen. Das Einzigartige an den Hälsingegårdarna sind die großen Räume für Feste, die manchmal ein ganzes Stockwerk umfassen. Die Bauern, die hier durch Wald und Leinenproduktion reich geworden waren, zeigten auf diese Weise ihren Status. Die Bauten stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und sind großzügig mit Tapeten und Schablonenmalereien verziert.«

Durch einen Tunnel gingen sie unter der Bahn durch. »Und hier haben wir die Hälsingemalereien der Gegenwart«, kicherte Lisa und zeigte auf die Graffiti im Tunnel. Sie nahm Moa, die jetzt nicht länger laufen wollte, huckepack.

Sie gingen einen Weg, der sich durch die Felder schlängelte, und erblickten schon bald das rote Hauptgebäude und die Nebengebäude von Gästgivars. Antonia und Wilhelm waren mit dem Auto aus Örebro gekommen, und Gunilla war bereits vor Ort, weil sie zusammen mit Ulla aus Nora angereist war. Ihre Autos standen auf der Auffahrt vor dem Haus. Doch parkten dort auch noch eine Reihe anderer Fahrzeuge: Zu Saras Erstaunen entdeckte sie Kristoffer Barks tannengrünen Toyota.

»Was macht er denn hier?«, fragte sie mit einem Kopfnicken zu dem Auto hin.

Lisa flüsterte leise: »Kristoffer Bark hatte eine Tochter, die gestorben ist. Sie wurde ermordet. Wusstest du das nicht? Die Zeitungen haben im Frühjahr, nachdem die Leiche gefunden worden war, darüber berichtet. In den Fernsehnachrichten war das auch ganz oben. Aber falls du die nicht gesehen hast, müsste ich doch davon erzählt haben, oder?«

»Du hast gesagt, dass seine Tochter verschwunden ist, aber nicht, dass sie ermordet wurde. Wie schrecklich für ihn.« Sara hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht immer sonderlich freundlich zu ihrem Chef gewesen war. »Dann wird er also auch diesen Kurs besuchen?«

»Ja. Aber er wird sich wohl nicht in den Mittelpunkt drängen, er ist eher der schweigsame Typ.«

Der zuhört und beobachtet, dachte Sara. Dass er plötzlich in ausgerechnet diesem Kurs auftauchte, war kaum ein Zufall. Er war hier, um sie zu beobachten. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, machte diese Erkenntnis sie eher ruhig als wütend.

»Am meisten freue ich mich auf den Abend im Hotel«, sagte Lisa. Von hier war es nur ein kurzer Spaziergang nach Orbaden, wo sie wohnen würden. »Ein Glas Sekt im Schwimmbad mit Aussicht über den Orsjön ist doch auch nicht schlecht. Obwohl ich, was den Kurs angeht, ein bisschen angespannt bin. Zum Glück sind wir zu zweit und können zusammenhalten, wenn es zu seltsam wird.«

Auf der Türschwelle schlug ihnen der Duft von frisch gebackenem Brot entgegen. Ulla Haugren wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab und begrüßte sie herzlich. Sie trug ein schwarzes Kleid, und ihre Wangen waren vom Backen gerötet. Das blonde Haar hatte sie zu einem sehr kleinen Dutt hochgesteckt.

»Willkommen in Hälsingland. Hattet ihr eine gute Reise?«

»Signalstörung«, sagte Sara, und Moa lachte, als hätte sie jemand gekitzelt. Es war ein perlendes Kinderlachen, das sehr erleichternd wirkte, und Sara empfand große Dankbarkeit dafür, dass Moa trotz der Trauer um ihren Papa immer noch in manchen Augenblicken Spaß haben konnte.

Sie wurden in den oberen Stock geführt, wo ein langer Tisch gedeckt war und im offenen Kamin ein Feuer brannte. Ungefähr zehn Personen hatten sich bereits gesetzt. Antonia und Wilhelm winkten, und Moa wollte gerade zu ihnen rennen, als Gunilla sie trotz ihrer lautstarken Proteste auf ihren Schoß nahm. Auch Kristoffer Bark saß am Tisch. Er hob den Blick und nickte ihr zu, ehe er sich wieder seinem Teller zuwandte.

»Nehmt euch von der Linsensuppe«, forderte Ulla sie auf. »Es gibt auch Knäckebrot und Käsekuchen. Ich hoffe, es schmeckt euch.«

Sara setzte sich neben ihre Mutter und ihre Tochter an den Tisch. Lisa nahm direkt gegenüber Platz.

»Sie darf zu Anfang ein bisschen auf meinem Schoß sitzen, für den Fall, dass sie sich vor all den fremden Menschen fürchtet«, flüsterte Gunilla.

Sara hatte keine Kraft zu protestieren, obwohl sie es hätte tun sollen. Moa war kein schüchternes Kind, sondern neugierig und gesellig. Sie liebte es, neue Menschen kennenzulernen, und Gunilla schränkte sie ein, indem sie davon ausging, dass Moa sich fürchten müsse. Sara erkannte das Muster von den Vermutungen ihrer Mutter, die zu Wahrheiten überhöht wurden, aus ihrer Kindheit wieder.

Sara betrachtete die Kursteilnehmer, die alle ziemlich normal aussahen. Die Stimmung war gut. Wilhelm und Antonia diskutierten mit Kristoffer Bark, welchen Raubtieren man so weit oben im Land wie hier wohl begegnen könnte, und Ulla berichtete, dass sie schon Wölfe und Vielfraße, Luchse und sogar einen Bären gesehen hätte. Die vier großen Raubtierarten. Das sei ebenso beeindruckend wie erschreckend gewesen, denn Ulla sei überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen, und die Bärenmutter hätte zwei Junge dabeigehabt, sodass es richtig gefährlich hätte werden können. »Das hier ist tatsächlich die Gegend in Schweden mit den meisten Bären«, sagte sie laut und blickte in die Runde, um sich zu vergewissern, dass ihr auch alle zuhörten. »Die jungen Bären haben die Ohren hoch oben auf dem Kopf. Sie sind nicht so gefährlich. Aber sieht man einen Bären mit Ohren, die tief sitzen, dann ist das ein altes, erfahrenes Tier, das sicher schon mal Fleisch gegessen hat und auf den Geschmack gekommen ist.«

Nachdem sie gegessen und Kaffee getrunken hatten, wurde der Tisch an die Wand geschoben, und die Anwesenden versammelten sich mit ihren Stühlen in einem Halbkreis vor dem Kaminfeuer. Ulla ergriff das Wort: »Willkommen in Hälsingland, sage ich sowohl zu euch, die ihr meine Gäste für diesen Abend seid, wie auch zu euch, mit denen ich während der Kurstage Zeit verbringen werde.«

Die Gäste ließen ein Gemurmel als Antwort hören.

»Der Grund dafür, dass ich diese Kurse halte, ist, dass ich selbst Hilfe bekommen habe, um über meine größte Trauer hinwegzukommen, als ich mein Kind verlor. In unserer Kultur bekommt die Trauer weder Zeit noch Raum. Man wird als tüchtig angesehen, wenn man am Tag, nachdem die ganze Welt zusammengebrochen ist, wieder arbeiten geht. Viele nehmen Beruhigungstabletten, um auf der Beerdigung nicht zu weinen. Doch ich weiß aus Erfahrung, dass die Trauer Zeit und Raum braucht. Zu weinen hat seine Zeit, und zu trauern hat seine Zeit. Ich habe vor fast dreißig Jahren meinen Sohn bei einem Autounfall verloren. Da wäre ich am liebsten gestorben, aber eine neunzigjährige Frau, der ich auf dem Friedhof begegnete, ließ mich an ihren Erfahrungen teilhaben und zeigte mir den Weg zurück zu Leben und Sinn. Den Weg zur Freude findet man, indem man anderen hilft und mit seinen Gefühlen in Harmonie lebt. Mehr will ich heute Abend nicht sagen. Ihr werdet im Orbaden Spa & Resort wohnen, und wenn ich es richtig gesehen habe, findet ihr alle in den Autos, die hier sind, Platz. Wir sehen uns morgen nach dem Frühstück. Ich erwarte die Kursteilnehmer um neun Uhr an der Rezeption. Und vergesst nicht, dass Spaziergänge und Gespräche ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses sind.«

Sie gingen zu den Autos hinaus, und Gunilla hob Moa auf den Rücksitz von Ullas altem Saab.

Sara sagte zu ihr: »Wie denkst du dir das, Mama? Du hast ja keinen Kindersitz.«

»Ach was, dieses kurze Stück. In meinem Auto steht Moa immer zwischen den Sitzen, sodass sie die Straße sieht und ihr nicht übel wird. Das mit diesen Kindersitzen ist so ein Theater.«

»Du bist mit ihr gefahren, ohne sie anzuschnallen?« Sara wurde mit einem Mal ängstlich und gleichzeitig furchtbar wütend. »Dann gehen wir lieber zu Fuß. Moa fährt nicht einen einzigen Meter ohne Sicherheitsgurt!«

»So ein Blödsinn!« Gunilla war offensichtlich beleidigt.

Moa schlich sich auf der anderen Seite aus dem Auto und lief zu Sara zurück.

Jetzt mischte sich auch Antonia in die Diskussion ein. »Du würdest es dir nie verzeihen, Gunilla, wenn deinem Enkelkind etwas zustoßen würde und du hättest Schuld daran.« Sie zeigte auf ihr Auto. »Ich habe unseren Kindersitz mitgebracht, den Moa immer benutzt, wenn sie bei uns ist.«

»Vielen Dank, Antonia.« Sara war erleichtert, auch wenn der Fahrstil der Schwägerin einiges zu wünschen übrig ließ. Das Seltsame an den Sorgen und der Fürsorglichkeit ihrer Mutter war, dass sie selten den wirklichen Bedrohungen von Leib und Leben galten, sondern nur Kleinigkeiten.

Gunilla starrte Antonia feindselig an. »Früher ging das ganz ausgezeichnet. Da konnte ich fünf von deinen Freundinnen einfach so im Auto transportieren, Sara. Da ist niemals etwas passiert.«

»Wir haben Glück, dass sich die Technik da weiterentwickelt hat«, flocht Bark ein, der gerade auf dem Weg zu seinem Toyota an der Gruppe vorbeikam. »Selbstverständlich sollte das Mädchen im Auto sicher sein. Es gibt nichts Kostbareres als Kinder.«

Ulla, die an der Fahrertür stand, war ganz bleich geworden. »Nein, es gibt nichts Kostbareres«, echote sie. Dann sagte sie nichts mehr, sondern senkte nur den Kopf, um den Blicken der anderen nicht begegnen zu müssen, und es war ganz deutlich, dass sie an ihren Sohn dachte, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Sara half Moa in Antonias Auto, schnallte sie an und setzte sich daneben auf den Rücksitz. Für das hier würde sie büßen müssen, das wusste sie schon jetzt. Ihre Mutter konnte schon wegen kleinerer Sachen wochenlang sauer sein. Es war nicht ihre Absicht gewesen, sie zu kränken oder vor den anderen bloßzustellen. Aber Moas Sicherheit war wichtiger.

Durch die Scheibe sah sie Lisa, die Gunilla anlächelte. »Ich fahre gern mit dir und Ulla«, sagte sie. Als ihre Mutter nicht hinschaute, warf Sara Lisa einen Luftkuss zu.

Knapp zehn Minuten später waren sie vor Ort und bekamen ihre Zimmer. Inzwischen war es draußen sehr dunkel, und die Lampen im Garten brannten. Lisa und Sara würden sich mit Moa und Gunilla eine Hütte mit zwei Zimmern und einer kleinen Pantry teilen. Moa würde im Zimmer ihrer Großmutter schlafen. Sara hoffte, dass es gutging. Sie selbst war so erschöpft, dass sie fast ohnmächtig wurde. Aber Lisa überredete sie, mit in die Spa-Abteilung zu kommen, während Gunilla anbot, Moa ins Bett zu bringen.

»Ich verspreche dir, es wird dir besser gehen. Und so kann deine Mutter sich auch noch ein bisschen beruhigen.«

Sara verspürte großen Unwillen. »Du ahnst ja nicht, wie nachtragend sie sein kann. Aber diesmal gebe ich nicht klein bei.«

»Jetzt sieht man schon von Weitem, dass wir zusammengehören«, sagte Lisa lachend, als sie ihre gleichen Badeanzüge angezogen hatten, deren kariertes Muster sehr auffällig war.

Sie bestellten jede ein Glas Sekt und eine Schale Obst und gingen zum Außenbecken. Es war herrlich, sich in das heiße Wasser sinken zu lassen. Die Wasseroberfläche des Beckens verschmolz mit dem schwarzen Wasser des Orsjön.

»Ich würde am liebsten direkt in die Ewigkeit hinausschwimmen«, rief Lisa und packte Saras Arm. »Aber nur, wenn du mitkommst.«

»Pass auf, was du dir da wünschst!« Antonia saß ganz hinten im Becken, mit einer wie angegossen auf ihrem Kopf sitzenden Badekappe bis zur Unkenntlichkeit verkleidet. Ohne den Blick von den beiden zu wenden, ließ sie sich langsam herabsinken, bis das Wasser an ihr Kinn reichte.