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Nach Ullas Bekenntnis war die Stimmung furchtbar. Kristoffer Bark rief ein Taxi, und Sara und Lisa fuhren mit ihm zum Hotel. Sara beruhigte sich die ganze Fahrt über nicht. Als sie in Orbaden ankamen, ging sie sofort zur Hütte. Lisa war anzusehen, dass sie sich Sorgen machte.

»Ich komme mit dir, Sara. Vielleicht möchtest du ja reden, ansonsten kann ich auch ganz still sein, wenn du willst.«

Sara weinte einfach nur. »Ich kann nicht. Ich kann nicht mehr.«

Als Kristoffer sah, dass Lisa mit Sara in die Hütte ging, konnte er für einen Moment entspannen. Er schaute über das bleigraue Wasser hinaus und beschloss, obwohl der Regen noch nicht aufgehört hatte, ein paar Kilometer zu joggen, um den Kopf freizukriegen. Er hatte Turnschuhe, Jeans und T-Shirt an und lief sofort los. Trainingskleidung hatte er nicht eingepackt.

Die lange Holztreppe zum Strand hinunter war glitschig vom Regen, und einmal wäre er fast gestürzt, konnte sich aber im letzten Moment noch am Geländer festhalten. Er sah sich peinlich berührt um, doch es war kein Mensch in der Nähe. Als er unten angekommen war, lief er am Wasser entlang. Er musste an die Nachricht auf Saras Küchenfenster denken. Die Hure soll sterben . Wenn die Bedrohungen und die Schikanen mit Josefs Tod aufgehört hätten, dann hätte man mit gutem Grund annehmen können, dass es jemand auf ihn abgesehen gehabt hatte. Doch diese Drohung war gegen Sara gerichtet.

Aber wie war das vor sich gegangen? Sie wohnte im ersten Stock. Den Text auf das Fenster zu schreiben wäre natürlich von der Innenseite einfacher gewesen, als vorm Fenster auf einer Leiter zu stehen oder mit einem Pinsel an einem langen Stiel, oder wie das nun auch immer gehen sollte. War das eine echte Bedrohung oder eine Methode, die Polizei in die Irre zu führen? Könnte Sara ihren Mann getötet und es selbst geschrieben haben, um als Opfer dazustehen? Nein, das war zu weit hergeholt. An wen richtete sich die Botschaft, Sara oder Lisa? Und warum wurde das Wort Hure benutzt? War der Wahnsinnige, den sie suchten, ein Mensch, der sich betrogen und im Stich gelassen fühlte, oder war das ein Wort, das er oder sie als Demütigung aufs Fenster geschrieben hatte? Nahm vielleicht jemand Anstoß daran, dass hier zwei Frauen zusammenwohnten?

Das Einfachste wäre gewesen, sich Zimmermanns Linie anzuschließen und sich in dem Glauben zur Ruhe zu setzen, dass die Schuldigen bereits festgenommen seien. Für die Wirtschaftsverbrechen galt das gewiss, aber Zimmermann war auch überzeugt davon, dass Dorteus mit Josefs Tod zu tun hatte, obwohl man dafür noch keine Beweise hatte. Bark ahnte, dass sie sich hier täuschte. Die beiden Dorteus’ waren nach den Verhandlungen in Untersuchungshaft gebracht worden und konnten weder vor Moas Tagesstätte aufgetaucht sein, noch etwas auf Saras Küchenfenster geschrieben haben. Bark wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass der Mörder auf freiem Fuß war. Wilhelm und Antonia, Sara und Gunilla, ja, sogar Lisa – alle hatten sie die Möglichkeit gehabt, Josef zu töten. Und die Amateurtherapeutin Ulla hätte den Schlüssel zur Hintertür kopieren können. Aber warum sollte sie Josef töten wollen? Er hatte ihr seinen Abschiedsbrief anvertraut, und Ali von der technischen Abteilung hatte den für echt befunden.

Kristoffer drehte und wendete jeden Gedanken. Was für ein Motiv könnte Wilhelm gehabt haben, seinen Bruder zu töten? Hatte es mit den Geschäften zu tun, war Wilhelm in das ganze Desaster verwickelt? Wollte Josef vielleicht zur Polizei gehen, und Wilhelm versuchte, ihn daran zu hindern, alles aufzudecken? Oder musste man weiter in der Zeit zurückgehen – Josef und Wilhelm hatten Emelie Kartman, oder Nilsson, wie sie vor ihrer Heirat hieß, gekannt. Könnte Wilhelm sie ermordet haben und dann Josef, weil der ihm auf die Schliche gekommen war? Bark wurde den Gedanken nicht los, dass die Morde vielleicht zusammengehörten. Was Antonia, Lisa und Gunilla betraf, so konnte er auf kein mögliches Motiv kommen. Soweit er wusste, hatte keine von ihnen irgendeine Verbindung zu Emelie oder Vallsta.

Im Sand zu laufen war anstrengend, und Bark konzentrierte sich auf seine Atmung. Er dachte über Lisa nach, die Person, die er am wenigsten verdächtigte, weil sie Polizistin war. Aus dem Nichts tauchte ein Gedanke auf: War es Zufall, dass ihre Mutter unlängst an einer Medikamentenvergiftung gestorben war, und dies kurz vor Josefs Tod? Wenn ihre Mutter im Krankenhaus gelegen hatte, dann war das womöglich eine Gelegenheit für Lisa gewesen, an Fentanylpflaster zu kommen. Nach dem, was Lisa in der Gruppe erzählt hatte, wusste er, dass sie zumindest als Kind eine sehr schlechte Beziehung zu ihrer Mutter gehabt hatte. Könnte der Tod der Mutter irgendetwas getriggert haben? War Lisa nur eine Kollegin und gute Freundin von Sara, oder gab es zwischen den beiden etwas? Könnte sie Josef getötet haben, weil sie in Sara verliebt war?

Kristoffer blieb stehen und holte Luft, er schloss die Augen und rief Bilder aus seiner Erinnerung auf. Als sie am Feuer saßen, hatte er nebenbei auf die Blicke reagiert, die Lisa Sara zuwarf. Wie Lisa in der Pause mit Saras Haaren gespielt hatte. Etwas, was nur Mädchen machten. Bedeutete das mehr als Freundschaft? Und falls ja, wie hing das nun mit dem Tod von Emelie Kartman vor zehn Jahren zusammen. Da war Lisa zwanzig Jahre alt gewesen und gerade mit dem Gymnasium fertig. Er kam einfach nicht weiter und gab auf.

Kristoffer kehrte ins Hotel zurück, um zu duschen und sich umzuziehen. Auf dem Hof wurde er von Antonia aufgehalten, die Moa an der Hand hielt. »Ein Mann war hier und hat nach Ihnen gefragt.«

»Wer war das?« Kristoffer war erstaunt, er glaubte nicht, dass außer Zimmermann jemand wusste, wo er sich befand. Möglicherweise noch Ingrid.

»Er war in Ihrem Alter. Seinen Namen hat er nicht gesagt. Er war kahlköpfig und tätowiert und sitzt jetzt in Ihrer Hütte und wartet auf Sie.«

Kristoffer ging weiter zur Hütte, wo sich sein Verdacht als richtig erwies.

»Gunnarsved! Teufel auch. Woher weißt du, dass ich hier bin?«

Ulf saß am Küchentisch und trank Tee, und alleine das schon war seltsam. Gunnarsved ohne ein Bier, das war wie Tonic ohne Gin.

»Zimmermann fand, ich sollte dich beaufsichtigen. Sie war davon ausgegangen, dass du einen Kollegen mitnehmen würdest, aber weder Alex noch Henrik hatten eine Ahnung, wo du bist, und ich war sowieso in der Nähe und habe die Verwandtschaft besucht. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ein echter Hälsing. Wir Hälsingarna sind ein Geschlecht für sich. Im Jahre 1317 haben die Hälsingarna den Steuereintreiber vom Schwedischen Reich totgeschlagen, und bis 1374 hatten wir ein eigenes Gesetzbuch. Das waren noch Zeiten!«

»Wenn du auch nichts dazu beigetragen hast. Warum hat Zimmermann ausgerechnet dich geschickt? Das ist ja nicht sonderlich passend, wo du und Sara doch einen Konflikt hattet. Hat Zimmermann dich wirklich gebeten?«

»Sie musste mich nicht bitten, für eine schöne Frau tue ich alles, das weißt du doch. Ich habe gehört, wie sie und Gaby sich unterhalten haben, und beschloss, hierherzukommen und ein sehr dringendes Verhör mit Wilhelm Bredow zu führen.«

»Ist noch mehr passiert?«, erkundigte sich Bark.

»Das kann man wohl sagen. Ali war mit der Hausdurchsuchung, die wir im Büro der Brüder Bredow unternommen haben, nicht zufrieden, obwohl wir in Papieren ersaufen. Also ist er gestern Abend spät noch einmal dort vorbeigefahren und hat ein Geheimfach gefunden.«

»Ein Geheimfach? Was war da drin?«

Wie üblich antwortete Ulf nicht auf die Frage. »Ich wollte Wilhelm dazu vernehmen. Aber, um ehrlich zu sein, fand ich, dass du ihn vernehmen solltest, damit es keine Probleme gibt. Er ist ja schließlich der Schwager von Sara. Das könnte ein bisschen heikel sein.«

»In der Tat«, sagte Bark.

Ulf verzog keine Miene. »Ich habe ein Aufnahmegerät im Auto und ein Zimmer gebucht, in dem wir ihn vernehmen können.«

»Okay. Aber dann musst du mir erzählen, was ihr gefunden habt.«

»Das werde ich. Setz dich.«