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Auf dem Weg aus dem Hotel stieß Sara mit Kristoffer Bark zusammen. Er saß in einem Sessel bei der Rezeption und las Zeitung. »Hier sitzt du«, sagte sie, als er zu ihr aufsah.

»Ja, hier sitze ich.« Er legte die Zeitung beiseite.

»Dann gute Nacht!« Sie hatte das Gefühl, dass er da saß, um sie und Ulf zu beobachten. Vom Sessel aus konnte er den Tisch sehen, an dem sie gesessen hatten.

»Gute Nacht! Wenn etwas ist, dann bin ich in der Pantry im Erdgeschoss des roten Hauses.«

»Du wirst also nicht die Hütte mit Ulf teilen?«

»Richtig erkannt. Du kannst mich von deinem Schlafzimmerfenster aus sehen. Achte darauf, dass ihr hinter euch abschließt.«

Sara ging weiter über den Hof und schloss die Tür so leise sie konnte auf. Sie hoffte, dass Lisa schon eingeschlafen wäre. Ulfs Worte hingen noch in ihren Gedanken, obwohl sie versuchte, sie zu verdrängen. Er verdächtigte Lisa, Josef ermordet zu haben. So etwas war vollkommen krank von ihm. Lisa war ihre beste Freundin. Natürlich wusste sie, was sie von ihr zu halten hatte. Vor einer Stunde noch war sie davon überzeugt gewesen, dass Ulf der größte Idiot war, dem sie begegnet war. Warum erstickte sie also nicht den Samen des Misstrauens, den er gelegt hatte? Weil es in gewissen Punkten vorstellbar klang?

Lisa setzte sich im Bett auf und schaltete die Nachttischlampe ein. Vom Licht geblendet blinzelte sie ein paarmal. Ihr kurzes rotbraunes Haar war zerzaust, und sie hatte vergessen, die Wimperntusche abzuwischen, die jetzt unter den Augen schwarz verschmiert war. »Wie war es? Was hat er gesagt?«

»Er hat sich entschuldigt.«

»Okay, aber was macht er hier? Ist er hierhergekommen, um dich zu treffen?«

»Er hat irgendeinen Verwandten besucht und war zufällig in der Nähe«, erklärte Sara, schnappte sich ihr Nachthemd und ging ins Badezimmer. Dort sank sie auf die Toilette und blieb sitzen. Bisher hatte sie sich völlig ungeniert im selben Zimmer umgezogen wie Lisa, aber das, was Ulf gesagt hatte, beeinflusste sie gegen ihren Willen. Nicht weil es schwieriger gewesen wäre, Lisa zu sagen, dass sie nicht an einer solchen Beziehung interessiert war, als einem Mann. Sie hatte Angst, ihre Freundschaft zu verlieren.

»Was machst du so lange im Badezimmer?« Lisa klopfte an die Tür.

Sara stand sofort auf und begann die Zähne zu putzen. »Weiß nicht. Ich bin einfach hängen geblieben. Ich bin so müde.«

»Es war ein schrecklicher Tag. Du musst völlig fertig sein.« Lisa öffnete die Tür und kam herein. Vorsichtig fasste sie Saras Schultern an und begann, sie zu massieren. »Du bist so verspannt. Versuch, locker zu lassen.«

»Das geht nicht.« Lisa hatte sie schon so viele Male zuvor in den Schlaf massiert, und Sara hatte niemals darüber nachgedacht. Jetzt konnte sie sich nicht entspannen. Jede Bewegung war ihr extrem bewusst. Ulfs Verdacht fühlte sich gar nicht mehr so absurd an, wie er sollte. Er dachte, Lisa hätte die hässlichen SMS geschrieben, die er dann an Josef weitergeleitet hatte. Damit sie einen gemeinsamen Feind hätten. Sara vermochte nicht darüber nachzudenken, wagte nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu führen.

»Was belastet dich?«

»Nichts«, log Sara. »Ich muss schlafen.«

»Morgen kannst du schlafen, so lange du willst. Ich habe Ulla angerufen und ihr gesagt, dass wir aus dem Kurs aussteigen – für den Fall, dass sie das nicht schon begriffen hatte. Wenn ich nur geahnt hätte, wie schlimm es werden würde, hätte ich dir abgeraten. Aber wir konnten ja nicht wissen, dass wir nur Opfer waren, die ihr Stoff für ihr nächstes Buch geben sollten.«

»Nein, sie hat ja Wilhelm und mich persönlich zu der Sache hier eingeladen. Sie wollte wirklich, dass wir kommen.« Sara kroch ins Bett und hoffte, Lisa würde schnell einschlafen.

»Keine Umarmung?«

»Natürlich bekommst du eine Umarmung.« Sara streckte die Hände in der Dunkelheit aus, und Lisa drückte sie an sich. Sie roch nach Seife und Pferd, dieser Pferdegeruch, der niemals ganz verschwand.

»Wir gegen die Welt, Sara. Ich werde immer für dich da sein.«

»Danke, meine beste Freundin. Und ich bin für dich da.« Sie rollte sich mit dem Rücken zu Lisa zusammen und merkte, wie sie vor Erschöpfung zitterte. Die Jalousien waren nicht heruntergezogen, und wenn die Mondsichel ab und zu hinter dunklen Wolken hervorschaute, fand ein schwaches Licht seinen Weg ins Zimmer. Außer Lisas Atemzügen, die immer langsamer und tiefer wurden, waren keine Geräusche zu hören. Sie selbst konnte nicht schlafen, war todmüde und hellwach zugleich.

Plötzlich durchschnitt ein Telefonklingeln den Raum. Es kam von Lisas Handy. Sofort saß Lisa aufrecht im Bett und ging ran.

»Was sagst du da? Mein Pferd muss zum Tierarzt? Eingeschläfert werden? Nicht, ehe ich da bin! Ja, ich kann versuchen ein Auto zu leihen, ich fahre sofort los!«

Sara schaltete die Nachttischlampe ein. »Was ist denn los?«

»Ich erkläre es nachher. Schlaf du weiter.« Lisa zog sich Hosen und ihre rote Jacke über das Nachthemd. Dann eilte sie zur Tür und stieg in ihre Schuhe.

»Hast du einen Schlüssel?«, fragte Sara im Halbschlaf.

»Ich habe einen Schlüssel.« Lisa hielt ihn hoch und schob ihn dann in die Jackentasche. »Schlaf jetzt! Ich rufe an und erzähle, was passiert ist.«

Sara schaltete das Licht aus und sank wieder ins Bett. Die Minuten vergingen und wurden zu einer halben Stunde. Es war unmöglich einzuschlafen. Was war mit dem Pferd? Lisa wollte doch wohl nicht mitten in der Nacht bis Nora fahren? War sie aus Rücksicht zum Telefonieren rausgegangen, damit Sara weiterschlafen könnte? Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Als eine knappe Stunde vergangen war, setzte sie sich auf und schaltete das Licht wieder ein. Sie griff nach ihrem Handy und rief Lisa an. Zehnmal klingelte es, dann ging die Mailbox ran. Sie sind auf der Mailbox von Lisa Wadenberg gelandet. Ich kann Ihr Gespräch jetzt gerade nicht annehmen, aber sprechen Sie eine Nachricht auf oder schicken Sie eine SMS .

Nach vier Versuchen gab Sara auf. Sie zog sich an und verließ die Hütte.

Im selben Moment kam Kristoffer Bark über die Wiese und sah sie fragend an. »Ist Lisa zurückgekommen? Ich habe gesehen, wie sie rausging und telefonierte.« Er sah auf die Uhr. »Sie ist jetzt schon über eine Stunde draußen.«

»Ich mache mir Sorgen. Es war irgendetwas mit ihrem Pferd. Sie wollte ein Auto von jemandem leihen.«

Sie gingen in die Rezeption. Lisa war nicht zu sehen. Also gingen sie auf den Parkplatz hinaus, doch konnten sie schnell feststellen, dass keine Fahrzeuge fehlten. Wessen Auto hatte Lisa also leihen wollen, und wo war sie jetzt?

»Ich gehe los und suche«, erklärte Bark. »Geh du rein, und schließ hinter dir ab.«

»Nein, ich gehe mit. Ich kann sowieso nicht schlafen. Ich habe Angst, dass ihr etwas passiert ist. Ihre Stimme klang so seltsam, als sie das Gespräch annahm. Sie hat nicht gesagt, wer da angerufen hat, und es klang, als sei es jemand, den sie nicht kannte. Aber wenn kein Auto fehlt, dann kann sie ja nicht weit gekommen sein.«

Sie traten auf den erleuchteten Hof hinaus. Lisa war nirgends zu sehen. Dann gingen sie an der Hauswand des Hotels entlang. Die Fensterscheiben waren dunkel und leer, und es schien, als würden alle schlafen. Sara warf einen Blick zum Strand und dem glatten Wasserspiegel des Ljusnan hinunter. Die Kiefern zeichneten sich wie schwarze Schatten in der dunkelgrauen Nacht ab. Bark holte eine Taschenlampe aus der Jackentasche und schaltete sie ein. Der Lichtkegel schwenkte über die steile Holztreppe hinunter zum Wasser. Auf der ersten Treppenstufe lagen Glasscherben – die Lampe der nächstliegenden Laterne war zerschlagen. Bark ging zuerst die Treppe hinunter, und Sara folgte dicht hinter ihm. Da hielt er plötzlich an und leuchtete.

»Was ist das?«

Sie keuchte, als sie das Bündel sah, das ungefähr zwanzig Treppenstufen weiter unten lag. War das Lisas rote Jacke? Sie drängte sich an Bark vorbei und schoss in rasendem Tempo nach unten. Das war ein menschlicher Körper in einem unnatürlichen Winkel. So etwas hatte sie schon im Dienst gesehen und wusste, was es bedeuten konnte. Im selben Moment verspürte sie Barks Hand auf ihrer Schulter und blieb stehen. Einen Moment später war er bei der Person und hockte sich hin.

»Es ist Lisa. Ruf 112!« Er wandte sich Sara zu. »Wir sollten sie nicht hochheben, wenn sie sich den Kopf angeschlagen hat, könnte der Nacken instabil sein.« Er fühlte nach Lisas Puls am Handgelenk, dann am Hals. »Ich spüre keinen Puls. Wir können nicht länger warten.« Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken und begann die Herzlungenmassage mit jeweils dreißig schnellen Kompressionen über dem Brustbein und zweimal beatmen.

Sara war wie versteinert. Sie sah Barks rhythmische Bewegungen, konnte sich aber selbst nicht rühren.

Er wandte sich ihr zu. »Wir müssen versuchen, Leben in sie zu bekommen, wir dürfen nicht aufgeben, ehe der Notarzt kommt. Ruf 112 an, und hol dann Verstärkung, damit wir uns ablösen können. Sara, du musst jetzt helfen.« Bark warf einen Blick auf die Uhr. »Sara! Du musst dich zusammenreißen und anrufen!«

Erst da kam Leben in Sara. Sie wählte 112. Die Sekunden, bis jemand ranging, währten eine Ewigkeit. Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit berichtete sie zitternd, was geschehen war. Denn natürlich war das ein Missverständnis. Gleich würde Lisa aufstehen, sich abbürsten und sie auslachen. Scheinbar bin ich hingefallen. Wie blöd man sein kann.

Jemand lachte, ein wahnsinniges durchdringendes Lachen. Es wurde von Barks Stimme übertönt:

»Hör auf, Sara! Du musst Hilfe holen! Hol Antonia.«