Es war Sonntagabend, und Kristoffer Bark hatte Sara aus dem Krankenhaus in Bollnäs abgeholt und sie nach Hause in die Wohnung in Örebro gebracht, wo ihre Mutter schon wartete. Moa war bei Wilhelm und Antonia. Sara hatte die ganze Fahrt über dank der Beruhigungsmittel, die sie bekommen hatte, geschlafen. Als Kristoffer sie die Treppe zur Wohnung hinaufbrachte, packte sie seine Hand mit beiden Händen und hielt sie fest.
»Das ist alles so schrecklich und unwirklich.«
»Sag Bescheid, wenn es irgendetwas gibt, was ich für dich tun kann.«
»Danke, Kristoffer.« Sie ließ seine Hand nicht los. Er sah, dass sie Angst hatte. »Ist Lisa auch ermordet worden? Ich will die Wahrheit wissen. Die beiden Menschen, die mir, abgesehen von Moa, am nächsten standen, sind tot. Wie soll ich ohne sie klarkommen? Es ist, als wollte die Person, die hinter all dem steckt, dass ich einsam und von allen verlassen bin. Verstehst du, was ich meine?«
Kristoffer hatte keine Wahl. Er konnte sie nicht länger schonen und sagte ihr, wie es war. Dass Lisa von hinten mit einem Gegenstand niedergeschlagen worden war.
Sara starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als könne sie dennoch nicht richtig begreifen, was er gesagt hatte. Dann kamen die Tränen. Sie standen auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnungstür. Sie verkroch sich in seinem Arm und presste sich krampfhaft an ihn. Als sie sich etwas beruhigt und ihre Stimme wieder im Griff hatte, trat sie einen halben Schritt zurück. »Lisa war meine allerbeste und loyalste Freundin. Wer könnte ihr Böses wollen?«
»Ich werde alles tun, um das herauszufinden«, versprach er. Im selben Moment hörte er einen Huster im Treppenhaus.
Sara folgte seinem Blick. »Das ist Frideborg«, flüsterte sie. »Jetzt wird sie der ganzen Nachbarschaft erzählen, dass ich hier gestanden und einen fremden Mann umarmt habe. Sie solltest du mal abholen, die ist alles andere als unschuldig.«
Kaum dass Sara die Tür zu ihrer Wohnung geöffnet hatte, kam ihr Gunilla schon in der Diele entgegen.
»Jemand hat dein Küchenfenster beschmiert!«
»Ich weiß, Mama. Das habe ich schon in der Nacht auf Donnerstag gesehen, ehe wir weggefahren sind.«
»Ich habe Kaffee aufgesetzt.« Gunilla warf Kristoffer einen dankbaren Blick zu. »Danke, dass Sie sie abgeholt haben. Ich musste mich um Ulla kümmern. Die war vollkommen am Boden, weil der Kurs schiefgegangen ist.«
Kristoffer verabschiedete sich. Auf dem Heimweg dachte er über Gunilla nach. Sie hatte sich um die enttäuschte Ulla gekümmert, anstatt ihre Tochter zu unterstützen, deren Freundin ermordet worden war. Was waren das für seltsame Priorisierungen? Er erinnerte sich an die Situation mit Moa und dem Kindersitz, als Gunilla die Gefahr bagatellisiert hatte. Dann wieder hatte sie eine große Geschichte um Moas angebliche Schüchternheit gemacht und sie um jeden Preis schützen wollen. Gunilla war ein Rätsel.
Als Kristoffer nach Hause in seine Wohnung in Tybble kam, ging er direkt auf den Balkon hinaus und atmete tief durch. Es war ein kühler Oktoberabend. Er hatte Sara erzählt, dass Lisa ermordet worden war. Schon bald würden die Zeitungen und Nachrichten im Fernsehen groß darüber berichten, dass eine Polizistin brutal erschlagen worden war. Das würde schwer werden für Sara. Gunilla hatte sich frei genommen, um die Tochter zu unterstützen, doch Kristoffer war nicht überzeugt, dass sie die richtige Person dafür war. Die Beziehung der beiden schien schwierig zu sein.
Er beugte sich übers Balkongeländer und ließ den Blick auf der Terrasse des Nachbarn ruhen, wo die Gartenstühle an der Wand gestapelt waren und der Grill mit einer Persenning bedeckt. Dann ließ er die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren.
Am Morgen hatten er und Ulf Gunnarsved in der Hütte in Orbaden lange geredet. Zuerst hatten sie über Ulfs Gespräch mit Sara am Freitagabend gesprochen, als die beiden Frieden geschlossen hatten, auch wenn sie nun nicht direkt Freunde geworden waren. Gunnarsved hatte mit großem Widerwillen erzählt, was er Sara über Lisa gesagt und welche Beschuldigungen er ausgesprochen hatte. Er bereute seine Worte, und Kristoffer hatte seine Reue als echt empfunden. Gemeinsam hatten sie mögliche Motive für Lisas Ermordung diskutiert. Wer hatte sie angerufen und behauptet, dass ihr Pferd eingeschläfert werden sollte? Lisa war mitten in der Nacht eilig aus dem Haus geeilt. Unter der Jacke hatte sie noch das Nachthemd in die Jeans gestopft und war barfuß in die Schuhe gestiegen. Der Anrufer musste gewusst haben, dass sie ein Pferd besaß, das ihr sehr viel bedeutete. Kristoffer konnte nicht aufhören, sich darüber zu grämen, dass er nicht hinter Lisa hergelaufen war. Aber er hatte nicht geglaubt, dass sie in Gefahr war. Ihm war es darum gegangen, Sara zu beschützen. Er war zutiefst erschüttert von dem Gedanken, dass er das Geschehene möglicherweise hätte verhindern können.
Den ganzen Samstag über hatte er wegen des Verhörs mit Wilhelm versucht, Kontakt zu Gaby Wide aufzunehmen. Aber sie war nicht erreichbar gewesen. Heute hingegen, obwohl Sonntag war, hatte sie den ganzen Tag gearbeitet, um sich einen Überblick über den Fall zu verschaffen. Sie waren mehrere Male in Kontakt gewesen, und er würde sie morgen früh um acht Uhr in ihrem Büro treffen. Zimmermann sollte auch dabei sein.
Kristoffer ging rein und schloss die Balkontür hinter sich. Ruhelos wanderte er auf und ab durch die Zimmer der Wohnung. Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Er erinnerte sich an die Unordnung, in der er vor ein paar Wochen aufgewacht war, nachdem er schlafgewandelt hatte. Könnte er das wieder getan haben? War es möglich, dass er nicht die ganze Nacht von Freitag auf Samstag im Hotel Orbaden auf dem Sofa in der Küche geblieben war? Was, wenn er es verlassen und jemand ihn gesehen hatte? Lars Bengtsson von der Polizei Bollnäs wollte schon sehr genau wissen, wo er sich befunden hatte. Was hatte diese Zeugin eigentlich gesehen?
Kristoffer hätte seine Sorge gern mit jemandem geteilt, doch die Einzige, die er kannte, die ein solches Bekenntnis entgegennehmen und logisch aufarbeiten könnte, war Mia Berger, aber wenn er seinen Job behalten wollte, war es ausgeschlossen, mit ihr über sein Schlafwandeln zu sprechen. Wenn er eingestand, im schlafenden Zustand keine Kontrolle über seine Handlungen zu haben, müsste sie das sofort an Zimmermann weitergeben.
Er schüttelte die Gedanken ab und ging weiter in Veras Zimmer. Da stand alles noch genau so, wie sie es verlassen hatte. In ihrem Zimmer war sie immer noch gegenwärtig. Er öffnete den Schrank und strich über ihren Lieblingspullover. Niemals würde er ihre Sachen wegräumen können. Da musste er an den Schmuck denken, Veras Kette mit dem in Gold eingefassten Bergkristall, die sie auf ihrem Junggesellinnenabschied getragen hatte. Und die er zurückbekommen hatte, als man ihre Leiche fand. Er ging zum Regal mit dem Schmuck und öffnete die kleine Dose. Sie war leer. Erst traute er seinen Augen nicht. Er hatte die Halskette seit dem schrecklichen Tag, an dem man sie tot gefunden hatte, nicht angerührt. Oder doch? Sofort musste er wieder an seine nächtlichen Eskapaden denken. Aber wenn er selbst den Schmuck an einen anderen Platz getan hatte, wohin denn? Unsystematisch begann er unter Veras Sachen zu suchen, gab aber schnell wieder auf, denn es fühlte sich nicht gut an, so in ihrem Zimmer herumzuwühlen.
Kristoffer ging geradewegs zum Barschrank, um sich einen Absacker zu gönnen. Ganz vorn stand die Ginflasche, die er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Gin mit Sanddorngeschmack. In der Mühle Tevekvarn, nicht weit von Orbaden entfernt, hergestellt.
Ulf war mit seinem Onkel in dieser Destillerie gewesen, ehe er nach Orbaden kam. Auch Wilhelm und Antonia waren dort gewesen und hatten an der Ginprobe teilgenommen. Antonia hatte Ulf erzählt, dass der Gin aus der Tevekvarn auf dem Nobelbankett serviert würde. Ulf seinerseits hatte Kristoffer die Geschichte so wiedergegeben, als hätte Antonia mit ihm geflirtet.
Bark hob die Flasche heraus, betrachtete das Etikett und stellte sie wieder zurück. Die würde er später, zu einem feierlichen Anlass, öffnen, wenn sie den Mörder, dem sie auf der Spur waren, festgenommen hatten.
Er ging in die Küche, holte sich ein Easy Rider, das alkoholfreie Bier, das er am liebsten mochte, und setzte sich aufs Sofa, um nachzudenken. Seit dem Kurs hatte er nicht viel an Ulla Haugren gedacht. Manches, das sie gesagt hatte, war durchaus klug gewesen. Das musste er ihr zugestehen. Vielleicht waren sie zu hart mit ihr umgegangen. Aber ihre Methoden waren schon höchst zweifelhaft.
Etwas später machte er sich für die Nacht bereit und kroch ins Bett. Die Gedanken fuhren immer noch in seinem Kopf Karussell. Er war überzeugt davon, dass die Person, die Josef getötet hatte, auch Lisa auf dem Gewissen hatte, und das konnte also nicht das Ehepaar Dorteus sein, denn die saßen in Untersuchungshaft. Die Parallele, die Sara zwischen den Morden gesehen hatte, war, dass sie die Hilfe von beiden brauchte, um ihren Alltag zu bewältigen. Als Josef nicht mehr da war, hatte Lisa seine Aufgaben übernommen und mit Moa geholfen. Wer würde jetzt diesen Platz einnehmen? Saras Mutter Gunilla wollte gebraucht werden, aber welche Mutter wollte das nicht? Offenbar liebten Antonia und Wilhelm die Kleine, als wäre sie ihr eigenes Kind. Und Ulla? Könnte sie die Schuldige sein? Das einzige Motiv, was Kristoffer zu ihr einfiel, war, dass Ulla sich möglicherweise an Sara rächen wollte, weil sie Josefs ganze Aufmerksamkeit gestohlen hatte. Wenn Ulla sich auf irgendeine kranke Weise einbildete, dass er eine Reinkarnation ihres Sohnes sei, dann wollte sie ihn vielleicht ganz für sich allein haben. Ein übler Gedanke. Aber wenn sie Josef getötet hatte, dann würde sie ihn ja auf immer verlieren. Das passte nicht zusammen.
Hier irgendwann musste Kristoffer doch eingeschlafen sein. Um halb sieben erwachte er vom Weckalarm des Handys und stand auf. Er nahm eine rasche Dusche und eine Tasse schwarzen Kaffee und ließ sich vor dem Computer nieder, um die Nachrichtenseiten zu lesen. Die schwarzen Headlines berichteten von einem schweren Sturz mit tödlichem Ausgang bei Orbaden. Noch nichts davon, dass es sich um eine Polizistin handelte, die zudem wahrscheinlich ermordet worden war.
Kristoffer fühlte Trauer in seiner Brust aufsteigen. Er hatte eine Kollegin verloren, die er leider nie richtig kennenlernen konnte. Lisa war viel zu jung gestorben, erst um die dreißig, ehrgeizig und voller Leben.
Punkt acht Uhr betrat Kristoffer Bark das Zimmer von Gaby Wide im Gerichtszentrum. Es lag unter dem Turmzimmer, in dem er und die Gruppe arbeiteten. Neben Gaby Wide war auch Regina Zimmermann dort.
»Setz dich«, sagte Gaby und zeigte auf einen freien Stuhl am Tisch, an dem die beiden schon saßen. »Wir müssen rauskriegen, ob die versteckte Nummer, von der Lisa angerufen wurde, von derselben Paycard kam wie die nächtlichen Anrufe bei Sara. Außerdem müssen wir so schnell wie möglich untersuchen, ob sie sogar mit den Anrufen übereinstimmt, die Emelie vor ihrem Tod erhalten hat. Es könnte dasselbe unregistrierte Handy sein, auch wenn das nicht wahrscheinlich ist, denn schließlich sind seither über zehn Jahre vergangen. Dann hatte ich noch einmal Kontakt zu der Polizei Bollnäs. Was Lisas Tod betrifft, haben wir und werden wir auch weiterhin unschätzbare Hilfe von den Kollegen in Hälsingland bekommen. Doch die Person oder die Personen, die wir im Blick behalten sollten, befinden sich hier.«
Regina Zimmermann drehte ihr langes blondes Haar zu einem strengen Knoten zusammen. »Aus ermittlungstechnischer Sicht wäre es natürlich am besten, wenn man alle bis auf Weiteres in Untersuchungshaft nehmen könnte. Aber wir haben viel zu wenig in der Hand.« Sie streckte sich und sah Bark in die Augen. »Wir haben deine Version des Hergangs gehört, und wir haben mit Ulf gesprochen und die Zeugenaussagen gelesen, die von den Kollegen in Bollnäs gesammelt wurden. Was denkst du über all das, Bark?«
Er sah von der einen zur anderen, während er seine Antwort formulierte. »Ich glaube, dass es hier um Sara geht. Jemand will ihr Schutznetz zerreißen. Wie ich es auch drehe und wende, ist doch genau das passiert.« Er führte einige seiner Gedankengänge aus, die er am Abend zuvor gehabt hatte. »Habt ihr noch mehr von der Polizei in Bollnäs gehört? Haben sie die Tatwaffe gefunden?«
»Leider nicht«, sagte Gaby.
»Und was ist eure Meinung?«, fragte Bark.
Gaby nahm einen Schluck aus ihrem schmutzigen Kaffeebecher und verzog das Gesicht. »Ich bin die Informationen durchgegangen, die Ingrid herausbekommen hat. Carola und Per-Gunnar Dorteus sind aus guten Gründen der Identitätsdiebstähle verdächtig. Sie haben Josefs Beteiligung an der Sache eingeräumt, er war derjenige, der die Portale angelegt hat, die die Diebstähle erst möglich machten. Daran gibt es keinen Zweifel. Das Geld, das Josef versteckt hatte, kommt mit größter Wahrscheinlichkeit von den Konten, die mit vorläufigen Personennummern eröffnet wurden. Er ist von Carola in bar bezahlt worden, die das Geld aus Geldautomaten holte. Doch laut Ingrid gibt es keinen Beweis dafür, dass Wilhelm auch in die Sache verwickelt war oder auch nur von den Geschäften, die Josef mit Dorteus Bygg getätigt hatte, wusste. Er hat ausschließlich in der Logistik und Lagerhaltung gearbeitet. Höchstwahrscheinlich wusste auch Sara nichts.«
»Wie machen wir weiter?«, fragte Zimmermann.
»Ich möchte, dass Sara rund um die Uhr Schutz bekommt«, erwiderte Kristoffer und berichtete, was auf ihr Küchenfenster geschrieben worden war.
Zimmermann sah nicht so aus, als würde ihr der Vorschlag gefallen. »Ich bin der Meinung, die Bedrohung ist zu diffus. Dass die Morde an Josef und Lisa etwas mit Sara zu tun haben sollen, ist nur eine Theorie unter vielen. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es eine Verbindung zur Dorteus Bygg AB gibt. Sie haben Josef getötet, vielleicht war er zu gierig geworden, vielleicht wollte er abspringen und sie anzeigen. Stellt euch doch nur vor, dass Lisa, die eine scharfsinnige Polizistin war, etwas herausgefunden hat. Sie haben einen Preis auf ihren Kopf ausgesetzt und einen ihrer Angestellten losgeschickt, um sie zu töten.«
»Haben wir eine Liste der Angestellten von Dorteus Bygg?«
»Das müsste Ingrid hinkriegen.«
»Und was glaubst du, wie die Gruppe nun weiterarbeiten soll?«, fragte Zimmermann und setzte die Brille auf, die vor ihr auf dem Tisch lag.
»Ich möchte immer noch davon ausgehen, dass es hier um Sara geht. Ich beharre darauf, dass sie und Moa Schutz brauchen. Meiner Meinung nach ist der Mörder jemand aus dem engsten Kreis, das ist wahrscheinlicher als ein unbekannter Täter. Der Mörder hat intime Kenntnisse über die Opfer. Das stärkt meinen Verdacht.«
Zimmermann seufzte laut. »Ich glaube, du liegst falsch. Das Ehepaar Dorteus ist in Untersuchungshaft, und unser Budget ist sehr knapp. Ich kann so weit gehen, dass Sara einen Notrufknopf bekommt, aber das ist auch alles. Jetzt konzentrieren wir uns mal auf die Dorteus Bygg AB , okay? Ingrid darf weiter mit Ulf im Dezernat für Wirtschaftsverbrechen zusammenarbeiten.« Zimmermann kontrollierte ihren Kalender im Handy. »Und du hast in einer Viertelstunde eine Stunde bei deiner Therapeutin gebucht. Das hast du doch wohl nicht vergessen, oder?«
»Verdammt noch mal, Zimmermann. Ich habe keine Zeit.«
»Das zu entscheiden ist nicht an dir. Ich bin deine Chefin, und ich habe ein Ultimatum gestellt.«
Kristoffer spürte die Wut in sich hochkochen, beherrschte sich aber und verließ das Zimmer mit einem kurzen Nicken zu Gaby.