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Sara weinte bitterlich. Ihre Mutter hatte sich an die Brust gefasst und gesagt, sie würde sich sehr schlecht fühlen, und dann war sie auf den Fußboden gesackt. Genau wie letztes Mal, als sie einen Herzinfarkt gehabt hatte. Im Reflex hatte Sara alles richtig gemacht. Sie hatte 112 angerufen und, während sie mit der Notrufzentrale über das Handy telefonierte, gleichzeitig mit der Herzmassage begonnen. Das bleiche Gesicht ihrer Mutter hatte durch die Nebel aus Schweiß und Tränen plötzlich Züge von Lisa angenommen. Sara wurde schwarz vor Augen, und sie versuchte, sich zu konzentrieren. Da glitt Josefs grau-bleiches Gesicht vorbei, der Blick ohne jedes Leben. Konzentriere dich! Atme langsam. Die Geräusche vom Verkehr draußen kamen und gingen in Wellen. Sie hörte ihren Puls immer lauter schlagen, bis er schließlich alle anderen Geräusche übertönte. Mama, geliebte Mama, du musst das hier schaffen. Nach Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, hörte sie das Martinshorn der Ambulanz, eilige Schritte auf der Treppe, und dann wurde die Eingangstür geöffnet.

Als die Sanitäter übernahmen, stolperte Sara ins Schlafzimmer und legte sich auf das Doppelbett, um nicht im Weg zu sein oder von ihrer Mutter, die doch um ihr Leben kämpfte, Aufmerksamkeit abzuziehen.

Sie hörte, wie sie den Defibrillator bereit machten. Ihr Bauch krampfte sich zusammen. Sie kniff die Augen zusammen und spannte den Körper an. Es musste gelingen!

Dann die Stimme, die allen befahl zurückzutreten.

Das knallende Geräusch vom Defibrillator in der Küche ließ Sara auf ihrem Bett zusammenfahren. Mama muss überleben. Geliebte, liebe Mama. Plötzlich erschienen alle Konflikte so klein und unnötig. Krampfhaft umklammerte Sara den Bettrahmen und betete zu dem Gott, der sie normalerweise nicht kümmerte.

Guter Gott, lass Mama überleben; wenn sie das hier schafft, dann werde ich nie mehr … mit welchen Versprechungen konnte man einen Gott bestechen? Sie wusste es nicht. Schuldgefühle überwältigten sie. Wenn sie es nur geschafft hätte, wenn sie selbst gesund gewesen wäre, dann hätte ihre Mutter nicht so schwer schuften müssen. Mitten in all dem Chaos hatte sie sich immer wieder tagelang um Moa gekümmert. Erst während der schrecklichen Abendessen-Einladung und dann in den Tagen nach Josefs Tod, später in Orbaden und dem Tumult, der dort herrschte.Ihre Mutter hätte sich ausruhen müssen, als sie nach Hause kam, doch sie war weiterhin für sie da gewesen, als Sara es nicht ertrug, allein zu sein. Sie drehte sich auf den Bauch und weinte in das Kissen. Was für ein Glück in all dem Unglück, das Moa in der Tagesstätte war und nicht hatte mitansehen müssen, wie ihre Großmutter zusammenbrach. Heute würde Antonia sie abholen. Als das Weinen nachließ, horchte Sara angespannt auf die Stimmen in der Küche. Sie hatte das Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit schon vergangen war, seit ihre Mutter bewusstlos geworden war. Stimmengewirr drang zu ihr. Schritte auf der Treppe und eine neue Stimme, dunkler als die anderen.

»Sara.« Jemand stand über ihr und berührte vorsichtig ihre Schulter.

»Ja.« Sie drehte sich um und öffnete die Augen. »Kristoffer Bark?«

Sein Gesicht war rot und schweißüberströmt, und das T-Shirt hatte große, nasse Flecken unter den Armen, so als wäre er gerannt. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch ihr wurde sofort schwindlig.

»Wie geht es draußen mit Mama? Weißt du das?«

Er ließ sich schwer auf der Bettkante nieder und legte seine Hand auf ihren verschwitzten Rücken, wo die Bluse nach der Anstrengung, die die Herzmassage erfordert hatte, festklebte. Die Wärme seiner Hand breitete sich aus und machte ihr bewusst, dass sie vor Kälte zitterte.

Kristoffer Barks Stimme war dumpf. »Es tut mir leid, Sara, es tut mir so leid. Sie hat es nicht geschafft. Sie haben es über eine Stunde versucht, haben aber kein Leben mehr in sie bekommen.«

Sara setzte sich auf. Sofort war ihr übel. Der Kopf drohte zu zerspringen, und alles schien sich zu drehen. Sie packte Kristoffers Arme.

»Geh nicht weg von mir. Bitte. Ich habe Angst. Was, wenn sie keinen Herzinfarkt hatte. Sie könnte doch auch vergiftet worden sein, mit Drogen, so wie Josef. Ich weiß nicht, was ich noch denken soll. Was ich glauben soll.«

»Ich gehe nirgends hin, ehe du nicht das Gefühl hast, dass es in Ordnung ist.« Kristoffers Handy klingelte. Er drückte das Gespräch weg und stellte auf lautlos. »Nicht, ehe jemand anders hier bei dir ist.«

In der Tür erschien ein Gesicht. Eine Frau mittleren Alters in Notarztkleidung kam näher und hockte sich neben Sara. »Sie haben schon erfahren, dass Ihre Mutter tot ist …«

»Das darf nicht wahr sein!«, schrie sie.

»Ich verstehe, dass das ein sehr schwerer Moment für Sie ist. Wir haben alles getan, was wir konnten. Wir würden Ihre Mutter jetzt gern mitnehmen. Wie möchten Sie es halten? Möchten Sie im Zimmer des Krankenhauses Abschied nehmen, wenn wir sie ein bisschen gerichtet …«

»Nein, ich will sie jetzt sehen!« Sara stand auf und ging mithilfe von Kristoffer in die Küche zu der Trage, auf die Gunilla gelegt worden war. Ihre Mutter sah bleich und friedlich aus. Die Sonne schien in die Küche hinein, und das Licht fiel über ihr Gesicht, auf dem alle Sorgenfalten geglättet waren. Die Augen waren geschlossen, aber die unnatürliche Blässe des Mundes zeigte, dass sie keinen natürlichen Schlaf schlief.

Trotz allen Ärgers und aller Konflikte liebte sie ihre Mutter. Mit ruckartigen Bewegungen ging sie hin und küsste sie auf die Stirn. Alles war vergeben. Jetzt, in diesem Moment.

Sara spürte Kristoffers Arm auf ihrem Rücken und merkte, dass sie hyperventilierte.

»Du darfst mich nicht auch noch verlassen!« Der Laut ihrer eigenen hitzigen Atmung kam und ging, und plötzlich fiel sie tief in Abgrund und Dunkelheit.

Als Sara wieder zu Bewusstsein kam, lag sie auf dem Küchenfußboden, und eine Krankenschwester hielt ihre Beine in Hochlage. Kristoffer stand daneben. Er sah besorgt aus. Sara fühlte sich dumm.

»Entschuldigung.«

»Sie müssen sich für nichts entschuldigen. Sie sind in Ohnmacht gefallen«, erklärte die Krankenschwester ruhig und bestimmt. »Die letzte Zeit war ja offenbar sehr schwierig für Sie, und da würde ich sagen, Ihre Reaktion ist völlig angemessen. Wenn man es nicht mehr schafft, dann schaltet der Körper ab, sowohl was physischen als auch was psychischen Schmerz angeht.« Langsam senkte sie Saras Beine und kontrollierte den Blutdruck. »Wie ich hörte, hat Ihre Mutter schon mal einen Herzinfarkt gehabt, vor ungefähr zwei Jahren.«

Sara nickte. »Ja, das stimmt. Wo ist Moa? Ich muss die Tagesstätte anrufen und hören, dass sie dort ist. Dass mit ihr alles in Ordnung ist. Bitte. Ich muss wissen, wo Moa ist.«

Kristoffer reichte ihr das Handy, doch nachdem sie die Nummer gewählt hatte und durchgekommen war, konnte sie nicht mehr reden. Die Tränen flossen. Kristoffer übernahm das Gespräch und erklärte ganz kurz die Situation. Dann wandte er sich Sara zu.

»Moa ist in der Tagesstätte, und alles ist ruhig. Sie wissen, dass Antonia sie heute abholt.«

»Die dürfen Moa nicht aus den Augen lassen, es muss immer ein Erwachsener bei ihr sein. Das müssen sie versprechen!«

Nachdem Gunillas lebloser Körper herausgetragen worden war, stand Sara in der Tür und sah den Sanitätern nach, wie sie die Treppen zur wartenden Ambulanz hinuntergingen. Um einen letzten Blick auf die Trage werfen zu können, beugte sie sich über das Treppengeländer. Ganz unten hatte Frideborg Svärd die Tür geöffnet und schaute heraus.

»Verdammte sensationslüsterne Alte!«, schrie Sara so laut, dass es im Treppenhaus widerhallte und die Wohnungstür der alten Nachbarin sofort mit einem Knall zuflog. »Verdammte, neugierige, widerliche Person!« Sofort bereute Sara ihren Ausbruch und zitterte. Es war, als hätte sich alle Wut und alle Frustration mit einem Mal Bahn gebrochen. Sie ging zurück in die Wohnung, um alles Weitere vom Küchenfenster aus zu verfolgen, und da erblickte sie die verfluchten Buchstaben, die noch niemand weggewischt hatte.

Langsam und ohne Blaulicht verließ der Krankenwagen den Parkplatz an der Ekersgatan. Da unten kam jemand, ein junger, hochgewachsener Mann mit rabenschwarzem Haar. Er warf die Haare zurück und sah zu ihr hinauf.

Hinter sich hörte sie Kristoffer Barks Stimme. »Das ist Alex. Er bringt einen Notrufknopf für dich mit. Geht das? Schaffst du das, oder sollen wir warten?«

Sara konnte nicht antworten, da klingelte es schon an der Tür.

»Was machst du denn hier?«, sagte Alex erstaunt zu Bark.

Als sie sich um den Küchentisch gesetzt hatten, erklärte Kristoffer den Ernst der Lage.

Sara holte Küchenpapier und schnäuzte sich. Ihre Stimme war belegt. »Ich wage nicht, noch länger hierzubleiben.«

Alex wurde aufmerksam. »Das Frauenhaus. Mama arbeitet für die. Sie kann vielleicht arrangieren, dass du und Moa …«

»Moa hat es bei Antonia und Wilhelm besser. Die kennt sie gut und ist bei ihnen geborgen. Ich schaffe es gerade nicht, mich um sie zu kümmern, da ich es ja nicht mal fertigbringe, für mich selbst zu sorgen. Es ist furchtbar, aber so ist es.« Sara räusperte sich, als die Stimme versagte. »Ich wage nicht, in meiner eigenen Wohnung zu bleiben, deshalb klingt es nach einer guten Idee, Hilfe vom Frauenhaus zu bekommen. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich Menschen um mich habe. Aber Moa soll Angst und Flucht nicht erleben müssen, es ist besser, wenn sie wie gewöhnlich in die Tagesstätte gehen kann. Ich muss abwägen, was für sie am besten ist.«

Alex nahm Kontakt zu seiner Mutter, Mia Berger, auf, und nachdem er den Notrufknopf dagelassen hatte, ging er wieder.

Eine halbe Stunde später kam Mia zur Ekersgatan. Nun setzte sie sich zusammen mit Sara und Kristoffer an den Küchentisch, um zu beraten. Sara mochte sie. Ihre ruhige Art strahlte warmes Wohlwollen aus. Man konnte ihr sofort vertrauen.

»Es gibt an einem geheimen Ort einen freien Platz, wo Sie sich sicher fühlen können«, erklärte Mia.

»Und wo?«, fragte Sara. Das klang schicksalhaft.

»Das werden nur Sie und ich wissen, und eine Person bei der Polizei, wenn das für Sie in Ordnung ist. Ihr Aufenthaltsort wird in keinem Register stehen. Ich werde Kontakt zu Wilhelm und Antonia und der Tagesstätte aufnehmen, damit die wissen, dass Sie in Sicherheit sind. Was meinen Sie, wie klingt das?«

»Drastisch. Sicherlich gibt es andere, deren Schutzbedürfnis größer ist. Aber trotzdem. Ich habe so schreckliche Angst, weil ich nicht weiß, ob Mama nicht auch getötet wurde. Ich kann nicht allein sein.«