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Sara betrat das Restaurant Parken, schaute sich um und entdeckte sofort den kräftigen Schädel von Ulf und den tätowierten Nacken. Er wartete an einem der Tische auf sie und hatte schon für sie beide eine Tasse Kaffee bestellt. Als er Sara entdeckte, stand er schnell auf, als wollte er sie umarmen, ließ aber die Arme wieder sinken, als er ihre abwartende Haltung bemerkte. Etwas peinlich berührt wischte er mit der Hand über den Tisch, ehe er sich wieder setzte.

»Setz dich. Wie möchtest du deinen Kaffee? Ich hole gerne Milch und Zucker, wenn …«

»Schwarz!« Sara ließ sich nieder und spürte ihren Puls nach dem ungewohnt schnellen Spaziergang heftig pochen. Sie war erschöpft und so unglaublich müde. Mit beiden Händen umfasste sie den Becher und trank einen großen Schluck Kaffee.

»Wie ist es? Wie geht es dir, nach alldem, was passiert ist?«, fragte Ulf mit freundlicher Stimme, und es klang tatsächlich ehrlich. Auch wenn er um Entschuldigung gebeten hatte und auch wenn ein Teil seiner damaligen Schweinereien auf einem Missverständnis beruht hatte, waren sie doch noch lange keine Freunde.

»Ich will Fakten. Was hast du herausgefunden?«

Er warf ihr einen unergründlichen Blick zu und zögerte mit der Antwort. Sie hob den Kaffeebecher wie einen Schild vor sich, und mit gesenktem Blick sog sie das wärmende Getränk in sich hinein.

»Ich verstehe, wenn es dir schwerfällt, mir zu vertrauen, und wie gesagt tut es mir ungeheuer leid, was damals passiert ist. Aber das hier konnte nicht warten, ich musste mit dir direkt sprechen.« Ulf schaute sich um und senkte die Stimme. »In dem Brief, den du von Josef bekommen hast, hat er dich gewarnt, dass jemand in deiner Nähe dir Böses will. Hast du selbst irgendwelche Ideen, wer das sein könnte?«

Einen verwirrten Moment lang fragte sie sich, woher Ulf wusste, was in dem Brief stand. Dann dachte sie über seine Frage nach, die wie eine Bestätigung von Josefs Worten war. Ulf wusste etwas, aber er schlich wie die Katze um den heißen Brei, um sie nicht zu erschrecken. »Ich habe keine Kraft für Ratespiele. Sag es einfach!« Das klang härter, als sie beabsichtigt hatte, aber sie musste es erfahren, sie musste diese Sache hinter sich bringen, damit sie zu Moa zurückfahren und sich ausruhen konnte. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an und die Gedanken betäubt.

»Ich habe alle wachen Stunden des Tages darauf verwandt rauszukriegen, wer deinen Mann und Lisa ermordet hat. Wir glaubten, es wären Carola oder Per-Gunnar Dorteus – gemeinsam oder jeder für sich. Dass sie sich der Anstiftung zum Mord schuldig gemacht hätten, weil Josef vorhatte, sie anzuzeigen, und weil Lisa ihnen auf der Spur war. Die Dorteus werden wegen Wirtschaftsverbrechen ins Gefängnis kommen. Aber meiner Meinung nach sind sie nicht die Täter. Ich glaube, das Motiv ist ein ganz anderes.«

Sara merkte, wie ihr die Augen zufielen, und sie setzte sich aufrecht hin. Nahm einen großen Schluck Kaffee und versuchte, sich zusammenzureißen.

»Hörst du mir zu?« Ulf bohrte seinen Blick in ihren, und sein Gesicht kam ganz nah. Der Geruch von seinem Rasierwasser … war ein Duft, den sie erkannte … ein Duft vom Schlafzimmer … die Nacht, in der Josef ermordet worden war. »Ich habe Nachforschungen angestellt, und ich verstehe, wenn das hier für dich schwer zu verkraften ist, weil du sicher eine andere Version präsentiert bekommen hast. Antonia ist in verschiedenen Waisenhäusern aufgewachsen. Ihre Mutter ist gestorben, als sie fünf Jahre alt war. Der Vater war drogenabhängig. Antonia selbst war Prostituierte. Während der Zeit hatte sie wiederkehrende Infektionen, die am Ende dazu führten, dass sie keine Kinder bekommen kann.«

»Woher weißt du das?«, fragte Sara und vergaß im selben Moment schon, worüber sie sprachen.

»Ich habe mit ihrer Schwester gesprochen.«

»Sie hat eine Schwester?« Sara war ganz sicher, dass das nicht stimmte.

»Ich nehme mal an, dass sie das nicht erzählt hat. Die beiden haben keinen Kontakt. Leben in völlig unterschiedlichen Welten. Antonia ist es gelungen weiterzukommen. Das letzte Pflegeheim war gut, und sie hat die Schule geschafft, sich zu einem respektablen Beruf hochgearbeitet, und jetzt will sie mit ihrer Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Aber ich glaube, dass die traumatischen Erlebnisse, die sie hatte, sie eingeholt haben. Sie hat ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit. Antonia versucht, dein Kind zu stehlen. Sie versucht, dir Moa wegzunehmen.«

»Mir weg?«, echote Sara, ohne den Inhalt der Worte zu verstehen, die im Raum herumtanzten und wie große Seifenblasen aufstiegen, ehe sie platzten.

»Ja. Ich weiß nicht, ob Wilhelm dabei ist oder ob er gar nichts von allem weiß. Je länger du krank bist und dich nicht um dein Kind kümmern kannst, desto größer ist die Gefahr, dass Antonia das Sorgerecht bekommt. Dadurch, dass Moa bei ihnen wohnt, wird ihr Zuhause bald als ihre gewohnte Umgebung betrachtet werden. Antonia hat alle Personen aus dem Weg geräumt, die deine Unterstützung waren. Kannst du das Muster jetzt erkennen? Verstehst du, was ich meine?«

»Das Muster?« Sara betrachtete seinen Adamsapfel, der während er sprach auf und nieder hüpfte – er erinnerte an diesen jodelnden Zwerg in Disneys Schneewittchen. Das sah witzig aus. Mit einem Mal musste sie kichern und fühlte sich leicht ums Herz und gleichzeitig so schrecklich müde.

»Warum lachst du? Hörst du überhaupt zu, was ich sage?«

»Ja, ich versuche es.« Sie öffnete mit aller Kraft die Augen und starrte ihn an.

»Sie wollen dir Moa wegnehmen! Wie geht es dir eigentlich? Sara, hörst du mich? Was ist los?«

»Moa. Moooa.« Sara versuchte zu artikulieren, aber die Worte wurden nur ein Lallen. Der Raum schaukelte, und plötzlich lag sie auf dem Boden, ohne zu verstehen, wie das passiert war. Sie hörte Stimmen, konnte sich aber nicht rühren.

Durch einen verschwommenen Nebel sah sie, wie eine Frau kam und sich neben sie hockte. »Ist sie in Ohnmacht gefallen? Soll ich 112 rufen?«

»Nein, sie hat nur etwas niedrigen Blutdruck.«

»Dann hole ich vielleicht ein Glas Wasser, oder?«

»Danke, gern.«

»Ich bin so … müde.« Sara spähte zwischen den schweren Lidern hindurch. Ulfs Gesicht war jetzt ganz nah bei ihrem. Der Geruch, dieser seltsame Geruch trug eine Botschaft, aber sie vermochte sie nicht zu entschlüsseln. Wollte er sie küssen oder sie bei lebendigem Leib fressen wie ein Raubtier? Nein, er sah nur besorgt aus. Er schob ihre Lider hoch, erst das eine, dann das andere.

»Sara, hast du Beruhigungsmittel genommen? Oder Morphium? Deine Pupillen sind ganz klein, und du lallst.«

»Nein.« Sie hoffte, dass er verstand, was sie sagte.

»Hast du etwas getrunken, als du bei Antonia warst? Kann sie dir eine Droge eingeflößt haben? Hörst du, was ich sage, Sara?«

Sara nickte. Es war unmöglich, mit Worten zu antworten.

Er legte den Arm um ihren Rücken und packte ihre Taille, um ihr aufzuhelfen. »Mein Auto steht auf dem Parkplatz. Was meinst du, schaffst du es, zwanzig Meter zu gehen?«

»Wohin?«, lallte sie.

»Wir müssen ins Krankenhaus. Und dann, wenn es dir besser geht, bringe ich dich zurück in das Frauenhaus. Findest du dorthin?«

Es gelang Sara, sich hochzurappeln und ein paar stolpernde Schritte zu machen. »Nein, Mia findet es.«

»Mia Berger, die Psychologin?«

»Ja.« Sara wusste, dass da etwas Großes und Wichtiges war, das sie nicht vergessen durfte. Moa! Moa war noch bei Antonia. Irgendetwas stimmte da nicht. Da sollte sie nicht sein! »Wir müssen Moa holen.« Sara begann zu weinen. Rotz und Tränen liefen nur so. Auf dem Weg zum Parkplatz begegneten ihnen Menschen. Gesichter mit und ohne Körper tauchten auf und verschwanden. »Wir müssen Moa holen! Du musst mir helfen. Moa hat Fieber.« Sara war nicht sicher, ob er hören konnte, was sie sagte, es fühlte sich an, als würden die Worte auf dem Weg raus in einer Wolke aus dämpfender Baumwolle hängen bleiben.

Ulfs Gesicht kam wieder nahe. »Ich werde tun, was ich kann.« Sie waren jetzt am Auto, und er half ihr auf den Beifahrersitz und schnallte sie an.

Dann knallte er die Tür zu, und einen Moment lang wurde es still. Sie schloss die Augen und hörte, wie die Fahrertür geöffnet wurde, verspürte ein Streicheln auf ihrer Wange, ehe das Auto gestartet wurde und losfuhr.