Es war Mittwochnachmittag, und Kristoffer Bark hatte zu einer Besprechung ins Turmzimmer gerufen, um die Gruppe über den Fund der Mordwaffe, die Spuren von Lisa Wadenbergs Blut trug, zu informieren. Ingrid war zu spät, und Bark war schon halb fertig, als sie ins Zimmer kam und mit der Hand auf einer Stuhllehne stehen blieb, während er seine Ausführungen abschloss.
»Das Brenneisen, das von dem Besitzer der Destillerie als gestohlen gemeldet wurde, hat jemand in einen Schirmständer an der Rezeption des Hotels geschoben. Ein eiskalter oder dummdreister Zug – was davon, kann ich nicht sagen. Es gibt keine Fingerabdrücke.«
Ingrid hob die Hand, um das Wort zu bekommen. »Sara hat ihr Versteck im Tivedsskogen verlassen. Sowohl gegen meinen als auch gegen Mia Bergers Rat ist sie weggefahren. Mia hat sie mit in die Stadt genommen, damit sie ihre Tochter besuchen könnte, die krank geworden war. Offensichtlich war Sara leicht hysterisch, als sie von der Erkrankung erfuhr, und Mia konnte sie nicht hindern. Ich habe soeben mit Antonia gesprochen. Sie sagt, Sara wäre vor ein paar Stunden dort gewesen. Dann hätte sie einen Anruf bekommen und sei weggegangen. Im Moment weiß niemand, wo Sara sich befindet, obwohl sie versprochen hat, sich immer zu melden, wenn sie woanders hingeht. Ihr Handy ist ausgeschaltet. Ich habe den Netzanbieter gebeten herauszufinden, von welcher Nummer Sara angerufen wurde und ob sie etwas über die Position sagen können. Aber das wird natürlich eine Weile dauern, bis wir diese Informationen bekommen.«
»Und Moa?«, fragte Bark.
»Moa ist noch bei Antonia.«
»Was könnte wichtiger für Sara sein, als bei ihrem Kind zu bleiben?«, fragte Henrik. »Ich meine, sie hat ihren geschützten Ort verlassen, weil sie sich Sorgen um Moa machte, und dann stürzt sie nach einem Anruf eilig davon. Worum kann es da gegangen sein?«
Bark antwortete, ohne lange nachzudenken. »Es muss um eine Lösung der Situation gegangen sein. Was Sara sich im Moment am meisten wünscht, ist, nicht mehr in Gefahr zu sein und ihre Tochter nach Hause mitnehmen zu können. Könnte jemand vom Jugendamt angerufen und eine sofortige Besprechung verlangt haben? Oder die Krankenkasse?« Er hoffte es, denn die Alternative, die in seinem Kopf auftauchte, war so viel schlimmer.
Ingrid fasste seine Gedanken in Worte. »Könnte der Mörder Sara angerufen und ein Treffen mit ihr vereinbart haben?«
Bark sank auf einen Stuhl an dem ovalen Tisch und schob den Becher mit inzwischen kaltem Kaffee von sich. »Sie ist jetzt zwei Stunden verschwunden. Aber weil sie weiß, dass sie sich immer melden muss, und das nicht getan hat, betrachte ich es als bedrohliche Situation. Wir schreiben sie zur Fahndung aus. Jetzt! Ich spreche sofort mit Gaby.«
Er lief die Treppe runter und in das Zimmer der Staatsanwältin. Gaby Wide saß halb abgewandt im Sessel, das Handy ans Ohr gedrückt. Wahrscheinlich telefonierte sie mit einem ihrer Teenagersöhne. »Ich will nicht, dass das Haus wie ein Schweinestall aussieht, wenn ich heute Abend nach Hause komme. Du bist mit Spülen dran, und dann spülst du auch. Und natürlich benutzt du die Spülbürste. Wie schwer kann das denn sein? Was heißt hier, keine Zeit? Du hast alle Zeit der Welt! Deine Vergnügungen haben keinen Vorrang vor meiner Arbeitszeit.«
Gaby hatte ihn noch nicht bemerkt. Aus dem Winkel, aus dem Kristoffer sie betrachtete, bemerkte er ihren sich wölbenden Bauch. Er hatte ja gedacht, sie hätte etwas zugelegt, aber war das hier nur eine gewöhnliche Gewichtszunahme? Oder war sie … Ihm wurde schwindlig, als er nachrechnete, wie lange es her war, dass er zufällig in ihrem Bett gelandet war. Erschöpft, betrunken und wehrlos. Ein einziges Mal war es passiert. Könnte es sein? War das sein Kind, das sie da austrug?
»Kristoffer!« Gaby sah erstaunt auf, und dann breitete sich ein Lächeln über ihrem Gesicht aus. Sie stand auf und hielt sich das Jackett zu. »Was ist denn? Ist etwas passiert?«
Er hatte weiche Knie, zwang den Blick von ihrem Bauch weg und schaute in die fröhlichen, halbmondförmigen blauen Augen. »Wir müssen Sara Bredow suchen lassen.« Das war jetzt das Wichtigste. Über das andere mussten sie später unter ruhigeren Bedingungen sprechen. Er erklärte die Situation in kurzen Worten, und Gaby begriff sofort den Ernst der Lage.
»Okay! Ich kümmere mich darum. Hast du irgendwelche Ideen dazu?«
»Viele. Ist Moa da sicher, wo sie sich befindet? Ich werde sofort zu Antonia fahren, um zu hören, was sie über den Anruf weiß, den Sara erhalten hat.«
»Antonia und Wilhelm sind noch nicht aus der Ermittlung raus. Sie können schuldig sein.«
»Mein Gefühl sagt etwas anderes.«
»Polizisten sollen nicht nach Gefühlen gehen, sondern sich an Fakten halten.« Gaby sah ihn stur an, und er wusste plötzlich nicht, ob er das, was sie sagte, persönlich nehmen sollte.
»Wir müssen reden, du und ich«, sagte er. »Aber nicht jetzt.«
Gaby sah aus, als würde sie ein bisschen die Fassung verlieren, und blinzelte heftig. »Das müssen wir, Kristoffer«, erwiderte sie und wandte ihm den Rücken zu. »Wenn das hier vorbei ist, müssen wir reden.«
Draußen vor Gabys Zimmer wartete Alex auf ihn. »Jetzt hau nicht alleine ab, Bark. Wir sind ein Team. Wohin fahren wir?«
»Ich bin auf dem Weg zu Antonia Bredow in Adolfsberg.« Er startete durch den Korridor, und Alex versuchte, mit ihm Schritt zu halten.
Sie verließen das Polizeihaus und eilten zu dem Parkplatz beim Bahnhof, wo Bark seinen Toyota stehen hatte. In dem Moment, als er das Auto aufschloss, rief Ingrid an. Kristoffer ging schnell ran, und sie kam sofort zur Sache.
»Wir haben einen Bericht von der Gerichtsmedizin bekommen. Es ist jetzt ganz sicher, dass Saras Mutter Gunilla an einem Herzinfarkt starb. Es gibt bisher keinen Verdacht auf ein Verbrechen, aber natürlich warten wir auf die Ergebnisse der Proben. Im besten Fall kommen die im Laufe des heutigen Tages.«
»Okay«, sagte Bark. Er beendete das Gespräch und sprang ins Auto. Alex setzte sich auf den Beifahrersitz.
Ein paar Minuten später waren sie in Adolfsberg. Das Ehepaar Bredow wohnte in einem großen Einfamilienhaus am Rand des Viertels. Antonia begrüßte sie auf der Treppe. Sie hatte rote Wangen und wischte sich die Hände an einer mehligen Schürze ab, ehe sie ihnen die Hand gab. Das lange blonde Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel.
»Moa und ich backen Zimtschnecken.«
»Ist Wilhelm zu Hause?«, fragte Bark, obwohl er bemerkt hatte, dass das Auto fehlte.
»Nein, er ist im Büro und hilft Ihren Kollegen vom Wirtschaftsdezernat, Informationen zu finden. Ich hoffe, dass dieser Albtraum bald vorüber ist. Dorteus Bygg war der größte Kunde der Firma. Nach diesen Enthüllungen bleibt Wilhelm nichts anderes übrig, als das Unternehmen aufzugeben. Er sieht sich jetzt nach einem neuen Job um.«
»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«, fragte Bark und sah sich im Erdgeschoss um. Moa hatte schon keine Lust mehr zu backen und legte auf dem Fußboden des an die Küche angrenzenden Raumes ein Puzzle. »Alex kann sich ja vielleicht um das Mädchen kümmern.«
»Ich hole nur eben das letzte Blech aus dem Ofen.« Antonia steckte schnell den Kopf durch die Tür und sagte zu Moa: »Die Mama spricht noch kurz mit der Polizei, und ich möchte, dass du in der Zeit in deinem Zimmer bleibst. Okay?«
»Haben Sie Mama gesagt?«, fragte Alex erstaunt.
Antonia sah ertappt aus. »Moa nennt mich manchmal Mama. Also, ich bin ja ihre zusätzliche Mutter.«
Kristoffer notierte das im Geiste und wechselte einen Blick mit Alex. Antonia führte ihn ins Wohnzimmer, und sie ließen sich auf dem Sofa nieder.
»Wer hat Sara angerufen? Haben Sie eine Vorstellung davon?«
»Es war ein Mann. Er hat mit lauter Stimme gesprochen, etwas nasal. Sie sagte, es sei ein Kollege, also ein Polizist.«
Bark hielt inne. Ulf Gunnarsved. Das musste er gewesen sein.
»Ich habe nicht gehört, was er gesagt hat«, fuhr Antonia fort, »aber es schien wichtig, denn Sara hatte es eilig. Er wollte ihr mit irgendetwas helfen, so habe ich es jedenfalls aufgefasst. Sie haben sich verabredet, sie sollte zum Brunnsparken gehen, glaube ich, oder in das Restaurant dort.«
»Ich denke, Sie sollten die Tür gut abschließen. Und ich werde die Kollegen im Streifendienst bitten, sich in der Nähe zu halten. Wann kommt Wilhelm nach Hause?«
»Bald, hoffe ich.«
»Seien Sie vorsichtig, Antonia.« Ein Kollege mit der Stimme, dachte Bark. Da gab es nur einen. Er rief Ulf an, erreichte ihn aber weder auf dem Job-Handy noch auf dem privaten.
Kristoffer und Alex sprangen in den Toyota.
»Du hast was erfahren.« Alex sah ihn eifrig an.
»Kannst du bitte eine Telefonnummer für mich raussuchen? Ulf Gunnarsved hat in Skåne mit einer Frau zusammengewohnt. Ich brauche einen Namen, eine Adresse und die Telefonnummer von ihr.«
»Warum willst du seine Ex checken?«
»Er war es, der Sara angerufen hat«, erwiderte Bark und drückte aufs Gas Richtung Brunnsparken.
Wenige Minuten später hatte Alex gefunden, was er suchte. »Filippa Bure heißt sie. Im Moment sitzt sie im Knast in Ystad. Die Anstalt dort hat Sicherheitsstufe zwei. Sie ist wegen Besitz einer erheblichen Menge Drogen verurteilt worden. Ich habe die Telefonnummer, ich schicke sie dir per SMS .«
»Danke. Das ist interessant, wenn man an die Fentanyl-Pflaster denkt, an denen Josef gestorben ist.«
Sie hielten vor dem Restaurant Parken. »Weißt du, was für ein Auto Ulf hat?«, fragte Bark.
»Privat fährt er einen schwarzen Corolla, das 2016er-Modell. Aber er kann ja auch ein Auto aus der Zentrale genommen haben. Ich rufe da an und checke das.«
Während Alex anrief, schaute Bark über den wenig besuchten Parkplatz. Kein Corolla.
»Auch kein Auto ausgeliehen«, stellte Alex fest, als er das Gespräch beendet hatte.
»Wir gehen mal ins Restaurant und fragen, ob die hier Besuch gehabt haben.«
Nach einem kurzen Gespräch mit dem Personal stand fest, dass ein tätowierter Mann, der sehr gut auf die Beschreibung von Ulf passte, und eine schöne rothaarige Frau vor ungefähr zwei Stunden dort gewesen waren. Die Frau hatte sich seltsam benommen, als wäre sie betrunken oder stünde unter Drogen. Darüber war man sich einig.
»Sie konnte kaum auf den Beinen stehen«, sagte der Mann an der Kasse und schüttelte den Kopf.
»Was soll das hier?«, fragte Alex, als sie zum Parkplatz zurückgingen. »Teufel auch. Glaubst du, Ulf könnte sie unter Drogen gesetzt haben? Das kann ja wohl nicht sein. Er ist doch Polizist, verdammt noch mal.«
»Das war Polizeichef Lindberg auch, der damals wegen Vergewaltigung verurteilt wurde«, erwiderte Bark gedämpft. »Ich will alles über Ulf herausfinden. Er kommt aus Vallsta, wo auch Emelie Kartman aufwuchs. Er hat Sara früher schon mal belästigt. Er war nahe genug, um den Mord an Lisa zu begehen. Und sowieso war es sehr seltsam, dass er sich an dem Wochenende ausgerechnet in Hälsingland befand. Ulf könnte der Schuldige sein. Ich weiß, dass unsere Chefin Nein gesagt hat, und ich weiß auch, dass ich in Teufels Küche komme, wenn ich hier falschliege. Wenn du also abspringen willst, dann jetzt.«
»Zum Teufel, nein, ich bin dabei.« Alex warf die schwarze Haartolle nach hinten, und seine haselnussbraunen Augen, die so sehr an die von Mia erinnerten, leuchteten vor Begeisterung. »Wo jetzt hier endlich mal was passiert! Glaubst du, er will auch Sara ermorden?«