Als Sara aufwachte, lag sie in einem breiten Bett in einem dunklen Zimmer. Ihr Kopf war schwer wie Beton und dröhnte. Wo befand sie sich? Sie versuchte, die Flecken vor ihren Augen wegzublinzeln. Sie war allein in dem sparsam möblierten Zimmer. Ein Bett, ein kleiner Tisch mit einer Nachttischlampe und ein Schrank. Die Decke war niedrig. Keine Fenster. Die Wände waren aus Beton und die Tür aus Stahl. Es schien, als würde sie sich in einer Art Bunker befinden. Was war passiert? Ihr Kopf war vollkommen leer. Über der Tür sah sie in dem schwachen Licht etwas blinken – war das eine Kamera? Hatte jemand sie gefilmt? Auf zittrigen Beinen erhob sie sich und stolperte zur Tür. Sie drückte die Klinke herunter, und die Tür ging auf. Draußen gab es eine kleine Teeküche. Sie war also nicht gefangen in dem Zimmer. Das war eine Erleichterung.
Auf der anderen Seite der Küche ging eine Tür auf.
»Mama!« Moa kam zu ihr gelaufen und streckte die Arme nach ihr aus.
Sara nahm sie auf den Arm. »Meine Liebste. Ich bin hier.« Sie umarmte den kleinen Körper und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern. Wo befanden sie sich? Wie waren sie hierhergekommen?
Sie sah einen Schatten in der Türöffnung, dann zeigte sich Ulf Gunnarsved. Was machte er hier? Er lächelte sie an.
»Du bist ja wach, wie gut. Während du geschlafen hast, habe ich Moa geholt. Ich dachte, ihr würdet wohl zusammen sein wollen. Hier seid ihr sicher.«
Sara schluckte und umarmte die Tochter fester.
Kleine Erinnerungsfragmente kehrten zurück. Sie hatte ihn im Restaurant getroffen. Er hatte herausgefunden, wer die Morde begangen hatte.
»Antonia?«, fragte sie verwirrt. »Soll Antonia hinter alldem gesteckt haben?«
Ulf nickte. »Ich bin gerade dabei, Beweise dafür zu finden, dass Antonia deinen Mann, deine beste Freundin und deine Mutter getötet hat. Es würde mich nicht wundern, wenn du auch Fentanyl eingeflößt bekommen hättest. Das ist schwer zu dosieren, eine normale Dosis ist nicht größer als ein Salzkorn.«
Die Erinnerungen aus dem Restaurant kamen wieder, sie hatte sich müde und schwindlig gefühlt. War zusammengebrochen. Das Personal war gekommen, und Ulf hatte ihr aufgeholfen. Hatte sie Drogen bekommen? Konnte sie sich deshalb an nichts erinnern? Immer noch hielt sie Moa dicht an sich und sank mit ihr auf dem Arm auf den nächsten Stuhl. Moa umarmte sie ebenfalls fest. Die Tochter war nicht richtig sie selbst, fiel Sara auf. Sonst wollte sie doch niemals so lange und so fest umarmt werden. War ihr etwas geschehen? Und wo befanden sie sich eigentlich?
»Wenn Antonia Fentanyl zu Hause hat oder wenn sie noch das Handy hat, von dem der Anruf an Lisa getätigt wurde, dann werde ich das finden«, fuhr Ulf fort. »Ich werde mir etwas ausdenken. Du weißt, dass ich nicht lockerlasse, wenn ich mich mal festgebissen habe.«
Er lachte und nagelte sie mit einem langen Blick fest, der sie schaudern ließ. Und im selben Moment ging es ihr auf: Er war es. Sie vergrub das Gesicht in Moas Haaren, um sich nicht zu offenbaren. Wo sollte sie nur hin? Waren sie hier eingeschlossen? Gab es jemanden, der wusste, wo sie sich befanden? Und wie hatte er es nur geschafft, Moa hierher zu bekommen?
Sara lehnte sich zurück und hielt die Hände um Moas Gesicht, um ihr richtig in die Augen zu sehen. »Ist alles okay, mein Liebling?«, fragte sie. »Ist auf der Fahrt hierher alles gut gegangen?« Sie hielt die Luft an und bebte vor der Antwort.
Moa nickte, wirkte aber etwas abwesend, sie konnte den Blick nicht richtig festhalten. Hatte er auch sie mit Drogen betäubt? Sie musste sich auf die Lippe beißen, um sich zu beherrschen.
»Ulf, was ist mit Moa passiert?«
»Kein Problem. Sie hat ein Glas Orangensaft mit einem milden Beruhigungsmittel bekommen. Das ist alles. Und wie du sicherlich verstehen kannst, war das nur, damit sie während der Fahrt hierher keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.«
Moa legte den Kopf auf Saras Brust und begann zu schnuffeln, wie sie es immer im Schlaf tat. Sara strich ihr fürsorglich übers Haar. »Schlaf du nur, Liebling.« Sie wandte sich wieder zu Ulf. »Könntest du uns vielleicht zurück in das Haus im Wald fahren?«, fragte sie vorsichtig. Seiner Miene war anzusehen, dass die Frage ihn ärgerte.
»Ihr seid hier sicherer. Niemand weiß, wo ihr seid. In so einem Haus kann immer etwas durchsickern. Da genügt schon ein Wort nebenbei von einer der anderen Frauen, wenn sie das Haus verlassen. Du hast ja wohl Antonia nicht erzählt, wo dieses Frauenhaus liegt, oder?«
»Nein, das habe ich nicht. Aber wenn ich nur vor Antonia Angst haben muss, dann wäre es dort doch eigentlich sicher für uns …«
Er erhob die Stimme. »Ich glaube, dass sie und Wilhelm das hier zusammen betreiben. Sie wollen Moa haben, begreifst du das nicht? Sie würden dich töten, um das Sorgerecht zu bekommen. Dein Leben ist in Gefahr. Antonia hat dir die Drogen eingeflößt, sie ist verzweifelt.«
Sara hatte einen Kloß im Hals und bedeutete ihm, leise zu sein. »Moa könnte dich hören, sie versteht mehr, als du denkst.«
»Gut. Ich tue das hier für dich, geliebte Sara. Alles, was ich tue, ist zu deinem Besten.«
»Wie lange sollen wir hierbleiben?«
»Wir werden bald weiterreisen. Im Moment befinden wir uns in einem Schutzraum in der Garnisonsstadt. Hier werden sie allerdings bald suchen, wenn sie herausgefunden haben, dass du mit mir mitgefahren bist. Wahrscheinlich wird Antonia die Hilfsbereitschaft der Polizei ausnutzen, um Moa zurückzubekommen. Deshalb müssen wir jetzt besonders vorsichtig sein. Aber ich kenne einen Ort, an dem sie uns niemals finden werden.« Er sagte das in hartem Tonfall, während er sie unverwandt anstarrte.
»Ich hätte gerne Kleider und eine Zahnbürste und … Können wir nicht auf dem Weg bei meiner Wohnung vorbeifahren und das holen, was ich brauche? Das fände ich wirklich sehr schön.«
Ulf lachte. »Das Risiko wäre viel zu groß. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde mich um dich kümmern, dich vor allem Bösen verteidigen. Ich liebe dich, Sara. Ich habe dich immer geliebt. Und jetzt sind es endlich nur noch wir beide.«
Er kam auf sie zu und beugte sich vor, als wollte er ihr einen Kuss geben. Wieder versteckte sie das Gesicht in Moas Haaren und hoffte, die Tochter würde nicht aufwachen.
»Hör auf, Ulf«, flüsterte sie leise. »Ich habe meinen Mann geliebt, und ich will nicht, dass du mich so behandelst, als wären wir zusammen!«
Ulfs Gesicht war plötzlich wie versteinert vor Zorn. »Du hast Josef geliebt, sagst du? Ihn, der dich mit anderen betrogen hat, dessen Kriminalität dich deinen Job bei der Polizei hätte kosten können? Wann wirst du begreifen, dass ich der Einzige bin, der dich wirklich liebt? Ich tue alles für dich, Sara!« Er versuchte wieder, sie zu küssen, aber Sara wandte das Gesicht ab. Langsam begann sie zu begreifen, wie krank der Mann da vor ihr tatsächlich war, und die Erkenntnis erschreckte sie zu Tode.
Sie konnte kaum reagieren, da hatte er schon die Hand erhoben und sie ins Gesicht geschlagen. Es fühlte sich an, als würde ihr Kopf zerspringen. Moa wachte auf und begann laut zu schreien.
Ulfs Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Sieh zu, dass das Kind Ruhe gibt, sonst trenne ich euch und bringe sie selbst zum Schweigen.«