Kristoffer Bark stand in der Türöffnung und ließ den Blick über das Schlafzimmer von Ulf Gunnarsved wandern, das mit vergrößerten Bildern von Sara Bredow und Emelie Kartman förmlich tapeziert war. Dazu gab es eine Reihe säuberlich eingerahmter Schwarzweißfotos aus der Ermittlung: von der mit Nägeln durchbohrten Tonne, von der zugerichteten Leiche. Bark wandte den Kopf ab und entdeckte eine Schaufensterpuppe mit einer rotgelockten Perücke. Die Puppe war mit einem kornblumenblauen BH und passender Unterhose angezogen. Wahrscheinlich die verschwundene Unterwäsche von Sara, von der sie im Zusammenhang mit der Hausdurchsuchung gesprochen hatte. Hier war sie. Außerdem trug die Puppe Handschellen, Maulkorb und eine Augenbinde. Um den Hals hing ein Würgedraht.
Bark trat näher und erkannte, dass um den Hals der Puppe eine Halskette lag. Er schaltete die Taschenlampe seines Handys ein, und der Schmuck glitzerte im Licht. Der Moment gefror zu Eis. Er blickte auf Veras Halskette mit dem Bergkristall, die aus seiner eigenen Wohnung verschwunden war. Die Erkenntnis ließ ihn nach Luft ringen. Ulf musste dort gewesen sein. In seiner Wohnung herumgeschnüffelt haben, um eine Trophäe mitzunehmen. Wollte er ihn demütigen? Veras Halskette auf der Schaufensterpuppe zu platzieren war nichts anderes als eine Kränkung, denn das war die kostbarste Erinnerung an seine Tochter, die Kristoffer besaß. Vera hatte das Schmuckstück von ihm geschenkt bekommen und es bis zu ihrem Tod jeden Tag getragen.
»Das glaubst du doch echt nicht«, sagte Alex mit aufgerissenen Augen und ganz bleich im Gesicht. »Kuck mal hier.« Auf dem Boden neben der großen Puppe lag eine kleinere in Kindergröße. Die Perücke glich Moas Haaren. Auch die kleine Puppe trug eine Augenbinde. Er schüttelte den Kopf und machte einen Schritt auf Ulfs Bett zu. Darüber hing ein Pinnbrett mit Trophäen. Kristoffer erkannte, was er dort sah. Einer seiner Seidenschlipse, dessen Verschwinden er noch nicht einmal bemerkt hatte. Eine Rechnung, die er vermisst hatte, und einige Papiere aus der Ermittlung im Fall Emelie Kartman, Ausdrucke, die er mit nach Hause genommen hatte.
Auf einem kleinen Haken daneben hing ein in Plastik nachgegossener Schlüssel. Er betrachtete ihn und erkannte, dass es sich um eine Kopie seines Wohnungsschlüssels handelte. So war er also in die Wohnung gekommen. Ulf hatte Kristoffer als seinen Feind ausgemacht, und das nächtliche Eindringen, vielleicht sogar mehrmals, war eine Methode gewesen, Macht zu demonstrieren. Ulf Gunnarsved war ein richtig kranker Teufel.
»Ich habe einen 3-D-Drucker gefunden!«, rief Alex aus dem Arbeitszimmer. »Ulf konnte jeden beliebigen Schlüssel kopieren. Hat er nicht auch in Malmö mit Schließsystemen gearbeitet?«
Aus dem Treppenhaus waren Schritte zu hören. Sie eilten in die Diele und ließen einen Polizeikollegen und den Techniker Ali Kathami herein. Der Kollege berichtete, dass zwei weitere Streifenwagen vor Ort seien.
»Sara und das Mädchen sind nicht hier«, erklärte Bark. »Aber die Wohnung ist voller Beweismaterial. Unter anderem habe ich Sachen gefunden, die er mir gestohlen hat. Veras Halskette. Die will ich zurückhaben, wenn die Ermittlung vorbei ist.«
Ali zeigte mit einem bedauernden Gesichtsausdruck, dass er begriffen hatte.
»Ulf hat Sara und Moa in seiner Gewalt«, fuhr Bark fort, obwohl das eigentlich selbstverständlich war.
Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit verließ er die Wohnung und traf draußen am Auto auf Alex, der schon vorgegangen war.
»Gaby wird die Ermittlung leiten«, teilte Alex mit. »Ingrid hat Ulf mal gecheckt. Er besitzt keine Sommerhütte oder andere Immobilien. Hat abgesehen von einem Onkel keine weiteren Angehörigen. Seine Familie ist bei einem Autounfall gestorben, als er sieben Jahre alt war, und daraufhin ist er zu seinem Onkel gekommen, der im Sägewerk von Vallsta beschäftigt war. Als Ulf dreizehn Jahre alt war, ist er abgehauen und blieb fünf Jahre lang verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt, bis er als Achtzehnjähriger wieder in Örebro auftauchte. Er bekam Unterstützung vom Sozialamt, hat gelernt und die Schule mit anständigen Noten verlassen. Dann hat er sich auf der Polizeischule beworben und ist angenommen worden.«
»Und wo ist dieser Onkel jetzt? Ist das derselbe Mann, den Ulf in Hälsingland besucht hat?«
»Ingrid arbeitet daran, das rauszukriegen.« Alex tippte auf seinem Handy herum und las dann schweigend die Nachrichten, die gekommen waren. »Jetzt sind alle drei zur Fahndung ausgeschrieben, Sara, Moa und Ulf. In der nächsten Nachrichtensendung geht es raus.«
»Gut. Haben wir was von Henrik gehört?«
Alex sah aus, als wollte er zusammenbrechen. »Er ist zu Hause. Nisse hat Fieberkrämpfe bekommen, sodass Henrik nicht nach Ystad reisen konnte, aber er hat mit Filippa im Gefängnis telefoniert.«
»Hat das noch was ergeben? Hat sie irgendeine Ahnung, wohin Ulf die beiden verschleppt haben könnte?«
»Diese Misshandlung, von der Filippa dir erzählt hat, die hat in einem Schutzraum irgendwo in der Nähe von Örebro stattgefunden, wohin Ulf sie mit verbundenen Augen geführt hat. Während er sie geschlagen hat, nannte er sie mehrmals Sara.« Alex verzog sein Gesicht vor Abscheu. »Ich habe ein Foto von dieser Filippa im Netz gefunden. Sie und Sara sehen sich ziemlich ähnlich. Beide rothaarig und mit einem süßen Gesicht. Und ein Foto von Emelie habe ich auch. Sieh mal!« Alex zeigte ihm ein Bild im Handy. »Die sind sich alle ähnlich. Das ist ein bestimmter Frauentyp, den er sich aussucht. Ich habe alle Adressen rausgesucht, an denen Ulf gemeldet war. Das sind einige. Er scheint niemals lange irgendwo geblieben zu sein. Besonders interessant ist, dass er, als Emelie 2008 verschwand, in Lanna gewohnt hat. Dann hat er in Flemingsberg bei Stockholm gearbeitet, ist aber 2011 wieder zurückgekommen, am selben Tag, an dem Emelies Leiche gefunden wurde, und wie du weißt, war er dann ja Ermittler in der Gruppe, die sich mit dem Mord befasst hat.«
»Pfui Teufel!« Kristoffer Bark schauderte es bei dem, was er da hörte, aber er riss sich zusammen. »Ich bin überzeugt davon, dass Ulf Emelie ermordet hat«, sagte er mehr zu sich selbst. »Ich habe es geahnt, ich habe die ganze Zeit gespürt, dass mit ihm irgendwas nicht stimmt.«
Alex sah ihn an. »Ulf hat bei den Morden ermittelt, die er selbst begangen hat.«
»Ja!«, sagte Bark. »Und wahrscheinlich hat er sein Äußerstes getan, um die anderen in die Irre zu führen. Ingrid soll alle Strippen ziehen, um etwas über ihn rauszukriegen. Sie kennt doch überall Leute. Ich nehme an, dass wir auch noch mehr Beweise finden, wenn wir mal seinen Computer durchgehen.«
»Hölle!«, rief Alex.
Bark nickte. »Fang mal damit an herauszufinden, wo dieser Onkel wohnt.« Er stieg ins Auto, und Alex setzte sich neben ihn.
»Wohin fahren wir?«
»Zurück zum Polizeihaus und ins Turmzimmer. Wir müssen uns treffen und unsere klugen Köpfe zusammenstecken. Wie das alte chinesische Sprichwort so schön heißt: Es verzögert die Arbeit nicht, erst einmal die Axt zu schleifen .«
Als sie gerade vor dem Polizeihaus parkten, rief Gaby an. Sie hatte die Frau vorstellig werden lassen, die Ulf das Alibi für die Nacht, in der Josef in Nora ermordet worden war, gegeben hatte. Die Frau vom Bishops Arms. Sie hatte erst weiterhin behauptet, die Wahrheit gesagt zu haben, als sie aber den Ernst der Lage begriff, dann zugegeben, dass er sie sowohl bedroht als auch ihr Geld angeboten hatte. Geld, das sie dringend benötigte, um die Miete zu bezahlen, und von dem sie noch keinen Cent gesehen hatte. Ulf war mit ihr zusammen vom Bishops Arms nach Hause gegangen, sei aber nicht sonderlich betrunken gewesen, jedenfalls nicht so, dass er nicht noch mit dem Auto nach Nora hätte fahren können. Der Rausch, den Bark erlebt hatte, war also nur Theater gewesen. Ulf hatte die Wohnung der Frau bereits gegen elf Uhr am Abend verlassen.
Eine Viertelstunde später saßen sie um den Tisch im Turmzimmer versammelt. Ingrid, Regina Zimmermann, Gaby Wide, Alex und Bark.
»Stehen Antonia und Wilhelm unter Schutz?«, fragte Zimmermann.
»Ja, eine Streife ist dorthin beordert worden«, antwortete Gaby. »Haben wir abgesehen von den Adressen, an denen Ulf gemeldet war, noch mehr Orte, die wir durchsuchen sollten?« Sie wandte sich an Ingrid und Alex. »Was habt ihr rausbekommen?«
»Ich habe eine Liste der Adressen angelegt, an denen Ulf gewohnt hat«, antwortete Ingrid. »Er ist selten länger an einem Arbeitsplatz geblieben und ist immer im Streit gegangen.«
Alex unterbrach sie. »Ulfs Ex Filippa war sicher, dass der Schutzraum, wohin er sie verschleppt hat, sich in Örebro befand. In einem Keller. Sie hat gesagt, sie wären eine Treppe unter Erdgeschossniveau heruntergegangen.«
Ingrid sah ernst aus. »Ulf hat die letzten beiden Jahre in einer Firma in Malmö mit Schlössern und Sicherheitssystemen gearbeitet. Ich habe dort angerufen, und der Grund dafür, dass man ihn gekündigt hat, war, dass sie ihm nicht vertrauen konnten. Er habe seine Arbeitszeiten nicht eingehalten und sei manchmal mehrere Tage hintereinander ohne erkennbaren Grund verschwunden. Praktisch kann er also nach Örebro gefahren sein und sich Zugang zu allem Möglichen verschafft haben. Und vor Saras Fenster gestanden haben. Ich glaube, dass er sie und Moa an einem Ort gefangen hält, den er schon von früher her kennt, wo niemand wohnt oder arbeitet. Ein aufgegebenes Lager, ein Schutzraum oder der Keller eines leerstehenden Wohnhauses.«
Gaby lehnte sich zurück und legte die Hand auf den Bauch. »Ich habe die Einzelverbindungsnachweise zu dem Telefon beantragt, mit dem Ulf eingetragen ist.«
»Was wissen wir sonst noch über Ulf Gunnarsved?«, fragte Zimmermann, stand auf und begann, im Raum herumzuwandern. Kristoffer merkte, dass Alex drauf und dran war, ihr zu folgen, und warf ihm einen strengen Blick zu. Die lauten Absätze von Zimmermann waren schon Ablenkung genug.
Ingrid fuhr mit ihrem Bericht fort: »Ich habe mit Ulfs Nachbarn gesprochen, die ihn als höflich, freundlich und hilfsbereit schildern. Die Tante einer Freundin hat beim Sozialamt gearbeitet, als Ulf Gunnarsved als Achtzehnjähriger nach Örebro zurückkam. Sie ist inzwischen etwas dement und plaudert manchmal Sachen aus und hat erzählt, dass Ulf in den fünf Jahren, in denen er verschwunden war, Mitglied in einer Kriminellengang gewesen sei. Wie er es geschafft hat, nichts davon dem Psychologen erzählen zu müssen, als er die Ausbildung bei der Polizei gemacht hat, ist mir ein Rätsel. Aber er kam ursprünglich aus Hälsingland, und sein Onkel Åke Gunnarsved lebt noch und ist auf einen ererbten Hof in Tevsjö gezogen.«
»Hat Ulf irgendwelche Hausmeisteraufträge, bei denen ihm Schlüssel zugeteilt worden sein könnten?«, erkundigte sich Bark, der bisher schweigend dagesessen und zugehört hatte. »In seinem Wohnhaus ist er nicht der Hausmeister, da steht jemand anders auf dem Schild im Eingang. Aber könnte er das früher gewesen sein? Hat die Wohnungsvereinigung vielleicht einen Schutzraum oder etwas Vergleichbares?«
»Er ist innerhalb der Garnisonsstadt mehrmals umgezogen«, erklärte Ingrid. »In der Zeit, als er an der ersten Adresse gewohnt hat, hat er dort Geld für Hausmeisterdienste bezogen. Ich habe seinen Lohnbescheid von der Wohnungsvereinigung bekommen. Und noch eine wichtige Sache: Ich habe die Liste der Angestellten von Dorteus Bygg bekommen, und haltet euch fest! Ulf war 2006 ebenso wie Emelie Kartman dort angestellt. Und 2008 besaß er einen Kastenwagen, der groß genug war, um eine Tonne der Größe, wie sie aus dem Baggersee in Lanna gezogen wurde, zu transportieren.«
Bark erhob sich. »Wir brauchen eine Karte über die Garnisonsstadt, und zwar sofort!«