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Gegen zehn Uhr am Montagmorgen versammelten sich alle, die an der Ermittlung teilnahmen, im Turmzimmer. Kristoffer informierte sie über die Ereignisse des Wochenendes. »Ulf hat gestanden, und jetzt bleibt nur noch der Papierkram, was allerdings auch keine Kleinigkeit ist. Bei einem Durchgang durch Ulfs Wohnung, seinen Computer und seine Handys haben wir alles gefunden, was erforderlich ist, um ihn wegen Mordes an Emelie Kartman und ihrem Mann Peter, Josef Bredow und Lisa Wadenberg anzuklagen. Das Motiv zu den Morden war eine krankhafte Fixierung auf die beiden Frauen Emelie Kartman und später Sara Bredow. Er hat seine Handlungen sorgfältig mit einer Videokamera dokumentiert. Ulf kann seinen Anteil an dem, was geschehen ist, immer noch überhaupt nicht erkennen. Er ist der Meinung, getan zu haben, was getan werden musste, und behauptet, er habe keine andere Wahl gehabt. Natürlich wird er einer gerichtspsychiatrischen Untersuchung zugeführt werden.«

»Wenn er jemals zur Einsicht kommt, was er da getan hat, dann wird er sich wohl das Leben nehmen«, sagte Alex.

»Ist der Sohn von Emelie Kartman informiert worden?«, erkundigte sich Ingrid.

»Ja«, antwortete Kristoffer. »Ich habe Kim gestern angerufen und ihm die Situation so schonend wie möglich erklärt. Er war erleichtert, dass wir den Schuldigen festgenommen haben, trägt aber einen großen Hass in sich.«

»Kim Kartmans Rap Kleine Karin ist ganz oben auf YouTube«, berichtete Alex. »In der Einleitung erzählt er, dass es ein Protestsong ist. Ein Protest gegen Gewalt und Demütigung von Frauen, so wie es damals war, als das Volkslied geschrieben wurde, und so wie es heute noch aussieht. Das ist wirklich stark von ihm.«

Nach ein paar weiteren Stunden Besprechung, unter anderem über die Situation des Paares Dorteus, das auf ein Gerichtsverfahren wartete und um eine Verurteilung wegen Wirtschaftsverbrechen nicht herumkommen würde, beendeten sie die Konferenz.

Sobald er die Erlaubnis dazu bekam, besuchte Kristoffer Bark Sara und Moa im Krankenhaus. Der Stationsarzt teilte ihm mit, dass Sara eine gebrochene Rippe hatte, Verletzungen auf den Händen und zahlreiche Blutergüsse und Wunden. Moa war wegen Austrocknung und einer schweren Lungenentzündung in die Kinderklinik verlegt worden, doch schon nach den ersten Dosen Antibiotika hatte sie sich erholt und wollte nach Hause. Antonia und Wilhelm waren zu Besuch und wollten eben gehen, als Kristoffer das Krankenzimmer betrat.

Moa war eingeschlafen, und Sara saß mit einer gelben Landeskrankenhaus-Decke bis zum Kinn hochgezogen im Sessel neben ihrem Bett.

»Wie geht es euch?«, fragte er und reichte ihr eine Tüte Muffins aus Mathildas Konditorei.

»Ich bin so froh, dass wir leben, und ich sehne mich nach Hause. Antonia hat mich heute Morgen abgelöst, sodass ich nach Hause fahren, duschen und ein paar Stunden schlafen konnte.« Sara zeigte auf einen Stuhl am Fußende des Bettes. »Setz dich, Kristoffer.« Sie schloss die Augen, und er begriff, dass sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. »Ich weiß, dass Ulf als Täter überführt ist. Er hat Josef und Lisa getötet, aber Mama ist an einem Herzinfarkt gestorben. Die Gedanken drehen sich die ganze Zeit in meinem Kopf herum, und es fühlt sich an, als würde ich verrückt werden. Alles, was mir passiert ist, die verschwundenen Rechnungen, die Anzeigen beim Jugendamt, bei der Krankenkasse, die anonymen Anrufe nachts. Alles das, was mich krank gemacht hat, war von Ulf in Szene gesetzt worden, um mich zu brechen. Sogar die ärztliche Beurteilung an die Krankenkasse hatte er manipuliert. Hat er auch das zugegeben?«

Bark nickte. »Als wir erst einmal darauf gekommen waren, dass Ulf hinter allem steckte, haben wir ausreichende Beweise für alles gefunden. Du bist nicht dabei, wahnsinnig zu werden, Sara. Das ist alles wirklich geschehen. Er war bei dir zu Hause, und sogar in meiner Wohnung war er. Er hat sich 3-D-Schlüssel gemacht und ist überall hereingekommen.«

»Warum hat er mich so sehr gehasst?«

»Er war krankhaft besessen von dir und glaubte, das sei Liebe.«

Sara brach in Tränen aus und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich war so erschöpft, dass ich fast nicht mehr leben konnte. Ich hatte erwogen, mir das Leben zu nehmen. Es gab Momente, in denen ich wünschte, von allem wegsterben zu können, weil ich es nicht schaffte, eine gute Mutter zu sein. Ich weiß nicht, wann ich wieder arbeiten kann. Andererseits weiß ich auch nicht, woher ich Geld bekommen soll, weil die Krankenkasse meine Krankschreibung nicht akzeptiert hat.«

»In meiner Eigenschaft als dein Chef habe ich mit deiner Beraterin gesprochen. Sie hat jetzt die richtige Krankschreibung bekommen, ihre erste Beurteilung geändert und eine neue Entscheidung getroffen. Du kannst für die nächsten drei Monate mit Geld von der Versicherung rechnen, und dann lösen wir das Problem aktuell. Du gehörst zu meiner Gruppe, und du arbeitest ganz in deinem eigenen Takt, genau wie wir anderen im Turmzimmer.«

»Danke.« Sara lächelte ihn an, dann fielen ihr fast die Augen zu. »Ich muss darauf achten, dass ich mich ausruhe, wenn Moa auch schläft.«

»Ich verstehe«, erwiderte er, stand auf und drückte ihr noch einmal die Hand, ehe er hinaus in das Herbstwetter entschwand.

Er hatte sich mit Gaby Wide im Amano auf dem Stallbacken verabredet und nahm den 9er-Bus, der gerade in die Haltestelle einbog. Während der kurzen Fahrt wechselte er den Fokus und versuchte sich darauf vorzubereiten, was sie zu sagen hatte. War sie schwanger? War es sein Kind? Wenn Gaby mit seinem Kind schwanger war, dann würde er dazu stehen und so viel helfen, wie es eben ging. Er wollte nicht mit ihr und ihren anstrengenden Teenagerjungen zusammenleben, das stand fest. Er liebte sie nicht, aber er respektierte sie. Wenn er der Vater von Gabys Kind war, dann würde das die Sache zwischen ihm und Mia Berger höchstwahrscheinlich unmöglich machen. Doch gleichzeitig wäre es irgendwie auch unfassbar enttäuschend, wenn er nicht der Vater wäre. Er hatte sich schon Szenen ausgemalt, in denen er und der Junge im Schnee einen Iglu bauten. Wenn es nun ein Junge wurde und wenn sie überhaupt schwanger war, das musste man sehen. Kristoffer war unfähig, seine Gefühle zu ordnen.

Er stieg aus dem Bus und trotzte Wind und Regen für die fünf Minuten, die es dauerte, zum Stallbacken zu gehen. Als er durch die Tür des Restaurants kam, sah er, dass Gaby bereits dort saß. Sie nippte an einem Glas Wasser und lächelte ihn unsicher an, als sich ihre Blicke trafen. Er hängte seine Jacke auf und setzte sich. Die Hände zitterten leicht, als er die Karte entgegennahm, die sie ihm reichte. Ihre Wangen sahen rosig aus, und der Bauch wirkte jetzt, da sie anstelle des Jacketts, das ihre Formen verborgen hatte, einen roten Pullover trug, sehr umfangreich.

»Du bist spät. Ich habe schon bestellt.« Sie sah sich um, doch es war kein Kellner frei.

»Okay«, erwiderte er. »Du wolltest reden. Wo fangen wir an?«

Gaby blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. Normalerweise war sie nicht um Worte verlegen, aber jetzt suchte sie danach und sah ihn hilflos an. Diesen Gesichtsausdruck hatte er bei ihr noch nie gesehen.

»Ist das mein Kind?« Er sah auf ihren runden Bauch und wartete auf den Urteilsspruch.

»Ehrlich gesagt, Kristoffer, ich weiß es nicht. Mein Exmann und ich … wir waren zwei Tage bevor du und ich … Ich weiß es wirklich nicht. Es könnte seins sein oder auch deins.« Sie lächelte nervös. »Ich weiß ja nicht, was du darüber denkst.«

Kristoffer schluckte, sein Mund war vor Nervosität ganz ausgetrocknet. »Das kommt etwas plötzlich. Aber wenn das Kind meins ist, dann will ich Verantwortung übernehmen. Du hast ja wohl vor, die DNA zu checken, wenn er geboren ist, oder?«

»Ja, dann werden wir es erfahren. Und die Hebamme sagt übrigens, es ist ein Mädchen. Was ich dich fragen wollte, ist … ob du dir vorstellen kannst, auch wenn wir nicht wissen, wer der Vater ist, bei der Geburt dabei zu sein. Ich habe niemand anderen, den ich fragen kann, und ich möchte nicht allein sein.«

Kristoffer durchlebte einen schwindelerregenden Moment. »Ja, wenn du glaubst, dass ich in einer solchen Situation von irgendwelchem Nutzen sein kann.«

»Du warst doch schon mal dabei«, sagte sie lächelnd. »Ella hat mir erzählt, dass du ein Fels in der Brandung warst. Und wenn du nicht findest, dass es sich allzu komisch anfühlt, dann: Ja, du würdest wirklich von Nutzen sein.«

»Und deine Söhne und dein geschiedener Mann … was hast du denen gesagt?«

»Die Wahrheit. Dass ich noch nicht vorhabe zu verraten, wer nominiert ist.« Gaby kicherte verlegen.

Der Kellner kam vorbei und nahm Kristoffers Bestellung auf. »Kann ich vor dem Essen einen Whisky bekommen? Nehmen Sie den billigsten. Ich bin auf den Dusel aus, nicht auf das Geschmackserlebnis.«

»Und noch eine Sache«, sagte Gaby, als der Kellner sich wieder entfernt hatte. »Mia Berger hat sich bei dem entscheidenden Verhör mit Ulf ausgezeichnet geschlagen. Sie wird ein Gewinn für die Polizeiregion Bergslagen sein. Oder was meinst du?«

Kristoffer hoffte, dass er nicht so ertappt aussah, wie er sich fühlte. Diese Information hatte er noch nicht richtig verarbeitet. »Sie ist … kompetent!«, brachte er hervor und nahm dem Kellner den Whisky direkt aus der Hand.

»Das finde ich auch. Aber du wirst dich natürlich nach einer neuen Therapeutin umsehen müssen.«

»Ja, das werde ich wohl müssen.« Kristoffer sah auf die Uhr. Es war noch eine knappe Stunde bis zur letzten gebuchten Sitzung bei Mia Berger.

Das Essen kam. Er hatte Lammfilet gewählt, eins seiner Lieblingsgerichte, doch er brachte kaum einen Bissen herunter. Seine Gedanken fuhren Karussell. Gaby sprach weiter über das Kind, das sie erwartete, und ihm wurde klar, dass sie sich darauf freute. Er selbst musste die Information erst einmal verarbeiten und dann eine Analyse der Konsequenzen anstellen. Sollte er Elternzeit nehmen? Das hatte er seit fünfundzwanzig Jahren nicht getan, und da hatte er auch nur eine Papawoche gehabt. Und von fünf Tagen hatte er nur zwei nehmen können, weil sie, als Vera gerade geboren war, mitten in einer Mordermittlung steckten. In seiner Brieftasche trug er Veras Kette bei sich, die Ulf als Trophäe gestohlen hatte und die jetzt wieder bei ihm war. Es würde ein kleines Mädchen werden, und in diesem Moment hoffte er, dass er der Vater des Kindes war, auch wenn es ihm im nächsten Moment davor graute, was das bedeuten könnte.

Kristoffer umarmte Gaby kurz und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich wieder in den Regen und zu Mia Bergers Praxis begab. Zum letzten Mal. Er fragte sich, was sie wohl sagen würde. Wie ihr Abschied aussehen würde. In seiner Fantasie hatte er mit dem Gedanken gespielt, sie, wenn die Therapie vorbei war, zum Abendessen in die Freimaurerloge einzuladen. In das Restaurant, wo er sie zum allerersten Mal gesehen hatte, noch ehe er überhaupt wusste, wer sie war. Würde er das wagen, und wohin würde es dann führen? Nur ein paar Minuten blieben ihm, um eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen.