PROLOG:
LEBEN IM KLANG DER MUSIK
»Bäng! – It’s been a hard day’s night, and I’ve been working like a dog …« Genau dieser Song veränderte mein Leben von einem Tag auf den anderen – »A Hard Day’s Night« von den Beatles. Damals war ich zwölf Jahre alt, mitten in der Pubertät, und obwohl ich nur wenig Englisch verstand, sprach die Musik zu mir. Das war der Moment, in dem Klang für mich eine neue Bedeutung bekam und ich Musiker werden wollte.
Als ich dann begann, mir selbst das Gitarrespielen beizubringen, konnte ich mir schon bald nicht mehr vorstellen, wie mein Leben ohne Musik aussehen würde. Einen Plan hatte ich nicht, nur den Wunsch, immer besser darin zu werden und mit meinen Bands die Musik zu spielen, zu der ich mich hingezogen fühlte. Das gab meinem Leben Ordnung und Sinn.
Etwas später lernte ich am Robert-Schumann-Konservatorium in Düsseldorf das Handwerk eines Schlagzeugers, um im Orchester die Meisterwerke der klassischen Musik aufzuführen und sie lebendig werden zu lassen. Dabei begegneten mir außergewöhnliche Menschen. Ich hatte großartige Lehrer, von denen ich neben den handwerklichen und theoretischen Dingen auch die Hingabe zur Musik lernte. Nicht etwa durch lange Vorträge und Literaturhinweise, sondern dadurch, dass sie mich zum Beispiel unbürokratisch ins Orchester der Deutschen Oper am Rhein aufnahmen und mir ein Stück weit gestatteten, an ihrem Leben teilzunehmen.
In dieser Zeit begann ich, über Musik nachzudenken, und das ist bis heute so geblieben. Dieses Buch ist die Geschichte meines Lebens, es ist die Geschichte meiner Klangbiografie, und gerade deshalb ist es auch ein Buch über die Musik.
Durch einen Anruf bei meinem Lehrer am Konservatorium
landete ich – ohne dass ich es angestrebt hätte – in der Musikindustrie, die sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu einem Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft entwickelt hatte. Deshalb handelt dieses Buch auch von der Gruppe Kraftwerk und stellt unsere gemeinsame Musik in ihren zeitlichen Kontext.
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich in den Bann der elektronischen Musik geriet und wie ich ein Teil des sogenannten klassischen Line-up der Gruppe Kraftwerk wurde. Anfangs bestand mein Job darin, elektronisches Schlagzeug zu spielen. Offensichtlich waren meine Beiträge einigermaßen sinnvoll und führten dazu, dass ich ab dem Album Die Mensch-Maschine
bis zu meinem Abschied alle Kompositionen als Co-Autor mitgestaltete. Vor allem in diesem Zeitraum betrachtete ich mich als Mitglied der Band. Mein Beitrag, so dachte ich, ist nach innen und außen gut wahrnehmbar. Schließlich trug ich einiges an Leben und Musik ins Kling Klang Studio hinein. Als ob es gestern gewesen wäre, erinnere ich mich an unsere Writing Sessions und Soundrides und an das großartige Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, bei der das Ganze mehr war als die Summe seiner Teile. Mir kam es jedenfalls so vor.
Innovationen und musikalische Ideen fallen meistens nicht vom Himmel. Beim Lesen von Musiker-Biografien finde ich es immer interessant zu erfahren, was die Inspiration für das ein oder andere Musikstück war. Deshalb nehme ich Sie hier mit ins Innere des Kling Klang Studios, zeige Ihnen einige der Quellen unserer Ideen, stelle Zusammenhänge her und beschreibe, wie wir mit kompositorischem Handwerk, Hingabe, Emotion und ein wenig Verstand unsere Musik erfanden.
In fast sechzehn Jahren wirkte ich an sechs Alben der Gruppe mit. Hinzu kommt eine Maxi-Single, die ein Sportereignis in Frankreich thematisiert und die Basis für ein weiteres Album sein sollte. Gleichwohl wurde ich für die Öffentlichkeit erst in dem Moment sichtbar und hörbar, als ich die Gruppe verließ
.
Nach den Jahren im Kraftwerk-Kosmos musste ich zunächst mein Leben neu erfinden und der Frage nachgehen: Wie klingt eigentlich Karl Bartos? Auf diesem Weg hatte ich das große Glück, fantastischen Künstlern wie zum Beispiel Bernard Sumner, Johnny Marr oder Andy McCluskey zu begegnen und mit ihnen zu arbeiten.
Auch meine Zeit als Gastprofessor für Auditive Mediengestaltung im Master-Studiengang »Sound Studies« an der Universität der Künste Berlin hat mich in meiner Arbeit inspiriert und weitergeführt.
Natürlich konfrontierten mich Journalisten immer wieder mit meiner Vergangenheit. Allerdings waren die Ereignisse, die sich im Kling Klang Studio abgespielt haben, zu komplex, um sie in wenigen Worten erklären zu können. Ein Autobiografie-Schnellschuss in der Form einer frühen Bestandsaufnahme erschien mir dem Thema nicht angemessen zu sein. Ich wollte ein paar Schritte zurücktreten und das ganze Bild betrachten, um mir mit Abstand eine Meinung zu bilden. Irgendwann, sagte ich mir, würde ich mich der Sache ausführlich widmen.
Fast 30 Jahre nach meinem Abschied von Kraftwerk halte ich nun das fertige Manuskript – Der Klang der Maschine
– in meinen Händen. Zum Glück liegen weder unbezahlte Rechnungen in meiner Schublade, noch muss ich jemandem einen Gefallen tun oder habe mich aus irgendeinem Grund zum Schweigen verpflichtet. Nein, ich bin unabhängig und kann deshalb heute alles so erzählen, wie ich es erlebt habe. Vieles, was in diesen Jahren geschah, ist in Vergessenheit geraten oder wurde wegen der außergewöhnlichen Bedingungen, unter denen wir in unserer Musikgruppe arbeiteten, niemals bekannt. Deshalb berichte ich in diesem Buch über die Schöpfung unserer Musik, betrachte unser soziales Verhalten, lasse Sie, soweit es möglich ist, an unserer Kommunikation teilhaben und versuche darzustellen, wie sich die Dinge im Lauf der Zeit entwickelten. Wenn es mir gelingt,
der Musik von Kraftwerk auf diese Weise eine neue Perspektive zu geben, und ich Sie vielleicht sogar begeistern kann, ganz allgemein über das Wesen der Musik nachzudenken, habe ich mein Ziel erreicht. Ich würde mir das wünschen.
Seitdem ich den berühmten Eröffnungsakkord von »A Hard Day’s Night« gehört habe, lebe ich im Klang der Musik. Das Rätselhafte an Musik ist, dass sie für jeden von uns anders klingt und auch etwas anderes bedeutet: Für einige von uns ist sie göttlich, andere wollen mit ihr lediglich dem Alltag entfliehen. Manche weisen darauf hin, man könne etwas von ihr für das Leben lernen. Ich kenne jemanden, der nicht versteht, dass Menschen in Musik etwas anderes als Sound wahrnehmen, während Philosophen sie mit Begriffen wie Metaphysik und Psychologie definieren.
Als ich vor einigen Tagen aus einem Konzert kam, hörte ich in den Gesprächen um mich herum Adjektive wie »toll«, »großartig«, »sagenhaft« oder ähnlich bewundernde Äußerungen. Wie schwierig es scheinbar ist, über Musik etwas Verbindliches zu sagen, wird erkennbar, wenn man nachfragt, aus welchem Grund jemand diese oder jene Musik so außergewöhnlich findet.
Und doch – über Musik kann man sprechen – jedenfalls lohnt es sich, es zu versuchen. Sie lässt sich in Form der Notenschrift grafisch darstellen und studieren. Es ist auch kein Problem, ihr Frequenzspektrum dreidimensional abzubilden, um es in seinem Zeitverlauf zu analysieren. Und der Computer – die universellste Maschine unserer Zeit – ermöglicht eine sehr präzise Innenansicht musikalischer Inhalte in Form von Daten. Allerdings muss ich all jene enttäuschen, die annehmen, es sei möglich, auch nur annähernd zu erklären, was Musik wirklich ist. Dazu ist nur sie selbst in der Lage.
Karl Bartos, Hamburg, 31. Mai 2017