Er muss zum Schweigen gebracht werden

Am nächsten Morgen herrschte im Camp gedrückte Stimmung. Becky war noch immer nicht gefunden worden. Es gab bereits Pläne, den Zehnkampf abzubrechen. Einige besorgte Eltern hatten darauf bestanden, dass ihre Kinder sofort abreisten. Allerdings bewachte ein großes Polizeiaufgebot das Camp, sodass sich die Bewohner einigermaßen sicher fühlen konnten. Es war kaum zu erwarten, dass die Werwölfe erneut zuschlagen konnten.

Am Vormittag ging Mister Anderson vor dem Zelt der Wettkampfleitung nervös auf und ab. Lilo trat zu ihm und stellte ihm eine Frage, die ihr die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen war: „Mister Anderson, haben Sie eigentlich Feinde?“

Der Mann, der völlig grau im Gesicht war, runzelte erstaunt die Stirn. „Feinde? Nein, warum denn? Ich widme mein Leben dem Naturschutz. Das schafft viele Freunde … Aber warte, wenn ich es mir recht überlege, habe ich auch Feinde. Als ich die Ölförderanlagen schloss, gab es wütende Proteste. Ich musste den Arbeitern kündigen, denn in der Anlage sind jetzt nur noch meine Mitarbeiter tätig. Sie erforschen, wie wir die Schäden, die der Tier- und der Pflanzenwelt zugefügt worden sind, wieder reparieren können.“

„Das heißt, die Leute, die Sie auf die Straße gesetzt haben, sind sauer. Bestimmt ist es nicht einfach, in dieser Gegend neue Arbeit zu finden“, fasste Lilo zusammen. So etwas hatte sie sich schon gedacht.

Mister Anderson nickte. „Aber denkst du wirklich, einer von diesen Leuten hat den Werwolfspuk veranstaltet und meine Tochter entführt?“

„Vielleicht will jemand Sie zwingen, die Ölbohrungen fortzusetzen“, dachte Lilo laut.

„Nein, Kind, schlag dir das aus dem Kopf“, wiegelte Mister Anderson ab. „Diese Idee ist an den Haaren herbeigezogen!“

Axel war von den Ereignissen der vergangenen Nächte so erschöpft, dass er nicht aus dem Schlafsack kam. Die anderen ließen ihn schlafen.

Während Lilo mit Mister Anderson redete, streiften Poppi und Dominik durch das Lager. Verwundert stellten sie fest, dass das Camp wie ausgestorben war. Vom See her kam lautes Schreien.

„Ach so, es sind schon alle beim Schwimmen“, schloss Dominik. „Das Frühstück haben wir also verschlafen. Hoffentlich bekommen wir trotzdem noch was zu essen.“ Als sie beim Krankenzelt vorbeikamen, blieb Dominik stehen. „Poppi, wartest du einen Moment auf mich? Ich glaube, ich bekomme wieder Heuschnupfen. Vielleicht hat die Ärztin ein Mittel für mich.“

„Okay, aber beeil dich, ich hab Hunger“, drängelte Poppi.

Im Zelt war es heiß, stickig und still. Keiner da, dachte Dominik und wollte schon wieder gehen. Doch gerade als er sich zum Ausgang drehte, sagte eine Männerstimme: „Du meinst, wir sollen ihn endgültig zum Schweigen bringen?“

Dominik erstarrte.

Eine Frauenstimme antwortete erschreckend nah: „Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich fürchte, er weiß alles. Ich dachte, er hätte kapiert, dass er sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen soll. Die Begegnung nachts auf der Wiese hat ihm aber wohl nicht gereicht. Der Typ ist eigensinnig und wahrscheinlich nur auf die harte Tour zum Schweigen zu bringen.“

„Aber was sollen wir denn noch machen, damit er endlich die Klappe hält? Wir können ihn ja schließlich nicht umbringen“, sagte der Mann.

Die Frau lachte hart. „Glaub mir, als Ärztin hätte ich Mittel und Wege … Aber versuch erst mal, ihn so fertigzumachen, dass er nicht mehr wagt, seinen Mund aufzumachen. Vielleicht klappt es ja. Dann können wir ihn laufen lassen.“

Dominik spürte, wie die Gänsehaut seinen Rücken hochkroch. Gleichzeitig hörte er, dass hinter den Stellwänden jemand aufstand und sich in Bewegung setzte. Mit zwei schnellen, lautlosen Schritten verschwand Dominik hinter einem Garderobenständer, an dem zum Glück mehrere lange Arztkittel hingen.

Dr. Moss trat in den Vorraum und Ben Bennet kam ihr nach. Sie umarmten und küssten einander heftig. Danach verschwand der Sportler und die Ärztin ging in ihren Arbeitsbereich zurück.

Dominik hatte nicht einmal gewagt zu atmen.

Auf Zehenspitzen huschte er zum Ausgang und schlüpfte ins Freie. Am Ende der Zeltgasse entdeckte er Ben Bennet, der es sehr eilig zu haben schien. Poppi war nirgends zu sehen. Sie war nämlich ein Stück weitergeschlendert und hatte an einem kleinen Tümpel einen Waschbären entdeckt.

Dominik sah sie von Weitem, aber er konnte sich jetzt nicht um sie kümmern. Er musste dem Mann folgen, der etwas Entsetzliches vorhatte. Nahm Dominik die Verfolgung nicht sofort auf, würde Ben Bennet, schnell wie er war, schon verschwunden sein.