Sonst geschieht eine Katastrophe

Axel hielt den Atem an. Noch immer kauerte er vor der Tür des Büros und spähte durch das Schlüsselloch. Seine Freunde waren also wieder bei Bewusstsein und im Haus von Mister Anderson. War das gut oder war das schlecht? Waren sie in Sicherheit oder in Gefahr?

„Ist meine Tochter wieder da?“, fragte Bob Anderson durchs Telefon und bemühte sich hörbar, besonders ruhig und freundlich zu klingen. Gleichzeitig aber hielt er mit der Pistole die Leute in seinem Büro in Schach.

Lilo holte Becky ans Telefon. Ihr Vater weinte fast vor Freude: „Becky – ich komme gleich nach Hause. Jetzt ist alles gut. Ich liebe dich, mein Schatz.“ Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich den zehn Gestalten zu, die an die Wand gedrängt standen.

Es waren die Werwölfe, die bei Tageslicht nicht halb so gefährlich aussahen wie in der Nacht. Sie hatten alle die Pranken erhoben und starrten auf die Waffe des Mannes.

Bob Anderson ging langsam auf die Wolfsmenschen zu und begann plötzlich mit wütenden Handbewegungen eine Maske nach der anderen herunterzureißen. Er schleuderte sie auf den Boden und trampelte darauf herum. Er schrie und tobte und fuchtelte wild mit der Pistole.

Unter den Masken waren die ernsten, dunklen Gesichter der Indianer zum Vorschein gekommen.

Es waren dieselben, die in der Goldgräberstadt ihren Totempfahl verbrannt hatten.

„Bob, bitte! Bitte versuch einmal in deinem Leben nicht nur an dich zu denken!“, flehte Simon.

Sein Bruder geriet über diesen Satz so sehr in Wut, dass er einen Schuss vor Simons Schuhe abfeuerte.

Erschrocken presste sich Simon gegen die Wand.

„Schlau hast du dir das alles ausgedacht, Brüderchen. Sehr schlau, aber nicht schlau genug. Weiß sonst noch jemand von deinem Plan, außer deinen Rothaut-Freunden?“, schäumte Beckys Vater.

Simons massiger Körper bebte heftig. „Nenn sie nicht Rothaut, Bob!“, zischte er.

Die Antwort war ein zweiter Schuss, der ihn an den Zehen traf. Simon verzog schmerzerfüllt das Gesicht und sank zu Boden.

„Weiß sonst noch jemand von deinem Plan, außer deinen Rothaut-Freunden?“, wiederholte Bob Anderson und wischte sich die Haare hektisch aus dem Gesicht.

„Nein … niemand!“, quetschte Simon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Gut! So soll es auch bleiben. Ihr wollt rauskriegen, was ich hier mache, nicht wahr? Dazu hast du mir dieses Werwolf-Theater vorgespielt, oder, Simon?“

„Ja!“, keuchte Simon.

„Dann werde ich es euch zeigen und wir können darüber reden. Ich bin dazu bereit.“

In Simons Gesicht flackerte so etwas wie Erstaunen und Hoffnung auf. „Wirklich?“

Bob Anderson nickte und fragte: „Wie habt ihr eigentlich bemerkt, dass ich Meerwasser durch die Pipeline hier heraufgepumpt habe?“

Simon antwortete: „Als plötzlich massenhaft Fische gestorben sind. Die Pipeline ist schlecht gebaut und leck, wie du weißt. Das Meerwasser hat die Ölreste aus der Pipeline ausgespült und das Öl ist durch die Löcher ausgetreten. Es hat kleine Seen, die sich in der Nähe der Pipeline befinden, vergiftet. Das ist keinem aufgefallen in dieser Wildnis, außer den Indianern. Sie haben auch bald den Grund für die vergifteten Fische, Waschbären und Vögel herausgefunden. Es war deine Pipeline“, wiederholte Simon anklagend.

„Ja, ja, ich weiß“, sagte Mister Anderson ungeduldig, „deine Naturschützer-Freunde sind ja zu mir gekommen und wollten wissen, was ich vorhabe.“

„Ja, aber du hast behauptet, dass die Pipeline gereinigt werden müsste. Doch, Bob, du hast wieder und wieder Meerwasser raufgepumpt. Wozu? Wo ist es jetzt? Was hast du vor?“, drängte Simon. „Die Verschmutzung wird immer schlimmer und die Indianer denken, dass du weitermachen und eine riesige Naturkatastrophe auslösen wirst!“

„Das traust du mir also zu, Simon?“, zischte Bob. „So war es ja schon immer. Keiner in dieser Familie hat etwas von mir gehalten. Alle dachten, ich sei ein gut aussehender Schwachkopf. Doch du … du warst immer der tolle Kerl. Gut in der Schule, überall beliebt … Ja, ja, ich war nur der große Bruder, der ein wenig langsam war. Aber das hat sich geändert. Ich habe es geändert.“

„Bob, das war so nicht …“, wollte Simon erwidern, aber sein Bruder redete einfach weiter.

„An dem Tag, Simon, als du dein Diplom gefeiert und dich zur Feier des Tages betrunken hast, da habe ich den Indianer niedergeschlagen und dich danebengelegt. Es sollte so aussehen, als hättest du das gemacht.“

„Was?“ Simon wollte sich erheben, aber die Schmerzen in seinen Zehen waren zu schlimm.

„Ja, und mein Plan ist aufgegangen.“ Mister Anderson lächelte. „Ich war dich endlich los. Nach dem Tod unserer Eltern hatte ich Geld, Geld, Geld, so viel, dass ich bis heute nicht weiß, wie ich es ausgeben soll. Aber noch immer haben die anderen nicht begriffen, was für ein Genie in mir steckt. Das wird sich jetzt ändern. Meine großartige Entdeckung wird allen die Augen öffnen.“

Der Mann ist komplett verrückt, dachte Axel. Er musste die Polizei verständigen. Er schlich den Gang entlang, machte die nächste Tür auf und zog sein Handy aus der Hosentasche. Mist – er hatte keinen Empfang!

Hektisch sah er sich im Raum um. Es schien sich um das Büro von Mister Andersons Sekretärin zu handeln. Axel lief zum Schreibtisch und betrachtete das Telefon. Würde Mister Anderson bemerken, wenn er telefonierte? Manchmal gab es im Chefzimmer Anzeigen auf den Apparaten oder Lämpchen, die meldeten, dass die Sekretärin auf der anderen Leitung ein Gespräch hatte.

Selbst wenn es das hier gibt, Mister Anderson ist mit seinem Bruder und den Indianern beschäftigt, dachte Axel. Er hob den Hörer. Aber welche Nummer hatte die kanadische Polizei? Er wusste es nicht.

Da fiel sein Blick auf die beschrifteten Tasten des Telefons. Auf einer stand „BOB ANDERSON, HOME“. Das war die Nummer von Mister Andersons Haus, in dem sich seine Freunde befanden. Noch besser. Er würde sie anrufen.

Als es abermals klingelte, hob Becky selbst ab. Sie war wieder einigermaßen auf den Beinen und wartete aufgeregt auf die Rückkehr ihres Vaters. Auch der Rest der Bande konnte das Eintreffen von Mister Anderson kaum erwarten. Sie mussten ihm von Axels Verschwinden berichten. Ob Simon auch damit etwas zu tun hatte?

„Lilo, es ist Axel, schnell, du sollst dich beeilen!“, rief Becky aus dem Wohnzimmer.

Lilo lief mit großen Sprüngen zum Telefon und riss den Hörer ans Ohr.

„Axel, wo bist du? Alles okay?“, fragte Lilo besorgt.

„Lilo, hör zu … ich bin in der Ölförderanlage“, begann der Junge. Doch gleich darauf war die Leitung unterbrochen.

Lilo starrte entsetzt auf den Hörer. Wieso hatte Axel wieder aufgelegt?

Nach einigen quälenden Minuten schrillte das Telefon erneut.

„Hello? Axel?“, fragte Becky.

„Ja, ich bin es. Bitte, schnell, Lilo … gib sie mir!“

Becky drückte dem Mädchen den Hörer in die Hand.

„Lilo, keine Fragen. Bin in der Ölförderanlage! Lilo, Simon dreht durch. Er bedroht Beckys Vater. Keine Polizei, sonst legt er ihn um. Bitte, kommt … kommt schnell! Aber ihr könnt nicht hinein. Das Werksgelände ist mit einem hohen Zaun abgeriegelt. Der Zaun steht unter Starkstrom. Mister Anderson bewahrt hier etwas irre Wichtiges und Wertvolles auf, das … das … halb Kanada, die Tiere und Pflanzen retten kann. Simon will es unbedingt zerstören.“

„Aber wie sollen wir dann reinkommen?“, fragte Lilo atemlos.

„Es gibt eine Möglichkeit“, klang Axels Stimme gepresst durchs Telefon. „Durch die Pipeline. Sie ist leer. Ihr findet ungefähr dreihundert Meter südwestlich vom Zaun der Anlage eine Wartungsstelle. Es ist ein kleines Häuschen. Dreht alle Steuerräder auf! Habt ihr gehört? Das ist wichtig – auf! – und öffnet dann die Klappe. Ihr könnt in die Pipeline steigen und bis in das Werk kriechen. Ich erwarte euch an der Stelle, an der ihr rauskommt. Wir … wir müssen was unternehmen. Aber keine Polizei, sonst geschieht hier eine Katastrophe! Und Becky bleibt zu Hause. Verstanden?“

Lilo versprach, sich sofort mit den anderen auf den Weg zu machen.

Becky, die noch immer sehr schwach war, blieb sogar gerne im Haus der Andersons.

„Es ist wichtig, dass einer hier wartet. Wir können dich anrufen, wenn wir in der Fabrik Hilfe brauchen!“, erklärte Lilo.

Becky borgte ihnen zwei Fahrräder. Lilo und Dominik schwangen sich auf die Sättel und Poppi setzte sich auf einen Gepäckträger. Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten sie das Wellblechhäuschen. Becky hatte ihnen den Weg gut beschrieben.

Sie traten ein und leuchteten den Raum mit den Taschenlampen ab. Es stank höllisch nach Öl und vor ihnen stand ein Gewirr aus dicken Rohren und mindestens zwanzig metallenen Rädern, mit denen der Durchfluss gestoppt oder geöffnet werden konnte.

„Axel hat gesagt, wir sollen die Drehhähne alle aufdrehen und die Luke öffnen“, wiederholte Lilo die Anweisungen. „Und jetzt steigen wir da rein.“