Becky und Axel blieben wie angewurzelt stehen. Irgendetwas hielt sie davon ab weiterzugehen. Es war wie eine unsichtbare Mauer.
Sie schluckten und nahmen alle Kraft und allen Mut zusammen. Kaum hatten sie einen Schritt nach vorn gewagt, zuckten sie sofort wieder entsetzt zurück. Da war doch etwas! Hinter den Baumstämmen hatte sich etwas bewegt.
Noch einmal versuchten sie zu fliehen. Aber da erhoben sich vor ihnen aus einem Gebüsch Schatten, die ihnen den Weg versperrten.
„Wir wissen, d… d… dass ihr … d… d… das seid, Lisa, Britta und Karen!“, stotterte Becky.
Keine Antwort. Nur drohendes Schweigen.
Entsetzt und am ganzen Körper zitternd taumelten Axel und Becky rückwärts.
Die Schatten folgten ihnen nicht, zogen sich aber auch nicht zurück.
Immer weiter und weiter wichen die beiden nach hinten. Plötzlich stießen sie mit dem Rücken gegen etwas. Es fühlte sich an wie ein riesiger Körper. Axel und Becky duckten sich erschrocken. Langsam drehten sie den Kopf, um zu sehen, wogegen sie geprallt waren.
Im Licht des Mondes erblickten sie ein grauenvolles Wesen: Seine Beine steckten in einer zerschlissenen Hose, die Arme waren nackt. Doch aus seiner Haut wuchs gekräuseltes Haar, das an der Oberseite der Hände und Arme ein dichtes Fell bildete. Die nackten Schultern schimmerten gelb, fast grünlich, und liefen zu einem faltigen, zerkratzten Hals zusammen. Darauf saß ein menschlicher Kopf mit den Zügen eines Wolfes. Der Mund war groß wie ein Maul, die gebleckten Zähne blutrot. Die Wangen waren völlig behaart und die buschigen Augenbrauen zusammengewachsen. Die Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen und schienen zu glühen. Die Ohren des Wesens saßen weit hinten am Kopf und liefen nach oben hin spitz zu. Auch das Kopfhaar war zu einem dichten, verfilzten Fell verwachsen. Unter lautem Knurren, mit rasselndem, heiserem Atem hob der Wolfsmensch drohend seine Klauen. Voll Ekel sahen Axel und Becky die spitzen, blutrot angelaufenen Fingernägel und den überlangen Mittelfinger, der wie eine Reißkralle wirkte.
Mit einem tiefen, heulenden Laut ließ der Werwolf die Pranken auf die beiden Kinder niedersausen und packte sie an den Jacken. Als wären sie leicht wie Federn, hob er sie in die Luft und lief mit seiner Beute los.
Zuerst hatte der Schreck Axel und Becky völlig gelähmt. Nun aber kamen sie wieder zu Kräften. Sie begannen zu strampeln und schrien, so laut sie nur konnten.
Von allen Seiten eilten weitere Werwölfe auf sie zu. Sie verströmten einen schwindelerregenden Gestank. Es war ein Geruch nach Moder, Erde, verfaulten Pflanzen und nassem Hund.
Immer tiefer brachten die Wolfsmänner ihre Gefangenen in den Wald. Was hatten sie mit ihnen vor?
Angst schnürte Axel die Kehle zu. „Becky!“, krächzte er. Aber es kam keine Antwort.
Plötzlich verließen ihn alle Kräfte und er sank in eine albtraumartige Bewusstlosigkeit.
Als er erwachte, prasselte neben seinem Kopf ein Feuer. Er spürte die Hitze und über seinen Augen tanzte das Flackern der Flammen. Axel drehte den Kopf und sah Becky auf der anderen Seite der Feuerstelle liegen. Sie war noch bewusstlos.
Der Junge versuchte sich aufzurichten, aber er war an der Brust und den Knöcheln an den Boden gefesselt. Nur den Kopf konnte er ein wenig heben. Mehrere Gestalten hatten sich vor ihm aufgepflanzt.
Die Werwölfe. Die wolfsähnlichen Gesichter glotzten den Jungen und das Mädchen an und ihre Zungen leckten immer wieder über die roten Zähne. Die Wesen redeten miteinander und bewegten dabei heftig ihre pelzigen Hände. Was sie sprachen, war nicht zu verstehen. Sie schienen jedoch sehr aufgeregt zu sein.
Plötzlich drängte sich ein kräftiger Werwolf von hinten zwischen den anderen durch. Er schaute von Becky zu Axel und wieder zurück zu Becky. Eine Holzschale in den Pfoten tragend, näherte er sich langsam dem Feuer.
Über den Wolfsmenschen stand der bleiche Mond. Der Werwolf mit der Schale hob den Kopf und stieß ein lang gezogenes Heulen aus. War es klagend? War es bittend? War es eine Beschwörung?
„Nicht … Bitte … bitte, lasst uns frei! Bitte!“, flehte Axel und versuchte sich von den dicken Stricken zu befreien. Aber die Seile gaben nicht nach.
Nun stimmten auch die anderen Werwölfe in das Geheul ein. Es schwoll zu einer schaurigen Klage an, die in den Ohren schmerzte und sich wie ein glühender Pfeil in den Kopf bohrte.
„Nein … aufhören … bitte! Nicht! Nein … Neeeeiiiin!“, schrie Axel verzweifelt.
In diesem Augenblick schüttete der Wolfsmann den Inhalt der Schale in das Feuer. Es knisterte und knackte laut. Mächtige Rauchschwaden wallten aus den Flammen. Ein stechender und gleichzeitig eklig süßer Geruch breitete sich aus. Zuerst versuchte Axel die Luft anzuhalten und den Rauch nicht einzuatmen. Doch er hielt es nicht lange aus. Schon tanzten ihm weiße Punkte vor den Augen.
Irgendwann musste Axel nach Luft schnappen. Dabei bekam er eine große Portion des seltsamen Rauches in die Lunge. Über sich sah er die weiße Mondscheibe und die Umrisse der Werwölfe. Ihr Heulen füllte seinen Kopf. Es steigerte sich und wurde von Sekunde zu Sekunde dröhnender. Schließlich explodierte es und Axel hatte das Gefühl, selbst zerfetzt zu werden.
Dann verlor er das Bewusstsein.
Als er wieder erwachte, konnte er sich aufrichten und ungehindert bewegen. Es war Tag. Die Vögel zwitscherten aus Leibeskräften. Axel sah sich um und verstand die Welt nicht mehr. Wie war das möglich?