Der Mann war nicht sehr groß, hatte einen seltsam länglichen Kopf mit großer Nase, einen breiten Hals und besonders schmale Schultern. Er wirkte nicht gerade sportlich.
„Ich bin Igor, der Assistent von Dr. Moss“, stellte er sich vor. „Habt ihr euch verletzt? Wenn nicht, muss ich euch bitten, später zu kommen. Die Frau Doktor hat zu tun und darf nicht gestört werden!“
„Es handelt sich nicht um eine Verletzung …“, begann Axel.
„Dann kommt bitte später wieder.“
Axel ließ nicht locker. „Wirklich, wir müssen dringend Frau Dr. Moss sprechen. Es ist sehr wichtig“, sagte er bestimmt.
Igor, der sich schon weggedreht hatte, machte ein verkniffenes Gesicht. „Ihr Kinder seid frech und schlecht erzogen!“, meinte er streng und murmelte im Weggehen: „Wieso arbeite ich eigentlich hier?“
Becky blickte sich suchend um. Das Zelt war mit Stellwänden in ein kleines Labor, einen Raum mit drei Betten, ein Behandlungszimmer und einen Lagerraum aufgeteilt. Wo steckte die Ärztin?
Becky bückte sich und spähte durch den Spalt unter den Stellwänden durch. Sie erhaschte einen Blick auf zwei Frauenbeine. Dr. Moss war also da.
„Seid ihr immer noch nicht raus?“, schimpfte Igor, der sich wieder umgedreht hatte.
„Komm, schnell, sie ist dahinter. Wir gehen einfach zu ihr!“, sagte Becky und hastete hinter die Stellwand. Axel folgte ihr und Igor stürzte ihnen wutschnaubend nach.
Im Behandlungszimmer erlebten Axel und Becky eine Überraschung. Dr. Moss war nicht allein. Sie und Ben Bennet standen eng umschlungen da und küssten sich. Durch Igors Gezeter wurden sie auf die Kinder aufmerksam und sprangen auseinander.
„Was soll das?“, schrie Ben Bennet, als hätten ihn die beiden gerade bei einer verbotenen Sache erwischt.
Becky grinste unbeeindruckt. „Wir müssen Ihnen die Frau Doktor leider kurz entreißen, weil wir ihren Rat als Ärztin brauchen!“
Dr. Moss lachte auf. Mister Bennet schien nicht zu wissen, was er tun oder sagen sollte, und wandte sich zum Gehen. Er war schon fast aus dem Raum, als er plötzlich kehrtmachte und ein weißes Papiersäckchen vom Schreibtisch der Ärztin nahm. Hastig ließ er es in der Tasche seiner Trainingsjacke verschwinden.
„Ich habe die Kinder ja aufhalten wollen, aber sie waren so frech, einfach …“, jammerte Igor.
„Schon in Ordnung!“ Dr. Moss lachte und gab ihrem Assistenten ein Zeichen, dass er sich zurückziehen konnte. „Was kann ich für euch tun?“ Sie lächelte Becky und Axel freundlich an.
Stammelnd und stotternd begannen die beiden von den eigenartigen Ereignissen zu erzählen. Axel traute sich sogar zu berichten, dass er Ben Bennet mit dem Knüppel beobachtet hatte. Es erschien ihm wichtig.
Die Ärztin hörte aufmerksam zu, stellte einige Zwischenfragen und nickte. Sie schien den Bericht sehr ernst zu nehmen. Als die beiden endlich fertig waren, warteten sie auf den Rat der Ärztin. Die legte beiden Kindern die Hand auf die Stirn.
„Kein Fieber“, sagte sie, „und ich gehe davon aus, dass ihr keinen Alkohol oder andere Drogen zu euch nehmt.“
Empört schüttelten Axel und Becky den Kopf.
„Es tut mir leid, aber ich kann nur sagen, ihr habt eine zu lebhafte Fantasie. Vermutlich guckt ihr zu viel Fernsehen. Das ist das Einzige, was mir dazu einfällt“, meinte die Ärztin.
Axel und Becky waren enttäuscht. Dr. Moss glaubte ihnen also nicht.
„Axel, du hast etwas erwähnt, was mich sehr stutzig gemacht hat. Du willst Ben vor zwei Nächten gesehen haben, mit einem Knüppel. Das ist aber gar nicht möglich, weil ich vorgestern mit ihm zusammen war. Ben hat mich nach Barkerville eingeladen. Wir waren essen und sind erst spät in der Nacht zurückgekommen. Also kann eure Geschichte mit Ben schon mal nicht stimmen. Und Werwölfe gibt es nicht. Ich gebe euch einen Rat: Vergesst das Ganze. Und jetzt Abmarsch!“
Axel und Becky fühlten sich wie vor den Kopf geschlagen. Wenn nicht einmal die Ärztin ihnen glaubte, wer dann?
Gut in Form war Axel nicht, als er nachmittags zum Langstrecken-Schwimmwettbewerb ging. Es traten immer zehn Jungen gleichzeitig gegeneinander an. Die besten drei mussten in einer Finalrunde um den Sieg schwimmen.
Der Startschuss ertönte. Als Axel ins kalte Wasser eintauchte, spürte er plötzlich die Kraft in seine Arme und Beine zurückkehren. Er kraulte regelmäßig und kräftig und zog an den anderen wie ein Schnellboot vorbei. Sein einziger Gedanke war: Wenn ich siege, kommen meine Freunde! Und die brauchte er jetzt dringend.
Zwei Stunden später stand fest, dass Axel Zweiter geworden war. Ein Junge aus den USA hatte ihn geschlagen und den dritten Platz belegte ebenfalls ein Amerikaner. Überhaupt waren an diesem Tag alle Amerikaner erstaunlich stark, nachdem sie bei den ersten fünf Wettbewerben eher schlecht abgeschnitten hatten.
Nachdem Axel sich abgetrocknet hatte, musste er wieder einmal ins Glas pinkeln. Mittlerweile fand er nichts mehr dabei. Er verschwand in dem Zelt, in dem Dr. Moss Gläser bereitgestellt hatte, die Igor mit den Namen der Sportler beschriftete.
Fast gleichzeitig stellten die beiden Amerikaner und Axel die Gläser wieder auf das Tablett zurück. Igor wollte damit in Richtung Sanitätszelt gehen. Aber genau in diesem Augenblick machte Dr. Moss einen Schritt auf ihn zu. Igor stolperte und das Tablett flog in hohem Bogen davon. Er entschuldigte sich und Dr. Moss schüttelte missbilligend den Kopf.
Das war Absicht! Das hat er absichtlich getan!, war Axels erster Gedanke.
„Gratuliere, ich rufe sofort den Vereins-Präsidenten an. Wenn alles klappt, sind deine Freunde übermorgen hier!“, rief der Trainer und klopfte Axel kräftig auf den Rücken.
Axel freute sich und beschloss, sofort mit seinen Freunden zu telefonieren. Er musste ihnen unbedingt sagen, wie dringend er sie hier brauchte.
Axel lief zu seinem Zelt und überprüfte sein Handy-Guthaben. Zum Glück hatte er Empfang. Er wählte Lilos Nummer und wartete.
„Spinnst du?“, lautete deren Begrüßung.
„Ich brauche euch! Bitte kommt! Ich bin ein Werwolf oder so“, flüsterte Axel.
„Axel, bei uns ist es drei Uhr nachts. Was soll das?“, schnaubte das Superhirn der Knickerbocker-Bande. Mist, Axel hatte völlig vergessen, dass es in Europa bereits neun Stunden später war als hier.
„Bitte, Lilo, ihr werdet morgen eingeladen, kommt sofort!“, flehte er. Für mehr Erklärungen war keine Zeit, da das Telefonat schon jetzt ein Riesenloch in sein Guthaben gerissen hatte.
Am anderen Ende der Leitung blieb eine völlig ratlose Lilo zurück. Ihrem Freund musste etwas auf den Kopf gefallen sein, anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären.