Igor verschwindet

Die Siegerehrung bekam Axel kaum mit. Völlig abwesend stand er wieder einmal neben Ben Bennet auf der zweiten Stufe des Podests. Der Amerikaner, dessen Kleidung von oben bis unten mit Werbeaufdrucken gepflastert war, schien bester Laune und war bedeutend freundlicher als am Morgen. Er lachte, freute sich über den Sieg und den dritten Platz seiner Landsleute und gratulierte auch Axel überschwänglich.

In dieser Nacht konnte Axel überhaupt nicht einschlafen. Was würde diesmal mit ihm geschehen? Bereits um zehn Uhr war im Camp Ruhe eingekehrt. Alle tankten Kraft für den nächsten Tag.

Als er es satt hatte, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen, kroch Axel ins Freie. Die Nacht war warm und er verzichtete auf seinen Jogginganzug. Ziellos lief er zwischen den Zelten umher.

Halt! War das dort drüben nicht Igor? Der Mond schien hell und beleuchtete das Lager besser als die Laternen, die alle paar Meter aufgestellt waren.

Kein Zweifel. Gebückt, als wollte er unter allen Umständen verhindern, von jemandem entdeckt zu werden, huschte Igor von Zelt zu Zelt. Axel beschloss, ihm zu folgen. Dieser Typ hatte eindeutig etwas zu verbergen.

Igors Ziel war schnell klar. Er wollte zum Sanitätszelt. Möglicherweise hatte der Helfer einfach noch zu tun. Aber wieso tat er dann so geheimnisvoll?

Der Assistent der Ärztin blickte mehrere Male nach allen Seiten. Erst als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete – Axel hatte sich gut versteckt –, schloss er das Vorhängeschloss auf, das den Eingang sicherte. Flink wie ein Wiesel schlüpfte Igor ins Innere.

Axel wartete einen Augenblick und folgte ihm dann lautlos und unauffällig.

In der Krankenstation war es stockfinster. Da Axel seine Taschenlampe nicht anknipsen konnte, wandte er den gleichen Trick an wie Becky am Morgen. Er ließ sich auf die Knie hinunter und spähte unter den Stellwänden durch.

Ein Lichtschimmer! Igor musste sich dort aufhalten, wo das Labor untergebracht war.

In diesem Moment wurden Schritte vor dem Zelt hörbar. Axel stockte der Atem. Er krabbelte auf allen vieren weiter und verschwand unter einem Schreibtisch. Er konnte gerade noch den großen Papierkorb vor sich ziehen und den Stuhl so stellen, dass er ihn halbwegs verdeckte, bevor jemand das Zelt betrat.

Es war zu dunkel, um zu erkennen, wer es war. Axel wagte keine Bewegung. Er hielt die Luft an und hörte das Pochen seines Blutes in den Ohren.

Der Eindringling war stehen geblieben. An der Stelle, wo sich Igor befand, klirrte und raschelte es. Mit schnellen Schritten eilte der Unbekannte in diese Richtung. Ein dumpfer Schlag ertönte und Igor stöhnte kurz auf. Es polterte und Gläser zerbrachen klirrend.

Axel schwitzte so sehr, dass die Tropfen von seiner Stirn über die Nase bis auf seine Lippen liefen.

Wer auch immer gekommen war, verließ jetzt mit schweren Schritten wieder das Zelt.

Axel blieb regungslos in seinem Versteck sitzen. Erst nach einiger Zeit wagte er sich langsam heraus. Sollte er in das Labor sehen? War Igor bewusstlos geschlagen worden? Vielleicht … war er auch tot!

„Idiot, du musst ihm helfen!“, schimpfte Axel mit sich selbst. Er packte den Griff seiner Taschenlampe. Er konnte sie als Schlagstock benutzen, wenn es nötig sein sollte.

Auf Zehenspitzen näherte er sich der Stellwand, die das Labor abtrennte. Er beugte sich nach rechts und spähte an der Kante vorbei in den Raum.

Auf dem Boden lag eine kleine Taschenlampe und tauchte alles in ein schwaches Licht. Daneben sah Axel eine verschlossene Stahlkassette, an der offensichtlich jemand mit einem Schraubenzieher hantiert hatte. Auf dem Tisch waren einige Laborgläser in Scherben gegangen. Von Igor keine Spur. Er war verschwunden!

So schnell Axel konnte, verließ er das Sanitätszelt und rannte zu seinem eigenen Zelt zurück. Er kroch hinein und versuchte sich zu beruhigen.

Was ging hier vor?

In der Ferne erhob sich wieder das Heulen der Wolfsmenschen. Mit Entsetzen stellte Axel fest, welche Wirkung es auf ihn hatte. Er fühlte sich hingezogen, schien sich über die lang gezogenen Laute sogar zu freuen. Schnell schlüpfte er in seinen Trainingsanzug und verließ wieder das Zelt.

Der Mond stand als fast runde Scheibe über ihm. Axel genoss das Licht, als würde er sich darin sonnen. Mehrere Male atmete er tief durch und begann dann in Richtung Wald zu laufen. Er wollte es so und hatte auch keinen Zweifel, dass es völlig richtig war, was er tat.

Diesmal kannte er den Weg bereits. Auf halber Strecke begegnete ihm Becky. Die beiden sahen einander an, lächelten sich zu und liefen Hand in Hand weiter.

Die Werwölfe warteten schon mit einer Schale magischer Kräuter auf sie.

Wie Axel in sein Zelt zurückgekommen war, konnte er wieder nicht sagen. Nachdem er die Düfte eingeatmet hatte, hatte er das Bewusstsein verloren.

Am nächsten Morgen war Axel völlig verzweifelt. Er spürte, dass die rätselhaften Wolfsmenschen Macht über ihn hatten. Ihr Heulen und das Mondlicht schienen ihn magisch anzuziehen. Er wollte sich dagegen wehren, hatte vor der nächsten Nacht schreckliche Angst und doch freute er sich gleichzeitig darauf.

Kalte Schauer krochen Axel über den Rücken. Ihm war zum Heulen zumute. Er wusste, dass ihm keiner glauben würde.

Nach dem Frühstück packte Becky ihn an der Hand und zog ihn fort. Sie hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.

„Ich hab meinem Daddy alles erzählt“, berichtete sie. „Es war komisch. Obwohl er behauptet hat, dass er mir die Werwolfsgeschichte nicht glaubt, war er total entsetzt. Er hat mir verboten, in den nächsten Nächten im Zelt zu schlafen.“

„Aber wo schläfst du dann?“, fragte Axel.

„Zu Hause“, antwortete Becky.

Das Wohnhaus von Mister Anderson und seiner Tochter – seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen – befand sich nur einen Kilometer entfernt. Es war ein riesiges, prachtvolles Haus im Blockhütten-Stil und Becky würde dort sicher sein.

„Aber … aber wenn die Werwölfe böse sind, weil du nicht kommst? Vielleicht tun sie dann mir etwas an!“, stammelte Axel ängstlich.

Das Mädchen senkte den Kopf. „Tut mir leid, Axel. Ich … ich halte das nicht mehr aus!“ Doch dann hellte sich ihr Gesicht auf: „Aber vielleicht erlaubt Daddy, dass du im Gästezimmer übernachtest?“

Mister Anderson hatte nichts dagegen. Das Gespräch wurde von der Ärztin unterbrochen.

„Entschuldigen Sie, hat sich mein Assistent vielleicht bei Ihnen krankgemeldet? Er ist nicht zum Dienst erschienen“, hörte Axel Dr. Moss sagen.

Er wollte sich gerade für den Wettkampf fertig machen, blieb nun aber stehen und kämpfte mit sich selbst. Sollte er verraten, dass er in ihrem Zelt gewesen war?