Im Sportler-Camp herrschte große Aufregung. Die Nachricht von Beckys rätselhaftem Verschwinden hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Ganz besonders verzweifelt war das kanadische Mädchenteam, das sein beliebtestes und erfolgreichstes Mitglied vermisste. Viele konnten die Geschichte von den Werwölfen nicht fassen und hielten sie für einen Streich.
Zahlreiche Kinder und Erwachsene aus dem Camp erinnerten sich jedoch, in den vergangenen Nächten das Heulen der Wölfe gehört zu haben. Aber keiner hatte ihm große Beachtung geschenkt.
Unzählige Polizisten waren im Einsatz und suchten die Umgebung ab. Sie fanden zwar den Platz, an dem sich die Feuerstelle befunden hatte, aber keine Spur von den Werwölfen oder von Becky.
Alle Jungen und Mädchen wurden vernommen. Die Polizei hatte den Verdacht, dass neidische Konkurrenten Axel und Becky ausschalten wollten. Beide hatten schließlich bisher sehr gut in den Wettkämpfen abgeschnitten.
Lilo knetete und zwirbelte heftig ihre Nasenspitze. Wer waren die Werwölfe? Verkleidete Menschen? Wenn ja, wer steckte unter den Masken? Junge Sportler oder vielleicht … Trainer?
Konnte es sich um echte Werwölfe handeln?
Dominik, der sich im Internet gründlich zum Thema Werwölfe umgesehen hatte, berichtete von amerikanischen Foren, in denen angebliche Begegnungen mit Werwölfen geschildert wurden. „Offenbar sind immer wieder Werwölfe in unaufgeklärte Mordfälle verwickelt“, erklärte er den anderen.
Axel bekam einen Schweißausbruch, wenn er daran dachte, welches schreckliche Schicksal Becky vielleicht drohte und wie knapp er davongekommen war. Ihn quälte eine Frage, die er seinen Freunden immer wieder stellte: „Warum haben sie Becky behalten und mich zurückgebracht?“
Keiner wusste eine Antwort.
Mister Anderson war völlig fertig. Sein Gesicht war zerfurcht und er sah zehn Jahre älter aus.
Als ihm die vier Knickerbocker-Freunde kurz nach sechs Uhr abends im Zeltlager begegneten und mit ihm redeten, kamen ihm die Tränen.
„Becky ist das Einzige, was ich noch habe. Meine Geschwister und Eltern sind tot, meine Frau tödlich verunglückt und nun ist meine Tochter verschwunden. Ich habe schreckliche Angst um sie und … und … ich mache mir solche Vorwürfe!“
„Aber warum denn?“, wollte Axel wissen.
„Weil ich nicht ernst genommen habe, was Becky und du mir erzählt habt. Und weil ich alles nur für … für eine Sage gehalten habe.“
„Alles? Was meinen Sie mit ‚alles‘?“, forschte Lilo weiter.
„Ich habe eine kleine Familienchronik verfasst und dazu die Geschichte meiner Vorfahren bis in das Jahr 1360 zurückverfolgen können“, erzählte Mister Anderson mit heiserer Stimme. „Dabei bin ich in einem alten rumänischen Buch auf etwas Seltsames gestoßen.“
„Was? Mister Anderson, bitte, erzählen Sie es uns. Wir sind Detektive und haben schon einige Fälle gelöst“, sagte Axel aufgeregt.
Obwohl der Kanadier Axel kein Wort zu glauben schien, lud er die Bande ein, in das Blockhaus mitzukommen.
„Meine Vorfahren stammen aus Rumänien. Damals hießen sie noch Andresku“, begann er.
Das wusste Axel bereits aus dem Buch, das er am Vorabend durchgeblättert hatte.
„Die Andreskus haben angeblich in der Nähe des Schlosses von Vlad Drakul gelebt. Sagt euch der Name etwas?“
Dominik sprudelte sofort los: „Dieser blutrünstige und grausame Graf ist das Vorbild für Drakula. Er soll im Blut seiner Feinde gebadet haben.“
Mister Anderson nickte und fuhr fort: „Wie gesagt, ich halte das alles für eine Sage. Angeblich ist vor zweihundert Jahren die älteste Tochter der Familie Andresku von Werwölfen entführt worden. Sie soll in einer Vollmondnacht mit Zaubersalben und Ölen eingerieben und zu einem Feuer gebracht worden sein, dem magische Dämpfe entstiegen.“ Axel räusperte sich, aber Mister Anderson erzählte weiter: „Als das Mädchen die Dämpfe einatmete, brach es bewusstlos zusammen und verwandelte sich in einen Werwolf.“ Lilo sah Axel bedeutungsvoll an, aber keiner der Knickerbocker sagte etwas.
„Das Mädchen versuchte zum Schloss der Familie zurückzukehren, aber seine Verwandten erkannten es nicht. Sie schossen mit einer silbernen Kugel auf den Werwolf, um ihn zu töten. Mehrere Tage ging das so. Das Mädchen kam immer wieder, weil es seiner Familie erklären wollte, was geschehen war.“
Von Poppi war ein Schniefen zu hören, aber Mister Anderson bemerkte nichts davon, wie seine Geschichte auf die Kinder wirkte.
„Zwei Silberkugeln hatten ihr Ziel verfehlt. Erst die dritte traf und löste den Teufelsfluch. Das sterbende Mädchen verlor sein Fell. Da erst erkannten ihre Brüder, wen sie erschossen hatten.“
Poppi presste die Arme an die Brust. Sie schauderte. Auch die anderen Knickerbocker sagten kein Wort.
Lilo fand als Erste die Sprache wieder. „Das klingt sehr nach einer Gruselgeschichte“, sagte sie bestimmt.
Mister Anderson machte ein zustimmendes Geräusch, fuhr jedoch fort: „Das war aber noch nicht alles. Noch einmal zweihundert Jahre oder, anders ausgedrückt, sieben Generationen zurück, soll sich das Gleiche schon einmal ereignet haben. Die Überlieferung besagt, dass alle sieben Generationen ein Mädchen Opfer von Werwölfen wird.“ Leise fügte Mister Anderson hinzu: „Aber es ist doch nur eine Sage!“
Dominik schluckte. „Ist Becky die siebte Generation nach dem letzten Werwolfsfall?“
Mister Anderson nickte langsam.
„Steht das alles in dem Buch über die Familie, das Sie geschrieben haben?“, wollte Lilo wissen.
„Nein. Ich wollte nicht, dass Becky Angst bekommt, wenn sie es liest. Diese ganze Geschichte ist nur in meinen Unterlagen vermerkt.“ Der Mann stand auf und trat an ein Regal, in dem mindestens zwanzig dicke Aktenordner standen. Mehrere Male ließ er seinen Zeigefinger über die Beschriftungen gleiten. Dann drehte er sich zu den Knickerbocker-Freunden um und sagte heiser: „Die Aufzeichnungen … sie sind verschwunden! Jemand muss sie mir gestohlen haben.“