Um sieben Uhr achtunddreißig bin ich an der Liverpool Street in die Bahn gestiegen, weil Tom um sieben Uhr achtunddreißig an der Liverpool Street in die Bahn gestiegen ist. Mich fröstelt. Es ist ein typischer Januartag, dunkel und kalt. Es kommt mir vor, als wäre es drei Uhr früh.
Ich habe gewartet, bis nebenan die Wohnungstür ins Schloss fiel, dann bin ich schnell die Treppe hinuntergelaufen, während er im Aufzug nach unten fuhr, und ihm nach draußen gefolgt. Vor etwa einer halben Stunde habe ich hinter ihm den Bahnsteig betreten. Ich habe mir den Schal fester um den Hals gewickelt und auf der Anzeigentafel nachgeschaut, wo er hinwill. Im nächsten Moment verschwamm alles vor meinen Augen.
Tom hat heute ausgerechnet in dem hübschen Küstenstädtchen Hunstanton in Norfolk zu tun. Das ist der Ort, in dem Luke und ich uns verlobt haben.
Im Zug sitze ich vier Reihen hinter ihm und ducke mich tief in meinen Schal, um unerkannt zu bleiben. Doch selbst wenn der schlimmste Fall eintreten und er mich erkennen sollte, was dann? Es gibt kein Gesetz, das einem verbietet, mit seinem Nachbarn im selben Zug zu sitzen. Solche Zufälle passieren jeden Tag überall. Sie bilden die Grundlage zahlreicher großartiger Romane, Filme und Geschichten. Meine eigene Verbindung zu dem Ort Hunstanton sowie der Umstand, dass ich mich jetzt gerade auf dem Weg dorthin befinde, sind Beweis genug dafür.
Ich sehe, wie er niedergeschlagen die Schultern hängen lässt. Wie er einen tiefen Seufzer ausstößt. Er starrt die ganze Fahrt über aus dem Fenster, obwohl er ein Buch im Schoß liegen hat und es draußen noch gar nicht richtig hell ist. Man kann viel lernen, indem man die Menschen beim Nichtstun beobachtet. Das habe ich in der Klinik oft gemacht. Es hat mir geholfen, die Zeit totzuschlagen. Ich habe versucht herauszufinden, welche Patienten die gefährlichen waren, die potenziell gewalttätigen. Diejenigen, die die größte Ähnlichkeit mit mir hatten. Die zu schrecklichen Taten fähig waren, so wie ich.
Nach einer Weile wende ich mich den anderen Pendlern zu und frage mich, was sie wohl über mich sagen würden, wenn sie wüssten, was ich getan habe. Kann man mir meine Tat ansehen, wenn man nur lange genug hinschaut? Was ließe sich alles über mich in Erfahrung bringen, wenn sich jemand die Mühe machen würde, mich zu beobachten?
»Ich mache mir die Mühe, Tom«, wispere ich. »Sieh doch nur, wie viel Mühe ich mir mache.«
Er streckt die Arme über den Kopf und gähnt, vollkommen ahnungslos.
Als er aussteigt, sich mit seinen Kollegen trifft und ein paar Hände schüttelt, ehe er an die Arbeit geht, überlasse ich ihn sich selbst. Ich sehe keine Möglichkeit, ihm weiterhin zu folgen oder mich am Rand seiner kleinen Gruppe aufzuhalten. Aber es hat gut getan, ihn einfach nur zu beobachten. Informationen für meine nächsten Schritte zu sammeln. Eine Weile in seiner Nähe zu sein.
Bevor ich den Zug nach Hause nehme, mache ich noch einen Abstecher an den Strand, in die Vergangenheit.
Wie ruhig und friedlich es hier ist, denke ich bei mir, während ich aufs Meer hinausblicke. Der Sand erstreckt sich scheinbar endlos bis zum Wasser, so wie es typisch ist für England. Sie wollen im Meer baden? Gern, dafür müssen Sie aber erst mal eine halbe Meile laufen.
Ich sehe mich um. Die Strandhütten von Hunstanton, bunt wie Partyluftballons, haben eine gewisse Berühmtheit erlangt, seit sie von Bloggern auf der verzweifelten Jagd nach ihrer täglichen Dosis Schönheit entdeckt wurden. Als Luke und ich hier waren, gab es noch nicht so viele Bilder von ihnen, dadurch wirkten sie irgendwie malerischer.
Ich gehe weiter. Wo man auch hinschaut, perfekte Postkartenmotive. Ein zottiger Hund, der sich in die Wellen gewagt hat, obwohl sie so eisig sind, dass die Menschen schon beim bloßen Gedanken daran eine Gänsehaut bekommen. Eltern mit Kaffeebechern in den Händen. Familien, die der Kälte zum Trotz im Freien picknicken. Auf den Fotos wird es später so aussehen, als seien sie glücklich gewesen, während sie ihre Schinkensandwiches aßen, doch in Wahrheit waren sie am glücklichsten, als sie endlich wieder im Auto saßen und auf der Autobahn mit voller Geschwindigkeit Richtung Heimat brausten, zurück zu Zentralheizung und warmen Bettdecken.
Neugierig und frierend sehe ich sie mir alle an. Meine Nasenlöcher sind der einzige Teil meines Gesichts, der aus dem Schal hervorschaut. Die Wirklichkeit verschwimmt vor meinen Augen. Ich weiß nicht mehr, welche dieser Menschen jetzt hier sind und welche damals hier waren, als Luke um meine Hand angehalten hat.
Es ist fast auf den Tag genau vier Jahre her, dass er leicht schwankend im Sand vor mir auf die Knie ging und halblaut den Mann anknurrte, der im Vorbeigehen zu ihm sagte: »An deiner Stelle würde ich mich beeilen, Mann. Saukalt hier draußen.«
»Willst du mich heiraten?«, fragte er, und die vertrauten Worte klangen irgendwie komisch in meinen Ohren, obwohl ich natürlich wusste, dass ich auf keinen Fall lachen durfte. Das wäre der Situation nicht angemessen gewesen.
Luke ärgerte sich immer noch über den Kerl, der unseren besonderen Moment ruiniert hatte. Als ich seine Hand nahm, war sie kalt wie Eis, und ich musste vor dem grellen Januarsonnenschein die Augen zusammenkneifen. Trotz der Sonne zitterte ich am ganzen Leib, weil es Winter war und ich die Kälte hasse.
Ein Junge in der Nähe verlangte lautstark nach einem Eis, und ich wusste, dass Luke allein bei der bloßen Vorstellung die Zähne schmerzen würden. Die Möwen kreischten, die Wellen rauschten, und es roch nach Seeluft.
»Ja«, sagte ich hastig, ehe er weiterreden konnte. Ein Triumphgefühl stellte sich ein. Das Risiko, das ich mit Luke eingegangen war, hatte sich endlich ausgezahlt. Ich hatte meine Familie verlassen und hart an mir gearbeitet, und dies hier war der Beweis, dass er mich wirklich liebte. Dass der charmante, einnehmende Mann, den ich kennengelernt hatte, der echte Luke war. Dass er in letzter Zeit einfach nur viel Stress gehabt hatte und ihn an mir ausließ, weil ich ihm am nächsten stand. Er war nach wie vor klug, humorvoll und wunderschön. Die Gewissheit durchströmte mich wie der frische Wind.
Zwanzig Minuten nach seinem Antrag hing Luke schon wieder am Handy und versuchte, einem Freund irgendwelche Konzertkarten abzukaufen. Mein Telefon blieb in der Tasche. Ich brauchte keine Ablenkung. Ich stand einfach nur in der beißenden Kälte, roch den Essig von der nahegelegenen Pommesbude und genoss den Augenblick.
»Was, wenn wir David zu uns nach London einladen?«, platzte ich, von neuem Selbstvertrauen beseelt, heraus. »Dann können wir es ihm persönlich sagen.«
David fehlte mir so sehr, dass es wehtat. Er hatte uns immer noch nicht besucht. Die Verlobung wäre die perfekte Gelegenheit.
Luke schaute von seinem Handy auf.
»Ist das dein Ernst?«
Augenblicklich bereute ich, den Vorschlag gemacht zu haben. Durch meine Unbedachtheit hatte ich die wundervolle Stimmung zwischen uns kaputtgemacht. Ich spürte, wie meine Körpertemperatur sprungartig anstieg, als wäre ich aus einem klimatisierten Flugzeug in die sengende Hitze eines Mittelmeerlandes getreten.
»So, wie dein Bruder mich behandelt hat? Glaubst du nicht, dass das eine ziemlich schwierige Situation für mich wäre? Wenn er bei uns wohnen würde und ich die ganze Zeit Angst haben müsste, dass er dich gegen mich aufbringt?«
Ich wünsche mir verzweifelt, die Zeit zurückdrehen und meine Frage ungeschehen machen zu können. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, was er damit meinte. Meine Eltern waren ihm gegenüber ein wenig zurückhaltend gewesen – aber David? Er war Lukes Charme verfallen, so wie die meisten Leute. Er vergötterte ihn.
»Wahrscheinlich machst du mit mir Schluss, kaum dass er abreist.«
In meiner Panik lenkte ich sofort ein. Ich machte mir bittere Vorwürfe, weil ich das Thema angeschnitten hatte, und wollte einfach nur, dass Luke es so schnell wie möglich wieder vergaß. Von da an erwähnte ich David nicht mehr, und meine Telefonate mit ihm wurden noch seltener als bisher. Was, wenn er Luke und mich wirklich auseinanderbringen wollte? Es war alles so verwirrend. Ich konnte meinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr trauen.
Im Zug auf der Heimfahrt sprach Luke kein Wort mit mir, obwohl ich die ganze Zeit seinen Arm streichelte und verzweifelten Smalltalk machte.
Später schrieb ich meinen Eltern eine Textnachricht, um ihnen die frohe Neuigkeit mitzuteilen, doch als sie zurückriefen, nahm ich nicht ab. Ich wusste, dass das, was sie über unsere Verlobung zu sagen hatten, mich nur traurig machen würde.
Allerdings hatten ihre Sprachnachrichten den gleichen Effekt.
»Ich wollte nur wissen … Du bist dir doch sicher, Harriet, oder? Bist du dir auch wirklich ganz sicher?«, fragte Mom nach den obligatorischen Glückwünschen und einer kleinen Pause. Ich löschte die Nachricht. Danach wurde die Distanz, die sich seit meinem Umzug zwischen uns entwickelt hatte, noch größer.
Luke erzählte ich nichts davon. Er hätte mir nur Vorhaltungen gemacht, ich hätte ihn völlig falsch dargestellt und meinen Eltern ihre ablehnende Haltung ihm gegenüber damit quasi aufgezwungen. Außerdem war er nach unserem Streit wegen David ohnehin sehr frostig zu mir – bis der Zeiger plötzlich wieder in die andere Richtung ausschlug und er einen spontanen Kurztrip nach Kopenhagen für uns buchte. Er hatte mir verziehen.
»Um unsere Verlobung zu feiern!«, rief er überschwänglich, beinahe euphorisch.
Siehst du?, sagte ich mir. Siehst du? Er kann sehr wohl liebenswert sein und gute Laune versprühen.
Ich nickte lächelnd. Von den Problemen mit meinen Deadlines oder den Terminen, die ich verschieben musste, weil er die Reise nicht mit mir abgesprochen hatte, erwähnte ich nichts. Ich war einfach nur heilfroh, dass er mir wieder wohlgesonnen war.
In Kopenhagen angekommen, wagten wir uns unter den entsetzen Blicken der Hotelangestellten, die der Ansicht waren, wir sollten lieber drinnen bleiben, auf die Straße. Draußen herrschten minus dreizehn Grad, und das Hotel hatte weiche Kissen und eine Sauna.
»Aber es ist doch so kalt«, sagte der Manager, schüttelte sorgenvoll seinen kahlen Kopf und erschauerte. »Selbst für Kopenhagen.«
»Wir werden’s überleben«, gab Luke barsch zurück.
Ich verzog missbilligend das Gesicht, hielt jedoch den Mund. Ein einziges Mal hatte ich ihn auf sein unhöfliches Verhalten Fremden gegenüber hingewiesen, das hatte einen heftigen Streit zur Folge gehabt.
»Nur weil ich nicht kusche, wenn die Leute ihren Job nicht anständig machen, bin ich noch lange nicht unhöflich, Harriet«, hatte er mich angefahren. »Ich bin einfach nur kein Waschlappen.«
Vor der schneebedeckten kleinen Meerjungfrau hielten wir zwanzig Sekunden lang an, dann hakten wir die Sehenswürdigkeit ab und gingen weiter.
»Es ist so kalt«, meinte ein vorbeigehender Tourist freundlich. »Selbst für Kopenhagen.«
Er war mit seiner Frau unterwegs, und als ich sah, dass die beiden Händchen hielten, griff auch ich nach Lukes Hand, doch er schüttelte mich ab und behauptete, mit Handschuhen sei ihm das zu umständlich.
Durch Schneeverwehungen stapften wir bis zu einem Café, in dem Schokolade am Stiel serviert wurde, die man in heißer Milch zum Schmelzen brachte. Verglichen damit war das Kakaopulver, das wir uns zu Hause ins Wasser rührten, die reinste Abscheulichkeit.
Ich wickelte meinen Schal ab und gab unsere Bestellung auf.
»Es ist aber auch kalt draußen«, sagte ich in gespieltem Ernst, als wir uns setzten. »Selbst für Kopenhagen.«
Luke lachte nicht mit. Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Kann ich dich was fragen?«, sagte er irgendwann, während er mit den Zuckerpäckchen spielte.
Unsere Getränke wurden gebracht.
Ich blickte in meine Milch und sah zu, wie sie immer dunkler wurde. Als ich den Löffel nahm, um sie umzurühren, stellte ich fest, dass meine Hände zitterten. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich überlegte fieberhaft. Es war doch alles gut gelaufen. Aber offenbar musste ich irgendwo einen Fehler gemacht haben. Ich war so dumm. Ich wappnete mich.
»Möchtest du mal Kinder haben?«
Im ersten Moment empfand ich einfach nur grenzenlose Erleichterung, dass er nicht böse auf mich war. Erst dann registrierte ich die Frage. Ich war noch jung. Luke und meine Arbeit nahmen mich ganz in Anspruch. Schliefen Kinder durch, wenn man um Mitternacht Klavier spielte? Hätte ich mit einem kleinen Kind überhaupt noch die Energie, abends meine Songs zu komponieren? Zu später Stunde war ich nämlich immer am kreativsten. Die Arbeit machte mir London erträglich, und mittlerweile war ich so gefragt, dass ich sogar Aufträge ablehnen musste. Ich hatte bereits einige finanziell sehr lukrative Projekte an Land gezogen und war für namhafte Musical-Produktionen verpflichtet worden.
Luke hatte sich darüber beklagt. Er fand, ich sei »total auf den Job fixiert«, und manchmal fragte ich mich, ob das womöglich zu seiner Reizbarkeit beitrug. Fühlte er sich vernachlässigt? Ich hatte mich bereiterklärt, während unseres Urlaubs keine beruflichen Mails und Anrufe entgegenzunehmen, aber es fiel mir schwer. Die Arbeit war ein fundamentaler Bestandteil meines Lebens, sie erfüllte mich mit Stolz und Zufriedenheit. Ich war mir nicht sicher, ob ich dauerhaft darauf würde verzichten können.
Außerdem wusste ich, dass ich zu Depressionen neigte. Mein Leben stand auf wackligen Füßen. Wäre ich überhaupt in der Lage, einem anderen Menschen Halt und Stabilität zu geben?
Doch in diesem Moment, als ich eine Hand auf Lukes Arm legte und in der anderen eine Tasse mit flüssiger Schokolade hielt, war ich so berauscht von Zucker und Liebe, dass ich mich gefestigter fühlte als jemals zuvor in meinem Leben.
Vielleicht würde ein Kind mein Vertrauen in Luke und mich als Paar stärken. Bisher lebte ich in permanenter Angst, er könnte mich verlassen. In Restaurants schaute ich mich immer um und sah all die anderen Frauen, die viel besser zu ihm gepasst hätten als ich. Luke schaute sich auch um, das merkte ich genau.
Wenn er mit jemandem wie mir eine Familie gründen wollte, sollte ich dankbar sein. Ich sollte dankbar sein und ihm so viele Kinder gebären, wie er haben wollte. Ich sollte, wie er mir so oft nahelegte, einfach den Mund halten, nicken und mir ansonsten nicht weiter den Kopf zerbrechen.
»Ja«, sagte ich zaghaft, doch er hörte mein Zögern nicht, denn er war ganz außer sich vor Freude. Er nahm meine Hände und fing an, mir in glühenden Farben die Großfamilie zu schildern, die wir einmal haben würden – vier oder fünf Kinder, mit denen wir gemeinsam durch die Welt reisten.
»Stell dir das nur mal vor!« Er strahlte und sah mich auf diese intensive Weise an, die die Menschen so betörend fanden. Ich hatte oft versucht, anderen Leuten die Wirkung seines Blicks zu beschreiben. Er war einer der vielen Faktoren gewesen, die mir anfangs das Gefühl vermittelt hatten, geliebt zu werden und wichtig zu sein. »Wir baden alle zusammen im Meer oder sausen im Skiurlaub die Pisten runter, einer hinter dem anderen.«
Diese Fantasie setzte sich in meinem Kopf fest, wo sie mit der Zeit zu einem vollkommenen, kristallklaren Bild wurde, sodass ich mir unsere Zukunft gar nicht mehr anders vorstellen konnte. Kinder würden uns komplett machen; wir wären so beschäftigt, dass wir keine Zeit mehr hätten, unzufrieden zu sein.
Im Oktober desselben Jahres setzte ich in Absprache mit Luke die Pille ab.
Zu meinem großen Erstaunen erzählte ich sogar meiner Mutter von unseren Nachwuchsplänen. Es war lange her, dass wir ein Thema gehabt hatten, das echte Nähe zwischen uns möglich machte, und meine Eltern fehlten mir sehr, auch wenn ich versucht hatte, meine Sehnsucht nach ihnen zu unterdrücken. Ich hatte gehofft, die Aussicht auf ein Enkelkind würde die Situation zwischen uns wieder entspannen – vor allem nach ihrer eher negativen Reaktion auf unsere Verlobung. Bestimmt würde meine Mutter ihre Einstellung zu Luke jetzt überdenken. Das Band zwischen meiner Familie und mir würde wieder stärker werden.
»Luke und ich möchten ein Baby«, teilte ich ihr während eines unserer mittlerweile selten gewordenen Telefonate mit.
»Wie schön«, sagte sie, doch als ich ihren Tonfall hörte, bereute ich meine Offenheit sofort. Eine lange Pause entstand, und ich merkte, wie sie mit sich rang: Sollte sie ihre Meinung sagen oder lieber schweigen? Würde ich mich nur weiter von ihr entfernen, wenn sie aussprach, was sie wirklich dachte? »Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du doch auf keinen Fall Kinder haben. Hast du deine Meinung geändert?«
Vor lauter Wut fehlten mir die Worte. Ich wusste genau, worauf sie hinauswollte.
»Du glaubst, ich habe mich von Luke dazu überreden lassen, gib’s doch zu«, fauchte ich. »Warum musst du immer auf Luke herumhacken?«
Sie schwieg einen Moment.
»Weil ich glaube, dass er dir nicht guttut. Dass er nicht der Richtige für dich ist«, sagte sie vorsichtig.
Ich legte auf – nicht zum ersten Mal. Ab da ignorierte ich die meisten ihrer Anrufe.
Luke und ich haben versucht, ein Baby zu zeugen, hier in dieser Wohnung, in der ich mittlerweile alleine lebe, Tür an Tür mit einem glücklichen Pärchen und ihrem glücklichen Leben. Aber was sagt man dazu? Auch sie wünschen sich ein Baby. Sie führen mein altes Leben, und ich führe mein neues.
Bevor meine Wohnung leer war, war sie voll. Wir lebten unser Leben, schmiedeten Pläne und hofften, uns eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Wir machten Rinderbraten und erfüllten den Hausflur mit Düften, die sagten: »Wir sind hier, wir sind beliebt, wir haben alles und kriegen den Hals nicht voll.« Wir suchten gemeinsam Wandfarbe aus und hängten Bilder auf. Auf die Fensterbänke stellten wir Pflanzen, die jetzt tot und verdorrt sind.
Was auch immer wir für Probleme hatten, was auch immer andere über uns dachten, ich konnte damit leben. Für das, was wir der Außenwelt präsentierten, und für den Wert, den es mir verlieh, Teil eines Pärchens zu sein, nahm ich alles bereitwillig in Kauf. Ist das heutzutage nicht ohnehin das Einzige, was zählt? Was hinter geschlossenen Türen passiert, interessiert niemanden, solange man auf Facebook glücklich aussieht.
Luke und ich planten, aus einem der Zimmer ein Kinderzimmer zu machen, genau wie Lexie und Tom es wohl bald tun werden. Luke ging wie selbstverständlich davon aus, dass ich nach der Geburt aufhören würde zu arbeiten, und ich ging wie selbstverständlich davon aus, dass ich tun würde, was immer Luke wollte, also redeten wir nicht weiter darüber, auch wenn die Aussicht, keine Musik mehr zu komponieren, in mir eine gewisse Übelkeit und ein Gefühl der Haltlosigkeit hervorrief.
Manchmal dachte ich daran, wie sehr unseren Kindern die Großeltern fehlen würden, und dann wurde ich traurig. Luke hatte kein gutes Verhältnis zu seiner Familie und ich zu meiner auch nicht mehr, wie ich mir eingestehen musste.
Luke hatte kein Interesse daran, an der Beziehung zu meinen Eltern zu arbeiten. Selbst als ich sie noch regelmäßig über FaceTime kontaktiert hatte, war er immer aus dem Zimmer gegangen, und weil er nun mal der Mittelpunkt meines Lebens war, wurde der Graben zwischen uns immer tiefer.
Ehrlich gesagt, war mir das aber auch nicht so wichtig. Bis ich einen Fehler machte und wieder alleine dastand, waren wir zu zweit und auf dem besten Weg, drei, vier oder fünf zu werden … Ich dachte an den gemeinsamen Skiurlaub. Ich hatte alles, was ich brauchte.
Nach Lukes Antrag fasste ich neues Selbstvertrauen. Ich hörte auf, ständig an mir zu zweifeln, und beruflich war ich so erfolgreich wie nie. Ich wurde mutiger. Begann Fragen zu stellen. Der Unterschied zu vorher war deutlich spürbar. Natürlich blieb das auch Luke nicht verborgen, der mich als »arrogant« und »nervtötend« bezeichnete.
Als wir im darauffolgenden Sommer von einem einwöchigen Portugalurlaub zurückkamen, fuhren wir nicht gleich nach Hause, sondern weiter nach West London, wo Luke sich mit ein paar Freunden zum Tapasessen verabredet hatte. Ich protestierte dagegen. Ich war müde von der Reise, mir war kalt, ich schleppte einen riesigen Koffer mit mir herum, und ich wollte mit ihm alleine sein. Für mich war es immer am schönsten, wenn wir zu zweit waren. Es war einfacher, unkomplizierter, und die Gefahr eines Streits war geringer.
»Warum müssen wir ständig unter Leuten sein?«, schmollte ich, als wir im Stanstead Express saßen. Ich war so erschöpft, dass ich den Mund aufmachte, ohne vorher nachzudenken.
»Weil Freunde wichtig sind, Harriet«, antwortete er betont munter, während er eine lange Textnachricht tippte, die ich nicht sehen konnte. »Eines Tages solltest du dir auch welche zulegen, dann wirst du es sehen.«
Den Rest der Fahrt hing er am Telefon. Ich beobachtete ihn nervös. Wir sind beide müde, sagte ich mir. Mehr ist es nicht. Nur keine Panik.
Ich ertrug das Abendessen tapfer, saß aber in Gedanken bereits in der Bahn nach Hause. Ich lächelte höflich, als die anderen jemandem aus der Runde »Happy Birthday!« zuriefen, und hörte geduldig zu, während eine Frau namens Francine ihr kompliziertes Liebesleben vor mir ausbreitete. Als Luke Nachtisch bestellte, wurde ich langsam wütend. Wie lange denn noch?
»Du siehst gestresst aus, Harriet. Ist alles klar bei dir?«, fragte seine Freundin Aki, deren schwarze Haare ihr bis in die spöttisch blitzenden Augen hingen.
Später behauptete Luke, sie habe sich bloß Sorgen um mich gemacht, aber ich wusste Bescheid. Sie war eine der Frauen, von denen ich fand, dass sie eine viel bessere Freundin für Luke abgegeben hätten als ich.
Aki – sie war übrigens Single – wechselte einen Blick mit Seb, einem weiteren Mitglied aus Lukes Bekanntenkreis, und in der Sekunde war es mir klar: Sie redeten über mich. Darüber, wie seltsam ich war, wie unbedeutend. Dass sich in meiner Gegenwart alle irgendwie unwohl fühlten, während sie Oliven aufspießten und mit der obligatorischen Flasche Cava auf den Geburtstag des gemeinsamen Freundes anstießen. Das machte mich ganz paranoid.
Von da an ging es mit dem Abend steil bergab. Ich trank zu viel, und Luke beugte sich zu Aki, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Wohlgemerkt: Ich war währenddessen nicht auf der Toilette oder draußen. Ich saß direkt neben ihm. Er versuchte nicht einmal, es zu verbergen. Das brauchte er auch gar nicht, weil er genau wusste, dass ich ihn nicht zur Rede stellen würde.
Irgendwann gingen wir – endlich.
Und weil ich betrunken war, wagte ich nun doch, etwas zu sagen.
»Hast du mit Aki geflirtet?«, fragte ich ihn.
»Weißt du, was?«, sagte er und sah mich mit kalten Augen an. »Du bist so besessen vom Thema Flirten, dass du wahrscheinlich diejenige bist, die hinter meinem Rücken einen anderen bumst. Betrügst du mich, Harriet?«
Von da an schwieg ich. Ich biss mir so oft auf die Zunge, dass ich bestimmt Narben davon habe.
Und Lexie? Die kann brüllen und meckern und widersprechen, soviel sie will, und hat trotzdem das Leben, das ich mir immer erträumt habe. Wenige Zentimeter entfernt auf der anderen Seite der Wand kocht sie zusammen mit Tom, so wie Luke und ich es getan haben, bevor die Zubereitung des Abendessens zu einer Aufgabe wurde, für deren Erfüllung ich allein zuständig war. Sie kuscheln sich aufs Sofa und schauen Filme, so wie wir früher. Sie machen Pläne, so wie wir.
Ich lausche ihrem Leben, das meins hätte sein sollen und das ich jetzt nur noch als Zuhörerin erleben darf. Ich sitze so dicht an der Wand, wie es nur geht. Ich höre sie lachen, und mir kommt eine Erkenntnis: Ich darf nicht zulassen, dass sie glücklich sind. Ich darf nicht zulassen, dass Lexie mir mein Leben stiehlt.
Ich denke an das, was vor einigen Jahren passiert ist. Wenn mir jemand mein Leben wegnimmt, bin ich bereit, alles zu tun, um es zurückzubekommen.