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Harriet

»Ich rufe Luke an«, sagte Naomi, aber aus irgendeinem Grund tat sie es dann doch nicht.

»Luke ist mein Verlobter«, gab ich zurück und fixierte sie mit einem harten Blick.

»Nein, Luke war dein Verlobter«, entgegnete sie ruhig, aber ihre Stimme zitterte ein wenig.

»Du kannst nicht mit jemandem ausgehen, der vor ein paar Monaten noch eine andere heiraten wollte. Das geht einfach nicht.«

Ich glaubte wirklich daran.

Sie setzte sich hin. Dann nahm sie ihr Handy, legte es allerdings auf den Kaminsims neben ein Foto von Luke im Skiurlaub.

»Da war ich mit«, sagte ich fassungslos. »Das Foto habe ich gemacht

Sie warf einen Blick darauf und zuckte mit den Achseln.

»Tja, so was kommt vor«, sagte sie. Inzwischen klang sie ein wenig genervt. »Wahrscheinlich habe ich auch noch Fotos, die mein Ex früher gemacht hat. Das Leben geht weiter. Du musst nach vorn schauen.«

»Warst du mit deinem Ex-Freund verlobt?«, fragte ich und sah mich im Raum um. Überall Bilder von Luke.

Luke bei der Abschlussfeier an der Uni. Luke mit Freunden, die ich kannte. Luke nach einem Bungeesprung, den ich ihm geschenkt hatte. Und in einem goldenen Rahmen: Luke und Naomi, elegant gekleidet und strahlend als Gäste auf einer Hochzeit.

»Nein, wir waren nicht verlobt«, sagte sie gedehnt. Ihr Tonfall war ein verbales Augenrollen, als hätte sie das Wort »verlobt« in Anführungsstriche gesetzt.

Es war aber keine Verlobung in Anführungsstrichen. Es war eine richtige Verlobung. Es gab sie wirklich.

Sag ja nicht, dass es nicht echt war, Naomi. Sag so etwas ja nicht.

»Dann ist es auch nicht dasselbe«, teilte ich ihr mit, als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Meine Hände zitterten wie damals am Strand in Norfolk, als Luke mir den Heiratsantrag gemacht und ich Ja gesagt hatte.

Eine Pause trat ein.

»Wessen Hochzeit war das?«

»Von meiner Freundin Esra.«

»Und Esra und ihr Mann haben einander vermutlich ein Eheversprechen gegeben. Sie haben ein Gelöbnis abgelegt und dieses Gelöbnis ernst gemeint. Es wäre doch ziemlich mies gewesen, wenn Esras Mann auf einmal alles hingeworfen und sie wenige Tage vor der Hochzeit sitzengelassen hätte.«

Diesmal sagte sie gar nichts, sondern starrte lediglich auf das Foto.

»Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?«, seufzte sie schließlich – ein Angebot, mit dem sie mich überrumpelte.

War das großzügig? Unangebracht? Ein Trick, der ihr Gelegenheit verschaffen sollte, Luke anzurufen? Ein Versuch, mich auszunüchtern? Falls sie überhaupt merkte, dass ich getrunken hatte?

Trotzdem sagte ich Ja. Sonst hatte ich ja niemanden, mit dem ich Tee trinken konnte.

»Milch?«, fragte sie. Die Alltäglichkeit der Unterhaltung war regelrecht bizarr.

Ich überlegte.

»Nein, keine Milch. Aber zwei Stück Zucker, bitte.«

Sie nickte und brachte uns beiden ein Glas Wasser, während das Teewasser heiß wurde. Ich brauche den Zucker, dachte ich bei mir. Ich war ganz benommen. Vor Schwäche? Oder vor Zorn?

Ich hatte niemanden, der sich um mich kümmerte. Ich musste alles alleine durchstehen. Trink einen Tee mit Zucker, Harriet. Setz dich doch.

Bei genauerem Nachdenken konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich heute meine Antidepressiva genommen hatte. Oder gestern. Oder überhaupt irgendwann in den letzten Tagen. Und das, obwohl ich sie seit Jahren zu meinem Alltag gehörten. Sehen Sie? Ich habe es Ihnen doch gesagt: Niemand half mir. Ich war ganz auf mich allein gestellt. Ich dachte an Naomi und an den Strand in Norfolk, und dann passierte es wieder: Auf einmal war ich wie losgelöst von der Wirklichkeit. Ich schwebte im Nichts.

Vielleicht war das der Grund, weshalb Naomi so entspannt wirkte und überhaupt keine Angst vor mir zu haben schien.

Du solltest aber Angst vor mir haben, dachte ich in meinem benebelten Zustand. Du solltest schlottern vor Angst, denn ich habe noch nie jemanden so sehr gehasst wie dich, du kleine Diebin. Du hast mir Luke gestohlen.

»Hör zu, von Frau zu Frau, von Mensch zu Mensch: Du siehst nicht gut aus«, sagte sie und legte den Kopf schief so wie ein Hund, der sein Bein anhebt, wenn er pinkeln muss.

Angewidert wandte ich den Blick ab und sah mich erneut im Zimmer um. Sie verschwand in der Küche, um den Tee aufzugießen.

Es gab zahlreiche Dinge, die ich wiedererkannte. Das David-Hockney-Bild an der Wand. Den Becher, den wir aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatten. Die alte gerahmte Postkarte aus Chicago, die Jacke über der Sofalehne, den Fotorahmen. Ich wanderte zwischen all diesen vertrauten Sachen umher und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.

Scheiße. Scheiße, sie hatte tatsächlich mein Leben gestohlen. Diese Schlampe hatte mein ganzes verficktes Leben einfach an sich gerissen. Und das Schlimmste war, dass sie es wahrscheinlich viel besser ausfüllen würde, als ich es je gekonnt hätte. Sie war Luke ebenbürtig. Sie würde ihm Paroli bieten. Sie hatte einen Mann wie ihn wirklich verdient.

»Ich erkenne das alles wieder«, murmelte ich halblaut.

»Was?«, fragte sie und stellte den Tee vor mich hin.

Dann setzte sie zu ihrem Vortrag an. »Harriet, hör zu. Manchmal scheitern Beziehungen einfach. Manchmal gehen sie in die Brüche. Das ist ganz normal. Irgendwo da draußen gibt es einen Mann, der besser zu dir passt als Luke. Jemanden, der genau der Richtige für dich ist. Jemanden, der …«

In dem Moment tat ich es.

Ich nahm meine Teetasse und schüttete Naomi den Inhalt mitten in ihr makelloses, ungeschminktes Gesicht.