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Harriet

April

Tom reagiert nicht auf meine Nachricht, in der ich ihm Zeit und Ort unseres Treffens mitgeteilt habe. Stattdessen – wieso hat das überhaupt so lange gedauert, Tom? – blockiert er mich.

Ich bin kurz wütend, aber mir ist ohnehin klar geworden, dass ich die Sache auf eine andere Weise angehen muss. Hätte ich mich als Rachel mit Tom getroffen, wäre mein Gesicht ihm womöglich bekannt vorgekommen, und das hätte ihn so lange beschäftigt, bis er irgendwann dahintergekommen wäre, dass ich lüge. Dass ich in Wahrheit gar nicht Rachel bin und einen ganz anderen Beruf habe.

Nein, es ist besser, wenn er mich als Harriet kennenlernt.

Und das wird er auch.

Zeit für Plan B.

Jemand auf der Arbeit hat mich auf die Idee gebracht. Wir waren gerade in einer Besprechung, die anderen standen um den Flügel herum und rissen Witze, während ich spielte und meine Gedanken treiben ließ. Ich spürte, wie meine Schultern sich entspannten und alles um mich herum verschwand. Der Teil meines Jobs, bei dem ich mit anderen Menschen interagieren muss, ist für mich seit jeher der unangenehmste. Es ist viel schöner, sich einfach im Rhythmus zu verlieren. Ein Gefühl der Kraft durchströmte mich, während ich immer energischer in die Tasten griff und völlig vergaß, dass ich nicht allein war.

»Harriet! Harriet!«

Ich ärgerte mich, weil man mich mitten im Spiel unterbrochen hatte.

»Was ist denn?«, fauchte ich, riss die Finger von der Klaviatur und fuhr wütend herum.

»Für heute machen wir Schluss, okay?«, sagte mein Kollege Jacob. »Wir bestellen uns jetzt was zu essen und chillen noch ein bisschen.«

Während wir unsere Pizza aßen, meinte er scherzhaft, dass unsere Branche guten Stoff für eine Sitcom abgeben würde. Ich hörte gerade lange genug zu, um spitz erwidern zu können: »Ich glaube kaum, dass einer von uns für eine Sitcom witzig genug ist.«

Nicht »einer von uns«, dachte ich. Du.

Ich war nicht in der Stimmung für geselliges Beisammensein. Ich war schlecht gelaunt, nachdem ich mir in den frühen Morgenstunden zwei Stunden lang alte Fotos von Luke angeschaut hatte.

Luke. Tom. Luke. Tom.

»Dann eben für eine Doku«, sagte Steph. Steph? Sam? Diese Frauen mit ihren Skinny Jeans, ihren gesträhnten Haaren und ihren Sneakern sehen doch alle gleich aus. Die Leute denken, London wäre ein Hort für Individualisten. Wie lächerlich. Ich habe nirgendwo mehr Gleichförmigkeit erlebt als hier. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt gibt es ein bestimmtes Restaurant, in dem man essen, eine Marke, die man unbedingt kaufen, ein Buch, das man toll finden muss. Vielleicht wäre es das Praktischste, zu Beginn eines jeden Monats einfach ein Memo an alle rauszuschicken.

Und trotzdem bin ich immer noch hier. Warum? Fehlt mir der Antrieb für einen erneuten Umzug? Gehöre ich nirgendwo anders hin? Klammere ich mich an die Wohnung und an mein Leben hier, weil ich beides mit Luke geteilt habe? Oder hat es neuerdings eher mit Tom zu tun?

»O ja, jetzt kommen wir der Sache näher«, sagte jemand anders mit übertriebener Theatralik. »Eine schonungslose Reportage, in der die grausame Realität des Musiktheaters enthüllt wird.«

Die anderen lachten, während ich an nichts anderes denken konnte als daran, dass sie kein bisschen witzig waren und dass ich sie nicht leiden mochte und dass ich auch all die anderen Menschen nicht leiden mochte, mit denen ich tagein, tagaus zu tun hatte, und dass es niemanden gab, der mir wirklich wichtig war, weil David, Frances, meine alten Freundinnen, Mom und Dad in meinem Leben keine Rolle mehr spielten.

Dann erinnerte ich mich an etwas, das ich auf Toms Facebook-Seite gelesen hatte, und ein neuer Plan war geboren.

Wenn man im Innern nichts weiter hat als einen leeren Raum, wo früher die Menschen waren, die man geliebt hat, dann kann man tun und lassen, was man will, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen nach sich zieht. Das ist einer der Vorteile daran, ich zu sein.