Einige Zeit ist vergangen. Die Kluft zwischen mir und Tom ist immer noch da, genau wie die Traurigkeit.
Und jetzt geht alles wieder von vorne los.
Heute soll der nächste Embryotransfer stattfinden, und obwohl ich den Prozess schon einmal durchlaufen habe, gibt es einen Teil, der diesmal nicht so gut funktioniert. Vor dem Eingriff muss ich viel Wasser zu mir nehmen, damit ich eine möglichst volle Blase habe, allerdings ohne mir im Wartebereich neben dem Kaffeeautomaten in die Hose zu pinkeln.
»Haben Sie überhaupt was getrunken?«, fragt eine Krankenschwester barsch, und ich bin dermaßen angespannt, dass ich mich sofort darüber aufrege – über so eine Kleinigkeit. Aber andererseits ist es keine Kleinigkeit. Die Blase hat Einfluss auf den Uterus, der hat Einfluss auf den Embryo, der wiederum hat Einfluss auf unser Baby, und das Baby hat Einfluss auf meine gesamte Existenz.
Dies hier ist das Wichtigste, was ich je in meinem Leben getan habe. Glaubt diese Frau allen Ernstes, dass ich mich nicht genau an die Regeln halte?
»Noch drei Tassen Tee und zwei Gläser Wasser«, verordnet sie mir und öffnet die Tür.
Tom geht noch einmal zum Getränkeautomaten, um mir Nachschub zu holen.
Ich tigere den Gang auf und ab, weil das angeblich bewirkt, dass die Flüssigkeit schneller in der Blase ankommt. Schluck, schluck, schluck, immer im Takt mit meinen Schritten.
Alles noch einmal von vorn.
Mir ist übel, und ich habe Schmerzen, aber das macht mir nichts aus, im Gegenteil: Schmerzen sind genau das, was ich im Moment brauche, um mich von meinen ewig kreisenden Gedanken abzulenken. Andere Leute bezahlen viel Geld, um dieses Niveau von Achtsamkeit zu erreichen.
Auf meinem Weg durch den Gang komme ich jedes Mal an einer Frau vorbei, die glamourös und wunderschön aussieht und massenweise blondes, professionell gestyltes Haar hat. Sie entstammt einem gänzlich anderen Londoner Mikrokosmos als ich. Ihre Tasche, ihr gesamtes Auftreten lässt einen sofort an Kensington, Privatclubs und Oligarchen denken. Meine Tasche und mein Auftreten hingegen sagen: Gesamtschule in der Provinz, schmierige Nachtclubs in Soho und eine geballte Dosis Hochstaplersyndrom.
Doch an diesem Ort sind wir beide gleich. Wir haben die gleichen Medikamente genommen, die Beine in die gleichen kalten Halterungen gelegt, und auch die Erfolgsaussichten sind für uns beide gleich.
Wir laufen aneinander vorbei. Sie trinkt einen Schluck. Ich trinke einen Schluck.
Anfangs lächeln wir einander nicht an, weil wir unsicher sind: Wäre das unhöflich? Grenzüberschreitend? Gibt es hier überhaupt etwas zu lächeln? Ist der Zweck dieser Klinik nicht viel zu ernst? Aber letzten Endes tun wir es doch, weil wir Menschen sind, und wenn es eine Situation gibt, die es verdient, mit einem schiefen Lächeln quittiert zu werden, dann unsere. Ich denke an Shona, die ich jetzt gerne in den Arm nehmen würde, und muss gegen den Drang ankämpfen, stattdessen diese fremde Frau zu umarmen, die genau wie ich kämpft, hofft und manchmal verzweifelt – ganz egal, was für eine Handtasche sie hat.
Sie verschwindet im Behandlungszimmer und kommt wieder heraus, weil sie noch mehr Tee trinken muss.
Schluck, schluck.
Ich verschwinde im Behandlungszimmer und komme ebenfalls wieder heraus. Noch mehr Tee.
»Mehr Tee«, sagen wir und halten jeweils unseren Styroporbecher hoch, von dem wir hoffen, dass es der endlich letzte sein wird. Dass unsere Blase danach so weit gefüllt ist, dass sie die Gebärmutter in die richtige Position bringt, um dem Embryo das Einnisten zu erleichtern und unserem Leben einen Sinn zu geben.
Wir denken – beziehungsweise ich denke – an all die Frauen, die auf natürlichem Wege schwanger werden, indem sie einfach nur Sex haben. Frauen, denen plötzlich auffällt, dass ihre Monatsblutung ausgeblieben ist. Frauen, die keinen Nachwuchs planen, vier Gläser Tequila auf ex trinken und dann ungewollt schwanger werden.
Und dann gibt es da uns, die anderen Frauen, die unbedingt schwanger werden wollen, die sich Hormone spritzen und Zäpfchen einführen und so viel Tee in sich hineinschütten, bis ihnen fast schlecht wird davon. Die unablässig hin und her laufen. Schluck, schluck, schluck.
Diese fremde Frau und ich sind wie Staffelläuferinnen – Mannschaftskameradinnen, aber zugleich auch Konkurrentinnen. Ich sehe sie an und frage mich: Wer von uns wird in zwei Wochen die erlösende Nachricht erhalten? Womöglich wir beide? Oder keine von uns? Bedeuten gute Nachrichten für sie automatisch schlechte Nachrichten für mich? Ist sie vielleicht auch nicht zum ersten Mal hier? Wie oft hat sie es schon versucht? Einmal? Sechzehnmal? Wie seltsam, dass wir heute auseinandergehen und es nie erfahren werden.
Tom sitzt neben dem Lebensgefährten der Frau, einem großen Mann Mitte fünfzig, der finster in die Gegend starrt. Tom hat ebenfalls angefangen, finster in die Gegend zu starren, als wäre der Gesichtsausdruck des Mannes ansteckend.
Eine zierliche asiatische Krankenschwester kommt vorbei, und ich spreche sie an.
»Ich mache mir gleich in die Hose«, sage ich, den Tränen nahe. Es mag sich lustig anhören, doch in Wahrheit ist es die reinste Folter. Ich winde mich bereits vor Schmerzen.
Sie nimmt Tom und mich mit in einen Behandlungsraum.
»Glauben Sie, Sie könnten vielleicht ein klein wenig ablassen?«, sagt sie, und schon im nächsten Moment reiße ich ihr den Becher aus der Hand, zerre mir die Jeans herunter und pinkle hinein – im Stehen, vor den Augen von Tom und der Krankenschwester, die mich mit leicht beunruhigter Miene ansieht.
»Ich meinte eigentlich in die Toilette«, wirft sie ein, während Tom zur gleichen Zeit sagt: »Lex, ich glaube, du hast vergessen, die Folie vom Becher abzumachen.«
Auf dem Fußboden unter mir ist eine kleine Pfütze. Von meiner Würde hingegen ist weit und breit nichts zu sehen.