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Lexie

Januar

Meine gute Laune verfliegt so schnell, wie sie gekommen ist. Ich stelle dem Redakteur, der gestern Abend unbedingt wollte, dass ich etwas für ihn schreibe, einige meiner Ideen vor, und er antwortet nicht. Ich bin verkatert, es geht mir dreckig, und ich mache mir Sorgen, dass ich in meinem alkoholisierten Zustand der nüchternen Shona zu viel preisgegeben haben könnte.

Als ich am Nachmittag nach unten gehe, um die Post zu holen, und unser Briefkasten mit Infobroschüren von Reproduktionskliniken vollgestopft ist, sinkt meine Stimmung noch tiefer. Was soll der Mist?

Geistesabwesend logge ich mich auf meinen Social-Media-Seiten ein. Im nächsten Moment krampft sich mir der Magen zusammen. Die Kommentarspalten sind voll mit gehässigen Posts von unbekannten, anonymen Troll-Accounts, so wie gestern Abend.

Hässliche Schlampe, steht da. Warum stellt jemand, der so aussieht, Selfies ins Netz?, lautet ein weiterer Kommentar. Ich rufe eine andere Seite auf. Die gleichen Gemeinheiten.

Inzwischen ist mir richtig schlecht. Steigere ich mich da in etwas hinein? Messe ich diesen Nachrichten von gesichtslosen Fremden zu viel Bedeutung bei? Ich kenne sie nicht, und sie kennen mich nicht – was kümmert mich also ihre Meinung? Aber vielleicht macht es das umso schlimmer. Warum bekomme ausgerechnet ich solche Kommentare? Was habe ich getan?

Nebenan schreit wieder das Baby, und plötzlich wird mir die Luft knapp. Es ist, als würde ich von allen Seiten belagert, oder als wäre ich im Begriff, den Verstand zu verlieren. Ich weiß nicht genau, was schlimmer ist.

Bis zum Abend hin steigt meine innere Unruhe immer weiter. Ich wandle am Rande einer Panikattacke, als Anais mir eine Textnachricht schreibt.

Du bist schon wieder in der Versenkung verschwunden. Meld dich doch mal x.

Ich kann ihr nicht antworten. Dazu muss ich erst wieder halbwegs mit mir im Reinen sein.

In ihrer Welt ist alles beim Alten. Das ist eins der Dinge, mit denen ich am meisten hadere, denn ich kann nicht einfach anhalten, umkehren und wieder so sein wie früher. Da sind meine Schuldgefühle, wenn ich Wein trinke, mein Neid auf andere und das bedrückende Gefühl, dass ich mich aus meinem Leben verabschiedet habe. Dass ich eigentlich etwas ganz anderes will.

Aber dieses Andere ist für mich nicht erreichbar. In der Mannschaft, zu der ich gerne gehören würde, ist kein Platz für mich frei. Die alten Freundinnen aus meiner Kindheit, die inzwischen Mütter geworden sind, fahren einmal im Jahr alle zusammen in einen familienfreundlichen Ferienpark. Ich werde nie eingeladen.

»Das ist doch nichts für dich«, heißt es immer. »Es sind lauter Kinder da.«

Natürlich haben sie recht – aber der Grund ist nicht der, den sie dahinter vermuten.

Sie sind so weit von meiner Realität entfernt, dass sie immer noch mein ehemaliges Ich im Kopf haben, das Cocktails schlürft, hinter VIP-Absperrungen tanzt und auf Dachterrassen Ceviche isst. Sie sehen mich, wie ich meinen sorgenfreien Kopf schüttle und eine frische Schicht Lippenstift auftrage. Dieses alte Ich wäre niemals mit einer Horde Kinder auf einen Campingtrip gefahren, das ist richtig. Aber dieses Ich ist nur noch eine ferne Erinnerung.

Wenn ich versuchen würde, wieder auf einer dieser Dachterrassen zu sitzen, würde das nicht funktionieren. Diese Phase meines Lebens ist endgültig vorbei, jeder würde mir meine Befangenheit, mein mangelndes Selbstvertrauen ansehen.

Ich bin über dreißig und gehöre nirgendwo hin. Ach so: außer hier aufs Sofa. Ich hole mir einen Keks.

Dann klingelt mein Handy. Tom ist dran.

»Hallo!« ruft er laut. Er klingt betrunken. Ich weiß, ich sollte mich nicht über ihn ärgern, aber ich tue es trotzdem. Vor einiger Zeit habe ich nämlich vergeblich versucht, ihn anzurufen, weil ich ihm von den Hasskommentaren erzählen wollte. Ich habe fast den ganzen Tag vor Scham geweint. Das konnte er natürlich nicht ahnen, doch an meiner Wut ändert das wenig.

»Ich habe super Neuigkeiten!«, ruft er. Offenbar steht er irgendwo draußen auf der Straße, denn ich höre Menschen im Hintergrund johlen. »Wir müssen nächsten Monat für eine Doku nach Schweden. Und das Beste ist, du kannst mitkommen! Der Flug ist umsonst.«

Wenn ich ehrlich bin, ärgere ich mich am meisten darüber, mit welcher Leichtigkeit Tom sich im Gegensatz zu mir immer noch in der alten Welt zurechtfindet. Er war kein nervöses Wrack, nur weil er vorhatte, in einen Pub zu gehen, und er hat auch ganz bestimmt nicht den halben Abend über unseren unerfüllten Kinderwunsch geredet. Er war einfach mit Kollegen etwas trinken – das Selbstverständlichste auf der Welt.

Vor ein paar Jahren wäre ich bei der Aussicht auf eine kostenlose Schwedenreise außer mir gewesen vor Freude. Ich hätte die Nachricht sogleich auf Instagram verbreitet, Tische in Restaurants reserviert, mir teure Stiefel gekauft und allerlei Pläne gemacht. Jetzt bin ich so zornig, dass ich kein Wort herausbringe.

Wieder muss ich an die gemeinen Kommentare im Netz denken. Mir fällt absolut kein Grund ein, weshalb jemand mich so beleidigen sollte. Es sei denn, ich habe etwas Schlimmes getan. Oder ich besitze etwas, was die betreffende Person will.

»Und?«

Könnte Tom dieses Etwas sein? So läuft das doch normalerweise, oder? Liebesrivalinnen? Rache?

»Hmm?«

»Was sagst du dazu?«

Auf einmal klingt er verhalten. Seit Neuestem bin ich jemand, in dessen Gegenwart er auf der Hut sein muss.

Und er tut gut daran, denn natürlich reagiere ich gereizt. Immer muss ich ihm sagen, wo das Problem liegt. Immer bin ich diejenige, die anderen die Laune verdirbt, indem ich alles auf unseren unerfüllten Kinderwunsch beziehe. Ich habe diese Rolle so satt, dass ich kaum die Energie zum Sprechen aufbringe.

»Wir haben doch vereinbart, dass wir zum Arzt gehen«, sage ich tonlos. »Ich will nicht in den Urlaub fahren. Ich will, dass wir zum Arzt gehen.«

Er schweigt. »Aber es ist doch nur ein Monat. Wir könnten ja auch vorher zum Arzt gehen oder …«

»Außerdem würde das höchstwahrscheinlich bedeuten, dass wir nicht zum richtigen Zeitpunkt Sex haben können. Ich kann ja wohl schlecht für den ganzen Dreh in Schweden bleiben, oder? Es wäre total kompliziert, alles so zu planen, dass ich genau an den entscheidenden Tagen bei dir bin.«

Dreißig Sekunden vergehen, ohne dass einer von uns etwas sagt. Ich denke darüber nach – oder versuche darüber nachzudenken –, wie es wäre, das Baby endlich vergessen und den Rest meines Lebens einfach genießen zu können. Es wäre so leicht, einen anderen Weg einzuschlagen. Aber ich spüre es tief in meinem Innern: Ich kann nicht.

»Du hast nicht mal daran gedacht«, sage ich leise und traurig. »Aber ich denke die ganze Zeit an nichts anderes.«

Es lastet so viel Druck auf mir, weil immer ich diejenige bin, die alles plant, die nachrechnet, organisiert und die jeden Monat blutet. Ich kann nicht mehr. Wir haben noch nicht einmal mit der Behandlung angefangen, und ich bin jetzt schon am Ende meiner Kräfte.

»Tja, weißt du, was? Vielleicht täte es dir ganz gut, zur Abwechslung mal an was anderes zu denken«, entgegnet Tom.

Ich lasse den Kopf gegen das Sofakissen sinken und schließe die Augen.

Toms Stimme klingt jetzt wie das verbale Gegenstück zu einer beschwichtigenden Handbewegung. »Es ist doch nur ein Monat. Damit du mal rauskommst. Wenn wir wieder da sind, machen wir sofort den Termin in der Klinik. Wir ziehen das durch.«

Ich höre jemanden seinen Namen rufen und reiße die Augen wieder auf.

»Du redest doch nicht mit mir, während andere Leute zuhören, oder?«

»Nein, nein, es ist nur gerade jemand aus dem Pub gekommen und hat nach mir gerufen. Niemand hat was mitbekommen, versprochen. Ich muss jetzt auflegen, aber wir reden später weiter, einverstanden? Es tut mir leid. Ich liebe dich. Aber: Schweden!«

Ich setze mich auf, lasse mir das Gespräch durch den Kopf gehen und wünschte, dass es in meinem Kosmos noch so etwas wie Logik oder Geduld gäbe. Ich wünschte, dass ein Monat noch das wäre, was er früher war: eine harmlose, relativ kurze Zeitspanne, nicht eine endlos erscheinende Reihe von Tagen, an denen wir kein Kind zeugen können. Vergeudete Zeit, die möglicherweise zur Folge hat, dass ich niemals ein Kind haben werde. Aus etwas Kleinem wird etwas Riesengroßes, aus etwas Unbedeutendem etwas absolut Lebensentscheidendes.

In einem anderen Universum hat Tom sicher recht, aber mein Gehirn empfängt seine Botschaft nicht. Mein Gehirn empfängt nur die Botschaft Verzögerung, Verzögerung und rechnet aus, in wie vielen Monaten ich vierunddreißig werde. Und es beißt sich an der Tatsache fest, dass Tom, als man ihn bat, für eine Dokumentation nach Skandinavien zu fliegen, nicht eine Sekunde lang an den Arzttermin gedacht hat, während solche Gedanken mein gesamtes Dasein bestimmen. Ich glaubte, wir würden an einem Strang ziehen, aber offenbar gibt es Dinge, mit denen ich ohne seine Hilfe klarkommen muss.

Aber Schweden! Ich denke an die Broschüren, die in unserem Briefkasten steckten, über Kinderwunschkliniken, Fortpflanzungsmedizin und die Erfolgsquoten von In-vitro-Fertilisation. Hat das Schicksal – beziehungsweise seine Marketingabteilung – mein Geheimnis entdeckt? Oder messe ich einem Zufall zu große Bedeutung bei? So etwas kommt vor.

Dann muss ich wieder an die Kommentare denken. Ziehe ich tatsächlich in Erwägung, dass es dabei um Tom geht? Dass er mich betrügt, und eine hinterhältige, rachsüchtige Kontrahentin dahintersteckt? Das kann doch nicht mein Ernst sein. Nicht Tom. Mein treuer, ehrlicher Tom.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich ihm gar nichts von den Kommentaren erzählt habe, obwohl ich deswegen schon den ganzen Tag mit ihm sprechen wollte. So sehr bestimmt der Kinderwunsch mittlerweile mein Denken: Sobald ich davon anfange, wird der Rest meines Lebens innerhalb weniger Sekunden vollkommen unwichtig. Er löst sich regelrecht in Luft auf.

Als Tom mir später mehrere Nachrichten schickt, antworte ich nicht darauf, sondern rolle mich auf der Couch zusammen und suhle mich in Selbstmitleid, während Harriet nebenan eine Klassikversion eines Take-That-Songs trällert.

»Halt’s Maul, Harriet«, knurre ich. »Halt einfach dein beschissenes Maul.«