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Harriet

Nachdem ich Naomi den brühheißen Tee ins Gesicht geschüttet hatte, ging alles ganz schnell.

Auf einmal war ich wieder klar im Kopf. Ich sah das Entsetzen in ihrem sonst so lieben und vollkommenen Gesicht.

»Raus!«, schrie sie mit überschnappender Stimme, während sie sich ihre glühende, krebsrote Wange hielt. »Raus, raus, raus hier!«

Flüchtig kam mir der Gedanke, wie gut es wäre, wenn ihre Facebook- und Instagram-Freunde sie in diesem Zustand sehen könnten. Jetzt bist du nicht mehr so perfekt, was, Naomi?

Ich rannte den ganzen Weg bis zur U-Bahn und sprang in den Zug. Ich konnte nicht fassen, dass niemand Notiz von mir nahm, obwohl ich schwitzte und keuchte und mir bestimmt ins Gesicht geschrieben stand, dass sich in meinem Leben gerade etwas Dramatisches ereignet hatte.

Ich weiß noch, wie ich mich völlig benommen an eine Fremde wandte: »Finden Sie, ich sehe irgendwie komisch aus?« Aber die Frau hob nur kurz den Blick von ihrem Buch und suchte sich dann einen anderen Platz.

Ich starrte quer durch den Wagen auf ihr Buchcover und wünschte mir, sie würde zurückkommen. Alles, was ich je gewollt hatte, war, dass andere Menschen zu mir in Kontakt traten. Dass sie mich am Arm berührten, mir übers Haar strichen, mir sagten, dass alles gut werden würde.

Mir war nie ganz klar, ob man überhaupt auf Dauer überleben kann, wenn man so wenige Verbindungen zur Außenwelt hat und mit so winzigen Rationen an menschlicher Zuneigung auskommen muss wie ich. Ich habe von rumänischen Waisenkindern gelesen, die den ganzen Tag dasitzen und sich hin und her wiegen. So ungefähr stelle ich mir mein Leben vor. Es kommt nicht von der Stelle, es schaukelt nur leicht von links nach rechts.

Ich kaufte mir eine Flasche Wein und fuhr nach Hause, bis sie kamen und mich auf die Polizeidienststelle brachten. Dort nüchterte ich in einer Zelle wieder aus.

Jemand wollte wissen, wer meine nächsten Angehörigen seien. Den Gedanken, meine Eltern anzurufen, konnte ich nicht ertragen, also wandte ich mich stattdessen an David, der allerdings erst am nächsten Tag kam, nachdem ich schon eine Nacht in der Zelle verbracht hatte. Die Reise von Chicago nach London dauert lange, auch wenn die eigene Schwester verhaftet worden ist.

Die Zelle war dreckig und trist, und ich hatte das vage Gefühl, nach Hause zu kommen. In der richtigen Welt kann ich gar nicht existieren, dachte ich, erfüllt von Selbstmitleid. Ich war klein und isoliert, da ergab ein Ort wie dieser mehr Sinn für mich. Im Grunde war es sogar eine Erleichterung, weil ich nicht mehr überlegen musste, was ich tun sollte, um Freunde zu finden oder dazuzugehören. Ich konnte einfach die Augen schließen und akzeptieren, dass ich jetzt auf der anderen, der bösen Seite stand.