In den wenigen Sekunden, in denen sich Harriets Miene verändert, überlege ich fieberhaft, was sie mir antun könnte. Mir und meinem Kind.
Ich sitze immer noch auf ihrem Sofa. Sie hat sich vor mir aufgebaut und murmelt wie im Wahn irgendetwas vor sich hin. Im nächsten Moment wirkt sie wieder ganz klar.
»Deine Post da hinten«, sagt sie stolz. »Die habe ich geklaut.«
Soll ich dir jetzt gratulieren?, denke ich. Möchtest du Anerkennung für deine Leistung?
Doch ich sage nichts davon laut. Dafür habe ich zu viel Angst und bin zu schwach.
»Ich habe Babygeschrei abgespielt und die Kinderwunsch-Broschüren in euren Briefkasten gesteckt.«
Ich nicke. Was spielt das überhaupt noch für eine Rolle? Es ist Vergangenheit. Ich habe alles verloren, jetzt gibt es nur noch eins, was ich festhalten muss.
»Ich habe auch die Nachrichten auf deinen Seiten gepostet.«
Ich sitze da, den Blick gesenkt, und versuche mich möglichst wenig zu bewegen. Sie steht immer noch vor mir, aber immerhin hat sie mich losgelassen.
»Wieso?«, wispere ich mit matter Stimme – um Zeit zu gewinnen, aber auch weil ich es wirklich wissen will.
»Weil ich dich weghaben wollte. Ich wollte dich weghaben, damit Tom und ich zusammen sein können«, sagt sie. »Und ich weiß, dass Tom das auch will. Zwischen uns sind Gefühle entstanden. Ich dachte, wenn ich dich in den Wahnsinn treibe, beschleunigt das die Sache vielleicht.«
Ich denke daran, dass ich damals, als ich den geplatzten Termin mit Leo hatte, glaubte, sie im Hotel gesehen zu haben. Vielleicht ging auch das auf ihr Konto. Sie war die Puppenspielerin meines Lebens zu einer Zeit, in der es denkbar einfach war, mich zu lenken.
Sie hat versucht, mich zu zermürben, mich fertigzumachen, obwohl ich ohnehin schon am Boden war. Durch sie bin ich noch selbstmitleidiger und unattraktiver geworden.
Mir wird schwarz vor Augen. Ich halte mich am Sofa fest und versuche krampfhaft, fokussiert zu bleiben. Ich muss wachsam sein, allein meinem Baby zuliebe.
Lass dir was einfallen, Lexie. Lass dir was einfallen. Irgendwie muss ich hier raus.
Schon wieder stößt Harriet irgendwelche unzusammenhängenden Worte hervor – Mom, Naomi, Luke –, während sie geistesabwesend auf ihre Hände starrt.
Dann hebt sie den Kopf. Sie sieht mich an, setzt sich neben mich und packt erneut meine Hände, die ganz von selbst wieder zu meinem Bauch gewandert sind. Diesmal gibt sie sich nicht einmal mehr den Anschein von Sanftheit. Ein Schrei tobt durch meinen Körper. Es ist ein Gefühl, als hätte sie sich auf die Entbindungsstation geschlichen und wollte mir mein Baby wegnehmen.
Ich schiele in Richtung Tür, weiß aber, dass sie sie abgesperrt hat. Ich habe das Schloss einrasten hören, es ist dasselbe Geräusch wie bei unserer eigenen Wohnungstür. Mit dem Unterschied, dass mein Schloss mir Sicherheit gibt. Harriets Schloss bewirkt das genaue Gegenteil.
»Ich möchte, dass du eine Geschichte liest«, sagt sie. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Ich spüre, wie mir der Schweiß den Rücken hinabrinnt. »Darüber, was passiert ist, als das letzte Mal jemand versucht hat, mir den Mann wegzunehmen.«
Dann sagt sie mir, ich solle sie googeln.
»Na, komm.« Sie lacht. »Wir wissen doch beide, dass du es schon mal gemacht hast. Tu nicht so, als würdest du meinen Nachnamen nicht kennen. Ich kenne deinen doch auch.«
Ich gebe ihren vollständigen Namen in die Suchmaske des iPads ein, das sie mir gereicht hat. Meine Hände zittern, und meine Finger hinterlassen feuchte Flecken auf dem Display. Das erste Suchergebnis ist ihre offizielle Webseite, dann folgen einige Interviews, die ich ebenfalls bereits kenne.
Ich sehe sie an. Und?
»Weiter«, fordert sie mich auf.
Es ist, als wäre sie meine Entführerin. Ich tue alles, was sie sagt. Alles, was sie von mir verlangt.
»Weiter«, sagt sie noch einmal.
Doch da ist nichts. Verständnislos schüttle ich den Kopf.
»Ach so! Warte«, seufzt sie theatralisch und legt in einer übertriebenen Geste eine Hand an ihre Wange. »Wahrscheinlich hast du meinen anderen Nachnamen eingegeben.«
Sie nimmt mir das iPad aus der Hand. Tippt etwas ein. Gibt es mir zurück.
Frau fügt Rivalin Verbrühungen im Gesicht zu. Prozessbeginn.
Ich lese den Artikel. Im Hintergrund höre ich Harriet schon wieder murmeln. Naomi – Luke – weggenommen – Leben.
Die Harriet aus dem Artikel ist Amerikanerin.
Sie ist Anfang dreißig.
Sie lebt in London.
Es gibt kein Foto, aber das brauche ich auch nicht.
Die Harriet aus dem Artikel ist unsere Harriet.
Ich versuche aufzustehen, komme jedoch ins Straucheln, als ich weglaufen will. Harriet stellt sich mir in den Weg und drängt mich gegen die Wand. Entschuldigung, falsches Pronomen: Sie drängt mich gegen meine Wand. Jetzt hat sie die Maske der Freundlichkeit endgültig fallengelassen. Unerbittlich und mit erstaunlicher Körperkraft stößt sie mich rückwärts gegen die harte Wand.
»Warum darfst du glücklich sein?«, sagt sie und hält meine Hände über meinem Kopf fest. Sie hat wieder dieses Grinsen im Gesicht, das ich mittlerweile gut kenne. »Verdammte Scheiße. Warum bist du diejenige, die alles hat?«
Sie denkt, ich hätte alles, und jetzt will sie es sich zurückholen. Sie wollte Tom, meine große Liebe, und sie hat ihn bekommen. Jetzt will sie auch noch mein Baby. Ich stoße einen lauten, animalischen Schrei aus.
Abermals huscht mein Blick zum Schlüssel. Sie war es, die in meiner Wohnung herumgeschnüffelt hat.
»Hat Tom dir den Schlüssel zu unserer Wohnung gegeben?«, flüstere ich, den Kopf an der Wand, während sie mich weiterhin festhält. Mir wird schwindlig, obwohl ich gerade jetzt stark sein muss.
Sie nickt.
Ein Schauer geht durch meinen Körper, als ich daran denke, dass sie Sex in dem Bett hatten, in dem wir so lange vergeblich versucht haben, ein Kind zu zeugen.
Ich dachte, unsere Wohnung wäre bloß eine Hülle, die wir irgendwann abstreifen würden. Doch in diesem Augenblick habe ich das Gefühl, als hätte mich Harriet, indem sie in unser Zuhause eingedrungen ist, splitternackt ausgezogen.
»Wenn du magst, kannst du dir auch die restlichen Bilder ansehen«, sagt sie. Sie lässt mich los und tritt einen Schritt zurück, um mir einen Stapel Fotos zu zeigen. Ich lehne an der Wand und versuche wieder zu Atem zu kommen.
Das Wichtigste ist, sie abzulenken und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht noch mehr aufregt, also schaue ich mir die Fotos an. Es sind bestimmt vierzig oder fünfzig. Meine Wohnung, meine Sachen, meine Kleider in einem Haufen auf dem Bett. Und noch schlimmer: Harriet, die in meinen Kleidern posiert. Ich erinnere mich an all die Momente, in denen ich den Eindruck hatte, dass die Kissen irgendwie anders lagen oder der Toaster nicht an seinem üblichen Platz stand. Lexie, reiß dich zusammen, habe ich mir gedacht. Wer sollte sich die Mühe machen, dich zu stalken? Wer sollte ein Interesse daran haben, dir das Leben zur Hölle zu machen?
Nachdem ich beim letzten Foto angekommen bin, nimmt sie mir den Stapel wieder ab. Dann wandert ihr Blick erneut zu meinem Bauch.