Ich lege Lippenstift auf, nur um gleich darauf in Panik zu geraten. Trägt man überhaupt noch Lippenstift? Ist Lipgloss jetzt wieder in? Ich weiß es nicht, weil ich in einer Zeitblase festsitze. Das ist einer der Gründe, weshalb das hier so wichtig ist.
Ich muss dringend meinem Trott entfliehen. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, heute Abend auszugehen.
Ich muss raus aus meinem Käfig. Dem Käfig in meinem Kopf kann ich nicht so leicht entrinnen, aber die Tür zur Wohnung lässt sich öffnen, wenn man sich dazu zwingt – und sich überwindet, die Schlafanzughose auszuziehen. Es ist wichtig, das nicht zu vergessen.
Heute Abend wollen wir den Abschied von Shona, einer ehemaligen Kollegin, feiern.
Tom stößt einen leisen Pfiff aus, als ich an ihm vorbeigehe und er meinen Hintern in dem engen Rock sieht.
»Du willst mich bloß aufmuntern. In Wahrheit sehe ich fett aus«, sage ich verlegen.
»Stimmt nicht«, sagt er, schüttelt energisch den Kopf und wendet sich dann wieder dem Fernseher zu. »Du siehst scharf aus.«
Ich bin schon den ganzen Tag nervös wegen der bevorstehenden Feier. Als ich versucht habe, mir einen Lidstrich zu ziehen, hat meine Hand gezittert.
In erster Linie habe ich zugesagt, um mir selbst eine Geschichte von meiner Existenz erzählen zu können, in der ich abends ausgehe. Manchmal habe ich das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich in Central London lebe und so wenig aus dem Haus komme. Dabei weiß ich durchaus, dass ich mehr Kontaktpflege betreiben sollte.
Wie um alles in der Welt bin ich bloß in einer Branche gelandet, in der sich alles darum dreht, die richtigen Leute zu kennen, wo ich doch von Natur aus eher zurückhaltend bin? Aber stimmt das überhaupt, oder ist das erst seit einiger Zeit so? Das Schlimmste an meinem gegenwärtigen Ich ist, dass ich mich selbst nicht mehr einschätzen kann. Ich fühle mich so haltlos und verwirrt, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wie ich früher war. Was ist neu oder eine Folge des unerfüllten Kinderwunsches, und was war immer schon da? Ich traue meinen eigenen Ansichten nicht mehr, kann mich auf nichts mehr festlegen.
Gerade als ich aufbrechen will, höre ich nebenan ein Baby schreien. Ernsthaft? Kann es sein, dass Harriet schwanger war und ein Kind zur Welt gebracht hat, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe? Werde ich das von nun an jeden Tag ertragen müssen? Ein Baby, das zum Kleinkind heranwächst, das lacht und plappert und Milch trinkt?
»Hast du das auch gehört?«, will ich von Tom wissen.
»Was denn?«, fragt er.
Ich versuche es zu vergessen. Ich hoffe – oder fürchte –, dass ich mittlerweile schon unter Halluzinationen leide und Kinder höre, wo gar keine sind. Plötzlich erscheint mir das möglich. Ich bin vollkommen durcheinander.
Beim Überqueren der Straße bleibe ich kurz stehen und schaue zu unserem Gebäude hoch. Doch sosehr ich auch den Hals recke, unsere Wohnung im fünfzehnten Stock geht in der Masse unter. Sie ist weit weg, unerreichbar.
Weiter unten sehe ich Licht und ein gekipptes Fenster. Im Erdgeschoss sitzt ein Mann auf seinem Fensterbrett, raucht eine Zigarette und schimpft lautstark in sein iPhone. Aus der Wohnung neben ihm dringen Neunzigerjahre-Popmusik und schrilles Gelächter. Das Pärchen ein Stockwerk höher hat eine Kerze angezündet, in deren Schein man ihre Silhouetten im Fenster sieht wie einen Scherenschnitt. Er küsst sie auf die Wange.
Es fühlt sich seltsam an, meine gewohnte Blase zu verlassen. Alle diese Menschen leben in meiner unmittelbaren Nähe, und trotzdem weiß ich nichts über sie. Sie sind unter mir, über mir und neben mir. Sie küssen sich, sie streiten, sie schlafen, sie tanzen. Sind sie krank, haben sie Schmerzen, sind sie traurig? Hatten sie heute einen guten Tag oder einen schlechten? Einen, der ihr Leben verändern wird? Haben sie sich heute von ihrer ersten großen Liebe getrennt, sich neu verliebt, oder waren sie einfach nur im Supermarkt, um Tiefkühlerbsen zu kaufen? Bestimmt fünf Minuten lang stehe ich da und überlege, wie mein Leben aus ihrer Perspektive aussehen mag. Ich überlege, wie andere mich sehen und was für Fragen ihnen dabei durch den Kopf gehen könnten. Für mich ist jeder dieser Menschen dort drinnen wie mein altes Ich. Ihnen zittert nicht die Hand, während sie das Handy einstecken. Ihnen bricht nicht der Schweiß aus, nur weil sie beschlossen haben, in eine Bar zu gehen.
Ein paar Minuten später kommt der Bus. Zusammen mit einer Woge Passagiere werde ich ins Innere geschwemmt, wo wir unsere Dauerkarten durch den Scanner ziehen und nach einem freien Platz Ausschau halten.
Früher sah so mein Alltag aus. Inzwischen zucke ich zusammen, wenn jemand Fremdes mir zu nahe kommt. Ich blicke auf meine Hände und sehe, dass sie immer noch nicht ruhig sind.
Im Bus sitze ich neben einer Mutter, die aus dem Fenster schaut, während ihr Kleinkind im Buggy vor sich hin brabbelt.
Ich strecke dem Kind die Zunge heraus.
»Ich mag deine Giraffe«, sage ich.
Es prustet.
Ich strecke noch einmal die Zunge heraus und grinse.
Als der Bus losfährt, werfe ich einen Blick zurück. Harriet ist gerade aus dem Haus getreten. Ich recke den Hals, um mehr zu sehen, doch der Bus fährt weiter, ehe ich die Gelegenheit dazu habe.
Es sind mehrere Tage vergangen, seit ich wegen der Frage, ob wir wegen des Babys zum Arzt gehen sollen, wütend geworden bin und Tom geweint hat. Ganz allmählich finde ich zurück ins Leben. Es ist ein ungewöhnlich milder Januartag, und die Sonne wärmt mich durchs Busfenster. Ein paar zaghaft positive Gefühle stellen sich ein.
Beim Aussteigen und als ich die letzten Meter bis zur Bar laufe, habe ich die Andeutung eines Lächelns im Gesicht.
»Lexie!«, grölt ein Mann, mit dem ich früher zusammengearbeitet habe und der schon mindestens drei Bier getrunken haben muss.
Ich bestelle ein Glas Rotwein, dann noch ein zweites und ein drittes. Mein schlechtes Gewissen, weil Alkohol angeblich die Fruchtbarkeit beeinträchtigt, schiebe ich resolut beiseite. Wir haben einen Plan gefasst. Dies hier ist gewissermaßen mein letztes Hurra.
»Pitch mir doch mal was«, sagt mein ehemaliger Redakteur zu mir.
»Mache ich«, verspreche ich und meine es ernst.
Und als ich den Blick durch die Bar schweifen lasse, über die Männer mit ihren gelockerten Krawatten und den Kellner, der sich durchs Getümmel schiebt und wissen will, wer die Pommes bestellt hat, denke ich bei mir: Keiner hier ist perfekt. Mit mir ist alles in Ordnung. Das wird sich schon wieder einrenken.
»Du warst so lange von der Bildfläche verschwunden, Lexie«, sagt Shona, während sie einen Arm um mich schlingt und mich drückt. »Wir haben dich vermisst.«
Und weil wir die Einzigen sind, die sitzen, während alle anderen stehen, treffe ich eine spontane Entscheidung.
»Es tut mir so leid«, sage ich und erwidere ihre halbe Umarmung. »Wir haben Probleme, ein Kind zu bekommen, das belastet mich ziemlich.«
Mit angehaltenem Atem warte ich ab. Jetzt habe ich es ausgesprochen. Ich habe es wirklich getan.
»Ach, Lexie«, seufzt sie. »Warum hast du denn nichts gesagt? Mir geht es genauso, deshalb wollte ich auch weg aus der Redaktion. Ich kann diesen Dauerstress einfach nicht mehr ertragen.« Sie hält inne. »Und deshalb …«
»Hast du Cola light bestellt«, beende ich lachend ihren Satz. »O Mann, die Schuldgefühle, wenn man mal ein Glas Alkohol trinkt, sind wirklich das Schlimmste, oder?«
»Schlimmer sind nur noch die Schuldgefühle, wenn man Zucker isst oder Weizen oder wenn man eine Duftkerze anmacht. Und die Schuldgefühle, wenn man sich fragt, ob man auch wirklich oft genug Sex hat«, entgegnet sie und verdreht die Augen.
Ich lache wie seit Langem nicht, und auf einmal fühle ich mich nicht mehr allein. So schnell geht das. Man vertraut sich jemandem an, man zeigt Empathie, und so gelingt es einem, selbst die traurigsten Dinge mit einer gewissen Portion Humor zu betrachten. Warum habe ich die ganze Zeit geglaubt, es gäbe ein ungeschriebenes Regelbuch, in dem steht, dass ich die Sache mit mir selbst ausmachen muss? Dass ich niemanden mit meinen Problemen behelligen darf? Dass es … geschmacklos ist, darüber zu sprechen?
Ein Psychologe würde die Gründe dafür vermutlich in meiner Kindheit suchen. Ich denke an meine Mutter, die ins Zimmer gewirbelt kam und gleich wieder verschwand, und an meinen Vater, der oft zwei Wochen am Stück beruflich unterwegs war. Es gab einfach keine Zeit, denke ich. Ich hatte nie die Gelegenheit, jemanden um Hilfe zu bitten oder darüber zu sprechen, was in mir vorging. Geschah das mit Absicht? Haben meine Eltern – Kinder der stoischen Nachkriegsgeneration – ganz bewusst vermieden, Momente der Nähe entstehen zu lassen, damit es ja nicht zu emotional wurde?
»Ich hoffe, es klappt bald bei euch«, sage ich, immer noch eng an Shona geschmiegt. »Du wärst eine total coole Mutter – auch wenn ich weiß, dass es blöd ist, wenn andere Leute einem so was sagen.«
Sie drückt mich noch einmal.
»Wir müssen uns unbedingt mal wieder treffen«, schlage ich vor. »Ich wäre sogar bereit, was absolut Verrücktes zu tun und dir eine Holunderblütenlimonade zu spendieren!«
Ich spüre, wie ihre Schultern beben, und weiß nicht, ob sie lacht oder weint. Nur für alle Fälle drücke ich sie noch ein bisschen fester.
Ich bin nicht die Einzige, die einen unerfüllten Kinderwunsch hat und deren Leben ganz davon vereinnahmt wird. Sie sind überall, die anderen Ichs. Ich war nur so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich sie gar nicht wahrgenommen habe. Aber ich möchte sie wahrnehmen. Ich möchte zu ihnen gehören, ihnen beistehen und sie in die Arme schließen. Ich lasse Shona nicht los.