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Lexie

Juni

Ich weine so heftig, dass es so klingt, als würde ich lachen, aber das täuscht. Das täuscht gewaltig. Im Gegenteil, ich mache mir ernsthafte Sorgen um meine psychische Gesundheit, denn was gerade passiert ist, kann doch nur eine Halluzination gewesen sein. Ich kann nicht glauben, dass ich ihr entkommen bin. Dass mein Baby ihr entkommen ist.

Doch genau so muss es gewesen sein, denn ich liege nicht länger unter Harriet auf dem Sofa, sondern stürze den Flur entlang und trommle panisch gegen Wohnungstüren. Einige Nachbarn öffnen, ziehen sich jedoch augenblicklich mit beunruhigter Miene wieder zurück – als wäre ich diejenige, vor der sie Angst haben müssen. Sie stecken nur einmal kurz den Kopf aus der Tür, um sich vorgaukeln zu können, dass sie gute Menschen sind, die vor der Not anderer nicht die Augen verschließen. Alles darüber Hinausgehende würde ihren nachbarschaftlichen Aufgabenbereich überschreiten.

Hauptsache, niemand bringt die Anonymitätsblase zum Platzen. Dies hier ist kein Haus, in dem man sich nebenan eine Tasse Zucker borgt. Wir leben hier nicht in der Vorstadt. Ich stecke falsch eingeworfene Post in ihren Briefkasten, aber wenn sie neben mir im Aufzug stehen, tue ich so, als wären sie gar nicht da. Der Status quo muss um jeden Preis erhalten bleiben.

»Ich brauche Hilfe!«, schreie ich in höchster Verzweiflung.

Mein Handy liegt noch bei Harriet. Tom ist nicht zu Hause, und irgendjemand muss unbedingt etwas tun. Jemand muss mir Tee kochen und mir Kekse zu essen geben. Jemand muss die Polizei verständigen und mir ein Taxi rufen, das mich ins Krankenhaus bringt. Jemand muss mich streicheln, statt mir Gewalt anzutun. Jemand muss überprüfen, ob es meinem Baby gutgeht.

Doch die Frau, die durch den Türspalt linst, hat die Kette vorgelegt.

»Was ist bloß los mit Ihnen?«, fahre ich sie an, was sie in ihrem Argwohn mir gegenüber nur zu bestätigen scheint.

Sie ist nicht hierhergezogen, um Teil einer Gemeinschaft zu sein und sich um ihre Mitmenschen zu kümmern. Sie ist hierhergezogen, weil sie die Tür hinter sich abschließen kann und die Namen ihrer Nachbarn nicht zu kennen braucht. War ich, wenn ich ehrlich bin, nicht genauso?

Endlich gelingt es mir, mich so weit zu beruhigen, dass ich aus eigener Kraft mit dem Taxi ins Krankenhaus fahren kann. Dort rede ich hysterisch auf die Schwester am Empfang ein und sorge für verstörte Blicke im Wartebereich.

»Ich wurde angegriffen!«, rufe ich und erschrecke über meine eigenen Worte. »Ich bin schwanger, und meine Nachbarin hat mich tätlich angegriffen. Sie war in der Vergangenheit schon gewalttätig.«

Man alarmiert für mich die Polizei, dann werde ich zur Ultraschall-Untersuchung gebracht.

Ich halte den Atem an und streichle unablässig meinen Bauch.

Ich weine, als säße etwas in mir fest, dass unbedingt raus muss, und sage meinem Baby – seit heute bin ich mir sicher, dass es ein Mädchen wird –, wie leid es mir tut, dass sie so etwas durchmachen musste, bevor sie auch nur Gelegenheit hatte, Luft zu atmen, Milch zu trinken und in der Welt anzukommen.

»Mit dem Baby ist alles bestens«, teilt die Ärztin mir mit.

Weil es das beste Baby ist.

Ich liege einfach nur da. Länger als nötig – länger, als die von den gesetzlichen Krankenkassen festgelegten Behandlungsrichtlinien es erlauben. Aber ich kann mich einfach nicht rühren. Unverwandt starre ich auf den Monitor und auf mein Baby. Die ganze Aufregung hat meine Kleine völlig kaltgelassen. Während Harriet und ich uns immer weiter hochschaukelten, hat ihr Herz ruhig und gleichmäßig weitergeklopft, in einem Rhythmus, der mir und den Ärzten verrät, dass es ihr gutgeht.