15
Harriet

Januar

Ich sitze in einer Bar und beobachte Lexie. Ich bin neugierig, wie sie tickt und was sie macht, wenn sie allein ist – so ähnlich wie an dem Tag, als ich Tom nach Hunstanton gefolgt bin.

Aber Lexie ist nicht allein, dafür weiß sie zu sorgen.

Lexie lacht und trinkt Wein. Ich trinke auch Wein, und zwar deutlich schneller als sie, aber ich lache nicht dabei.

Angst, dass sie mich bemerken könnte, habe ich nicht, denn es ist dunkel und voll hier drin, und sie ist – natürlich – von Freunden umlagert.

Ich kann in aller Ruhe hier sitzen und ihr aus sicherer Entfernung zusehen. Sie betastet Haare und Gesicht mit der Hand, dann zupfte sie an ihrem Rock. Nervös, Lexie? Denkst du gerade an das YouTube-Baby, das du hast schreien hören, bevor du gegangen bist? Ich sehe, wie sie Alkohol trinkt, und tadle sie im Stillen dafür. Im Zuge meiner intensiven Online-Recherchen zum Thema Kinderwunsch habe ich erfahren, dass Alkohol Gift für die Fruchtbarkeit ist. Na, na, na, Lexie. Weiß Tom, dass du mit jedem Schluck aus deinem großen Rotweinglas eure Chancen auf Nachwuchs wegsäufst? Aber im Grunde genommen hast du sowieso kein Baby verdient. Im Grunde genommen hast du dein ganzes perfektes Scheißleben nicht verdient.

»Darf man dir Gesellschaft leisten?«, fragt ein Mann, der leidlich attraktiv, allerdings für meinen Geschmack zu klein ist.

Ein flüchtiger Blick auf seine Kleider verrät: Dies ist kein Mann, der bei anderen als cool gelten würde. Also ignoriere ich ihn und schaue weiter geradeaus. Er will noch etwas sagen, doch ihm fällt nichts mehr ein, deshalb tritt er den Rückzug an – noch ein wenig kleiner und unbeholfener als zuvor. Mein schlechtes Gewissen meldet sich, allerdings nur kurz. Ich muss mich aufs Wesentliche konzentrieren.

Ich sehe, dass Lexie im Gegensatz zu den anderen aus ihrer Gruppe in ein ernstes Gespräch vertieft zu sein scheint. Ein persönliches Gespräch. Ich versuche ihren Gesichtsausdruck und den der anderen Frau zu deuten, vielleicht lässt sich so herauszufinden, worum es geht. Die andere Frau trinkt Cola light. Irgendwann liegen sich die beiden in den Armen, als würde eine von ihnen bald sterben.

Als Lexie zur Toilette geht, gehe ich mit – wie Freundinnen! – und schlüpfe in die Kabine neben ihr. Dort bleibe ich und beobachte sie durch den Spalt, während sie sich die Hände wäscht, ihren Lippenstift auffrischt und dabei fröhlich vor sich hin summt.

»Und? Wie läuft’s so mit der Selbstständigkeit?«, fragt die Frau neben ihr, während sie kritisch ihre Augenbrauen inspiziert.

»Es gibt Höhen und Tiefen«, antwortet Lexie offen. »Aber größtenteils bin ich froh, den Schritt gewagt zu haben.«

Das haben wir beide gemeinsam, Lexie. Vielleicht könnten wir Freundinnen werden. Wenn ich nicht im Begriff wäre, dein Leben zu zerstören.

Sie fährt fort. »Es hat Vorteile, dass man sich die Zeit frei einteilen kann, aber es ist definitiv einsamer als früher in der Redaktion.«

»Jetzt gibt es donnerstags keine Chips mehr zum Abendessen, was?« Ihre Freundin lächelt, lässt von ihren Augenbrauen ab und wendet sich Lexie zu.

Die lacht schallend.

»Nein, keine Chips mehr zum Abendessen«, klagt sie. »Mann, ich vermisse Chips zum Abendessen.«

Nachdem sie weg sind, kehre ich an meinen Platz am Tresen zurück, wo ich meine Weinflasche nehme, mir nachschenke und meine Observierung fortsetze.

Um halb zwölf bricht sie auf, und ich folge ihr. An der Straßenecke bleibt sie kurz stehen und tauscht ihre hohen Schuhe gegen Ballerinas. Ich bin nah genug dran, um ihren Seufzer der Erleichterung zu hören, als ihre Zehen endlich wieder Platz haben.

Wir nehmen den gleichen Bus nach Hause. Ich sitze einige Reihen hinter ihr, das Gesicht in meinem Schal verborgen. Aber sie würde mich ohnehin nicht bemerken. Sie ist ganz mit ihrem Handy beschäftigt.

Ich rufe ihre Social-Media-Seiten auf und sehe, dass sie dabei ist, etwas zu posten. Dann fällt mein Blick auf die überschwänglichen Kommentare zu einem ihrer Selfies. Sie sieht wirklich gut darauf aus. Ich schaue hoch. Sie sieht auch in echt gut aus. Trotzdem logge ich mich in den Account ein, den ich unter falschem Namen eingerichtet habe, und verfasse einen gemeinen Kommentar, in dem ich sage, wie alt und hässlich sie ist. Als sie die Schultern hängen lässt, weiß ich, dass sie ihn gerade gelesen hat. Glas, Lexie. Dünnes Glas. Sehr zerbrechlich.

Zu Hause angekommen, betritt sie den Fahrstuhl, und unser gemeinsamer Abend ist zu Ende. Ich warte noch einige Minuten lang vor dem Gebäude, ehe ich hineingehe.

Als ich in meine Wohnung komme, höre ich, wie Tom nebenan Computer spielt und sich dabei in sanft besorgtem Ton mit der ziemlich angetrunkenen Lexie unterhält. Er klingt überhaupt nicht genervt oder wütend.

»Wirklich, Tom?«, sage ich laut. »Bist du nicht mal ein kleines bisschen sauer, weil sie sich betrunken hat, obwohl sie versucht, schwanger zu werden?«

Unwillkürlich muss ich daran danken, wie Luke reagiert hat, wenn ich zu viel getrunken hatte. Er regte sich dann immer fürchterlich auf, und wenn ich am nächsten Tag unter meinem Kater litt, kamen von ihm nichts als Vorhaltungen darüber, wie peinlich ich mich benommen hätte. Er selbst war in alkoholisiertem Zustand immer blendend aufgelegt und witzig wie nie. Meinte er. Meinten seine Freunde.

Ich schleudere meine Handtasche gegen die Wand.

Als ich mich ein wenig beruhigt habe, setze ich mich aufs Sofa und schreibe eine Antwort auf Toms letzte Mail.

Vielen Dank für deine Ratschläge.

Mehr fällt mir nicht ein. Ich möchte auf keinen Fall so klingen, als würde ich mit ihm flirten. Der nette, anständige Tom würde den Kontakt womöglich sofort abbrechen. Trotzdem muss ich dafür sorgen, dass unsere Kommunikation nicht im Sande verläuft. Ich will ihn unbedingt besser kennenlernen, und die Geräusche auf der anderen Seite der Wand reichen dafür bei Weitem nicht aus. Seine Ähnlichkeit zu Luke macht mich schier wahnsinnig. Ich komme einfach nicht an ihn heran. Deshalb habe ich auch Alexa das Babygeschrei abspielen lassen. Nur ein paar Kleinigkeiten, die sie zermürben sollen, bis ihr Elend irgendwann größer wird als ihr Glück. Dann kann es einen Neustart geben. Lexie kann sich ihr eigenes Leben aufbauen. Tom kann mit mir zusammen sein.

Seit ich Lexies wütendes Gezeter und Toms resignierte Reaktion darauf gehört habe, frage ich mich ohnehin, ob die Dinge dort drüben so perfekt sind, wie ich dachte. Oder habe ich mir den Streit bloß eingebildet?

Meine Therapeutin aus der Klinik würde bestimmt sagen, dass ich Lukes und meine Beziehung auf Tom und Lexie projiziere und ein Bild von ihnen male, das nicht der Realität entspricht, so wie ich es früher bei Luke und mir gemacht habe.

Was soll’s? Wir werden nie erfahren, was meine Therapeutin dazu sagen würde. Ich habe nämlich schon vor geraumer Zeit beschlossen, die Therapie abzubrechen, ungeachtet der Tatsache, dass wir angeblich »noch viel Arbeit vor uns haben«. Einmal hat sie allen Ernstes behauptet, ich sei in meiner Beziehung von Luke missbraucht geworden. Danach bin ich nicht mehr hingegangen. Es gefiel mir nicht, dass sie sich so abfällig über ihn äußerte.

Ich höre, wie nebenan etwas auf den Tisch geknallt wird. Eine Bierflasche? Ein Laptop? Will Tom nachschauen, ob Rachel ihm geantwortet hat? Ich schreibe ihm, dass ich das von ihm empfohlene Buch auf jeden Fall bestellen werde und es großartig fände, wenn er für mich den Kontakt zu seinem Kollegen herstellen könnte. Dann füge ich noch ein paar sentimentale Zeilen über meine Leidenschaft hinzu.

Davon wird mir übel, aber ich schicke die Mail trotzdem ab. Die Antwort bleibt aus, was mich ärgert, weil Tom im Moment nämlich nichts Wichtigeres zu tun hat, als ein todlangweiliges Fußballspiel im Fernsehen zu schauen, das am Ende null zu null ausgeht. Das weiß ich, weil ich mir – zu Forschungszwecken und ohne Ton – die Partie ebenfalls anschaue.

Gleichzeitig ist er auf seinen Social-Media-Seiten aktiv und postet einen Fußballwitz mit einem Foto vom Spiel. Das alles geschieht wenige Meter von mir entfernt. Mich packt der Zorn, dass ich – Rachel – auf seiner Prioritätenliste so weit unten stehe.

Dann höre ich, wie er und Lexie sich trotz des Streits vor ein paar Tagen ganz normal unterhalten. Scheiß auf die beiden und ihr unkaputtbares Beziehungsglück. Ich werfe die Fernbedienung gegen die Wand.

Ich gehe ins Bett und knalle absichtlich laut die Tür. Ich denke an Tom, aber wenn ich an Tom denke, fällt es mir schwer, nicht auch an Luke zu denken. Die Realität verliert schon wieder ihre Schärfe, und die beiden verschwimmen zu einer Person.

Luke lernte mich kennen, als ich gerade an einem absoluten Tiefpunkt angelangt war. Sechs Monate zuvor hatte ich mich von meinem Freund Ray getrennt, weil ich wusste, dass die Leute ihn uncool fanden. Ich wollte einen Freund, der mich aufwertete.

Jetzt fehlte er mir mit seinen zu kurzen Jeans und seiner Gabe, mich immer und überall zum Lachen bringen zu können. Aber er war bereits wieder vergeben. Er hatte eine Frau gefunden, die stolz auf ihn war; eine Frau, die genug Selbstbewusstsein hatte, dass es sie nicht kümmerte, was andere Leute von ihm dachten. Seitdem wusste ich nicht mehr, wohin mit mir. Ich driftete von einem Bekanntenkreis zum nächsten. Eine Weile tat ich so, als wäre ich eine Künstlerin. Ich kaufte mir weite, bunt gemusterte Hosen und redete ausufernd über meine Liebe zu dem Dramatiker Joe Orton, ehe ich mich für eine andere Rolle entschied, die besser auf mich zugeschnitten schien: das Partygirl. Sie war wirklich ideal, weil man sich dafür weder ein neues Hobby noch irgendwelche Requisiten zulegen musste – es sei denn, man möchte es als Hobby bezeichnen, wenn man sich fast jeden Abend bis zwei Uhr morgens Alkohol in den Hals gießt, um dann in ein fremdes Waschbecken zu kotzen. Und meine Requisite war billiger Wodka.

Ich schlief mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Ich vermisste Ray und konnte mich selbst nicht ausstehen. Schon damals hatte ich das Bedürfnis, mich zu verdünnen.

Dann war ich eines Abends bei einer prätentiösen Freundin eingeladen, die gerade von ihrem Sabbatjahr in Europa zurückgekehrt war und seitdem für alles Spanische schwärmte. Dementsprechend tranken wir Sherry.

»Eigentlich mag das Zeug doch keiner, oder?«, sagte ein Partygast unverblümt mit einem Grinsen. »Es schmeckt nach Pilzen.«

Ich war geschockt. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, die Wahl eines dermaßen erlesenen Getränks mit etwas anderem als Zustimmung und staunender Bewunderung zu quittieren. Der Typ war noch relativ neu in ihrem Freundeskreis, irgendjemand von der Arbeit, und ich gab mein Bestes, ihn zu beeindrucken. Oder vielmehr: Ich gab mein Bestes, nicht unangenehm aufzufallen. Ist das eigentlich dasselbe?

So oder so, ich fand diesen Mann, der mit seiner Meinung über Sherry nicht hinterm Berg hielt, kühn und beeindruckend. Die anderen klopften ihm lachend auf den Rücken. Er war beliebt, ein guter Kumpel – und attraktiv, wie mir auffiel, als ich ihn mir näher ansah. Sehr, sehr attraktiv.

Lukes Selbstvertrauen wuchs mit jedem Schluck, den er trank. Ich hörte, wie er mit einem Gast über Stierkämpfe diskutierte, um sich kurz darauf mit einem anderen über Rioja zu unterhalten. Er legte den Leuten die Arme um die Schultern und knuffte sie freundschaftlich in die Rippen.

Und dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf mich.

»Hast du schon mal englischen Wein probiert?«, fragte er aus heiterem Himmel und sah mich an. »In Sussex produzieren sie einen ganz passablen Tropfen.«

Er legte die Hand an meine Taille und lotste mich zu einem Sofa in der Ecke neben dem Hinterausgang. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich überhaupt wahrnehmen würde, und zitterte am ganzen Leib.

Eingeschüchtert verneinte ich, während ich verstohlen seine wilden Locken bewunderte.

Die Vorstellung, mit jemandem wie ihm zusammen zu sein, der Weinkenntnisse und klare Ansichten zu allen Dingen besaß, war für mich vollkommen unrealistisch. Er war genau das, wonach ich gesucht hatte, aber er konnte unmöglich an mir interessiert sein. Vollkommen ausgeschlossen.

Doch dann drehte unsere Freundin die Musik aus und begann Hemingway vorzulesen wie eine Grundschullehrerin, die ihrer Klasse Roald Dahl näherbringen will.

»Schnaps?«, wisperte Luke mir ins Ohr und nahm meine Hand.

Es waren so viele Leute da, dass unser Verschwinden gar nicht auffiel. Luke zog mich zur Hintertür hinaus und die Straße hinunter in den einzigen englischen Pub im Ort, und ich lachte Tränen, als er unterwegs ihre Hemingway-Rezitation nachahmte. Inzwischen hatte ich so viel Alkohol intus, dass ich nicht mehr komplett mit Stummheit geschlagen war.

»Ich wünschte, alle Bars in Amerika wären so wie die hier«, sagte er ein wenig zu laut, als ich mich umsah und verwirrt den Snookertisch beäugte. Ich war noch nie in einem englischen Pub gewesen. Jetzt wurde mir auch klar, warum.

Er bestellte uns etwas zu trinken, und erst als wir uns hinsetzten, fiel mir auf, wie alkoholisiert er bereits war. Die Unterhaltung zerfaserte zusehends, und schließlich standen wir auf, um zu tanzen, obwohl es keine Bar war, in der man tanzte, und ich viel zu große Hemmungen hatte, mich frei zu bewegen.

»Na, komm schon!«, sagte er und drehte mich, den Takt der Musik ignorierend. »Du bist zu schön, um nicht zu tanzen! Tanz, tanz, tanz!«

Es klang wie ein Anfeuerungsruf. Er überging meine Proteste, und eine halbe Stunde später hatte ich den Geschmack von Hefe und Hopfen auf der Zunge, als er mich küsste. Es war ein harter, tiefer Kuss. Ich war noch nüchtern genug, um zu merken, dass es nicht nur keine Bar zum Tanzen, sondern auch keine Bar zum Küssen war, doch ich versuchte, diesen Umstand auszublenden. Lukes Adlernase stieß gegen meine. Ich hatte die Hände in seinem Nacken verschränkt, genau da, wo seine zerzausten Locken anfingen.

»Gehen wir noch zu mir?«, lallte er.

Ich wollte lieber nach Hause und schlafen, außerdem war er kaum noch bei Sinnen. Aber ich ging trotzdem mit, denn er war so wunderschön, und er wollte mich, und er sah mir in die Augen, und am Ende hatten wir Sex, der ziemlich schnell vorbei war und sich anfühlte wie ein One-Night-Stand.

Bis er mir zwei Tage später eine Nachricht schickte.

Ich habe einen Laden gefunden, der englischen Wein verkauft. Lust auf eine Verkostung?

Das kam mir glamourös und abenteuerlich vor. Genauso sollte das Leben sein, wenn man Mitte zwanzig war: aufregend, spektakulär. Luke war nicht irgendein Junge, mit dem man Bier trinken und Sex haben konnte; er hatte Stil, er war erwachsen, er trank frischen Weißwein aus England.

Wenige Minuten später bekam ich eine Nachricht von unserer gemeinsamen Freundin.

Ich hab gesehen, dass du vorvorgestern mit Luke mitgegangen bist. Er ist ein charmanter Typ, aber … Sei einfach vorsichtig, okay?

Ich verdrehte die Augen. Jemand war eifersüchtig auf mich, das war neu. Dann dachte ich nicht weiter darüber nach. Stattdessen kreisten meine Gedanken in den kommenden Wochen nur noch um die französischen Restaurants, in die Luke mich ausführte, und die Theaterbesuche, die er für uns organisierte. Um seine intensiven Blicke und die Komplimente, die er mir machte. Um die Bücher, die er mir lieh, und die Filme, die er mir empfahl. Um seinen großen, schlanken Körper, um seine Locken und um seine langen Arme, die mich in seinen Wagen oder in ein wunderschönes Hotelzimmer mit riesengroßem Luxusbad geleiteten.

Etwa ein halbes Jahr lang vergaß ich die Warnung unserer Freundin. Dann war – zu meinem großen Erstaunen, wenn nicht gar Entsetzen – aus meinem One-Night-Stand Luke und mir ein Paar geworden. Ein richtiges Paar.

Am Ende dieses halben Jahrs zogen wir zusammen zu vier seiner Kollegen. Ich hätte gerne eine Wohnung nur für uns beide gehabt, aber er meinte, das würde noch kommen. Er sagte es als eine reine Tatsachenbehauptung, die keinen Raum für Diskussion ließ. In der Zeit, die wir nun schon zusammen waren, hatte sich das Kräfteverhältnis zwischen uns allmählich verschoben. Ich hatte begriffen, wie es lief. In der ersten Nacht hatte ich ihm nachgegeben. Damit hatte ich einen Präzedenzfall geschaffen.

Wir sprachen auch nicht darüber, wie sehr ich meine beste Freundin und bisherige Mitbewohnerin Frances vermissen würde. Sie hatte vorgeschlagen, Luke könnte auch bei uns einziehen, das würde für uns nur unwesentlich mehr Miete kosten.

Frances war ein solider Mensch, und ihre Solidität übertrug sich auf mich. Wenn sie mich lustig fand, wurde ich automatisch lustiger. Wenn sie mich klug fand, wurde ich klüger. Vor meinem inneren Auge sah ich das gerahmte Foto von uns beiden, das in unserem Wohnzimmer stand. Es war auf einer Weihnachtsparty aufgenommen worden, die wir veranstaltet hatten, bevor ich Luke begegnet war. Wir beide, aufgedonnert und geschminkt, drücken unsere Gesichter aneinander, und Frances hat einen kleinen Spritzer Eierpunsch am Kinn.

Am Morgen nach der Party war sie verkatert zu mir ins Bett geklettert, und wir hatten alte Folgen von Friends im Fernsehen angeschaut. Wir hatten laut über den Tanzwettstreit gekichert, der am Vorabend in unserem Wohnzimmer stattgefunden hatte. Die Songs hatten alle zwanzig Sekunden gewechselt – immer wenn ein anderer beschwipster Gast einen Geistesblitz hatte und ein neues Stück auf seinem Handy abspielte.

»Können wir das ab jetzt jedes Jahr machen?«, hatte ich gefragt, während wir unsere pochenden Schädel auf mein Kopfkissen betteten. »Das hat sooo viel Spaß gemacht.«

»Solange wir noch hier sind«, hatte Frances geantwortet.

»Gott, wie deprimierend.«

»Ich meinte doch nicht, dass wir sterben, du blöde Kuh.« Frances hatte angefangen zu glucksen, und prompt hatten wir einen Lachanfall bekommen, wie ihn nur die ganz besondere Kombination aus Schlafmangel, Kater, Glückseligkeit und Jugend auslösen kann. »Aber wer weiß, vielleicht verlieben wir uns ja beide unsterblich und ziehen an den Stadtrand, um Nachwuchs in die Welt zu setzen.«

Ich hatte gelacht, als wäre das eine vollkommen absurde Idee. Aber es blieb bei dieser einen Weihnachtsparty, denn ich lernte Luke kennen und zog aus – wenn auch nicht an den Stadtrand, sondern in eine verlotterte WG einige Straßen weiter, in der ich fortan den Abwasch für sechs Personen erledigen durfte.

Mir war nicht klar, weshalb Luke Frances’ Angebot, bei uns einzuziehen, abgelehnt hatte. Vielleicht hatte er Angst gehabt, sie könnte ihn durchschauen. Für die kurzen Phasen, in denen die beiden miteinander zu tun hatten, verfügte er über ausreichend Charisma, sodass sie keinen Verdacht schöpfte. Sie ahnte nicht, dass sich der Charakter unserer Beziehung nach den ersten Wochen voller ausländischer Weine, Restaurantbesuche und Komplimente verändert hatte. Jetzt bekam ich immer öfter subtile Beleidigungen, Sticheleien oder kleine Gemeinheiten von ihm zu hören. Ich hatte mir angewöhnt zu lügen, die Wahrheit zu verdrehen und abzuwiegeln, selbst Frances gegenüber. Innerlich klammerte ich mich an die Erinnerung dieser ersten Wochen und schrieb eine alternative Geschichte unserer Beziehung, in der ich alles Negative unterschlug. Eine Geschichte, die die Zeit umkehrte und die Ereignisse verzerrte. Damit überzeugte ich Frances. Damit überzeugte ich sogar mich selbst.

Aber der Hauptgrund, weshalb Luke nicht mit Frances zusammenwohnen wollte, war, dass es meine Idee gewesen war. Mein Wunsch. Im Laufe der Zeit war mir klar geworden, dass er Wünsche oder Ideen von mir nicht duldete.

Aber das machte mir nichts aus. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass Luke eigentlich viel zu gut für mich war und ich mich umso mehr ins Zeug legen musste, um dieses Ungleichgewicht wettzumachen. Wenn ich mir nur genug Mühe gab, würde wieder eine Zeit der Restaurantbesuche kommen. Dann würde er wieder bei einem Glas englischem Wein meine Wange streicheln. Manchmal – sehr selten – lachte er. Dann blitzte kurz der frühere Luke auf, und meine Entschlossenheit wuchs.

»Schon komisch«, hatte er bei einem unserer ersten Dates zu mir gesagt. »Auf dem Weg zu der Party damals habe ich mir überlegt, dass ich gerne mal wieder eine Freundin hätte.«

In dem darauf eintretenden Schweigen hatte ich gedacht: Und da hast du mich einfach mitgenommen wie eine Schachtel Kekse?

Doch im Grunde hatte er damit lediglich meine Vermutung bestätigt. Ich bin immer schon der Auffassung gewesen, dass niemand mich aufrichtig lieben kann. Bei mir kommt es ganz auf die richtigen Umstände an. Etwa, wenn der Mann, der nebenan wohnt und auf den man es abgesehen hat, zufällig gerade eine Beziehungskrise durchmacht.