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Harriet

Als mein Prozess kam, war das Schlimmste nicht das Urteil. Aufgrund eines Gutachtens, das meinen Alkoholkonsum, meine Depression und meinen unkontrollierten Medikamentenentzug beschrieb, lief es am Ende auf eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung hinaus. Nein, das Schlimmste war, dass Luke zur Verhandlung kam. Er saß auf der Seite der Guten im Publikum und starrte quer durch den Saal in Richtung Anklagebank.

Wir hatten die Plätze getauscht, und das gefiel ihm nicht. Er starrte mich an, als wolle er mich zwingen, seinen Blick zu erwidern. Ich zitterte am ganzen Leib und sah nicht hin.

Auch nach meinem Wutausbruch in der Klinik bemühten sich meine Eltern weiter um mich. Meine Mutter schrieb mir lange Briefe, in denen sie manchmal Fragen stellte, manchmal aber auch von der süßen Enkeltochter der Nachbarn oder von einem neuen Rezept erzählte, das sie mit englischem Cheddar zubereitet hatte. Ob ich den schon mal probiert hätte? Er schmecke wirklich köstlich. Belangloses Geschwätz von der anderen Seite des Atlantiks. Ich schrieb nie zurück.

Sie rief auch jede Woche an. Ich nahm ab, sagte aber kein Wort.

»Bitte, sag mir doch wenigstens, ob es dir gut geht«, schluchzte sie. »Und wenn nicht, dann lass mich dir helfen.«

Ich starrte die Wand an. Eines Tages antwortete ich schließlich doch.

»Ich bin erwachsen«, sagte ich und musste mich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. »Ich habe dir gesagt, dass ich es so will. Wenn du möchtest, dass ich schnell wieder gesund werde, dann lass mich in Ruhe.«

Ich hörte sie schluchzen, ehe ich auflegte und meine eigenen Tränen in dem dünnen, traurigen Krankenhauskissen erstickte. Danach weigerte ich mich, ihre Anrufe entgegenzunehmen.

Es war Zorn, vermischt mit Scham, vermischt mit Sehnsucht, vermischt mit Liebe, und diese Kombination war einfach zu viel für mich. Wenn man in einem anderen Land lebt, ist es einfacher, den Kontakt zur Familie abzubrechen. Und wenn man in einer geschlossenen Anstalt sitzt, erst recht.

Insgesamt verbrachte ich drei Monate in der Klinik, danach folgten eine intensive Psychotherapie und höhere Dosen Antidepressiva.

Nach meiner Entlassung spalteten sich meine Freunde in zwei Lager: Es gab diejenigen, die mich in der Zwischenzeit blockiert, gelöscht und aus ihrem Leben gestrichen hatten, und es gab die anderen, die sich rührend um mich bemühten, von mir aber trotzdem abgewiesen wurden. Es gab nur eine, die ich wirklich brauchte. Eine, die ich nicht loslassen konnte.

»Glaubst du, du kannst immer noch meine Freundin sein?«, fragte ich leise und voll zaghafter Hoffnung, während ich im Bett lag und mit Frances telefonierte. Mit meiner lieben, lieben Frances.

Wir standen uns nicht mehr so nahe wie vor meiner Beziehung mit Luke und dem Umzug nach London, aber sie hatte mir einmal eine Postkarte geschrieben. Du wirst immer meine beste Freundin sein, hatte darauf gestanden. Ich bewahrte sie in einem Band mit Gedichten von Emily Dickinson neben meinem Bett auf. Sie war eins der wenigen Dinge, die ich in die Klinik mitgenommen hatte, denn es war das einzige Mal, dass mich jemand als seine beste Freundin bezeichnet hatte. Außerdem hatte Frances im Gegensatz zu allen anderen Freunden keine Verbindung zu Luke. Sie gehörte in allererster Linie mir.

»Ich habe dich wirklich lieb, Harriet«, seufzte sie. »Und es tut mir echt leid, aber ich muss jetzt Schluss machen. Ich muss Essen kochen für die Kinder und den Hund füttern. Aber ich rufe dich bald wieder an, okay?«

Der Lärm ihrer turbulenten Familie schwappte durch die Leitung, und wenig später kehrte sie in ihre reiche, glückliche Welt zurück, während auf mich die Stille wartete. Sie rief zwar weiterhin an, doch es fiel mir schwer, am Telefon über das zu sprechen, was passiert war. Der Graben zwischen uns war schon zu tief, und im Verlauf der Wochen wuchs er immer weiter. Ich hatte das Gefühl, sie durch meine bloße Existenz zu beschämen. Irgendwann meldete ich mich nicht mehr bei ihr und machte es ihr leichter, mich zu vergessen.

Von einer Social-Media-Seite, die er zu löschen vergessen hatte, wusste ich, dass Luke zurück in die Staaten gezogen war. Aber mehr wusste ich nicht. Nach dem Gerichtsverfahren schien er sich geradezu ausradiert zu haben. Bei Naomi war es genauso. Ich fand keine Spur mehr von ihnen im Internet, weder Updates noch Bilder noch sonst irgendein Lebenszeichen. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.

Mir blieben nur mein kaum existierender Kontakt zu David und die Gewissheit, dass ich nicht sturzbetrunken und daher unzurechnungsfähig gewesen war. Ich war auch nicht gestolpert. Es war eine bewusste Entscheidung gewesen, die Tasse zu nehmen. Ich hatte es mit Absicht getan.