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Lexie

April

Ich bin schon wieder nicht schwanger. Dazu kommt, dass aufgrund der Hormonpräparate, die ich nehme, meine Regelschmerzen so unerträglich stark sind, dass ich nichts anderes tun kann, als rastlos in unserer kleinen Wohnung auf und ab zu schleichen – wobei ich schätzungsweise alle drei Sekunden die Richtung wechseln muss – und dabei möglichst leise vor mich hin zu wimmern, um die Nachtruhe nicht zu stören.

Dabei höre ich von nebenan etwas, das sich nur als Sexgeräusche deuten lässt. Diese Sexgeräusche sind ein besseres Schmerzmittel als alle Tabletten, die ich jemals geschluckt habe, denn ich bin ein von Natur aus neugieriger Mensch, und das hier ist die ideale Ablenkung.

Harriet hat Sex! Normalerweise hören wir spätnachts aus ihrer Wohnung höchstens Partylärm – das ist oft lästig, aber es fällt schwer, sich darüber aufzuregen, wenn man mitten im Zentrum von London wohnt und praktisch rund um die Uhr irgendwelche Idioten unten am Fenster vorbeigehen. Wir sind Lärm gewohnt.

Diesen Lärm allerdings höre ich nicht so oft.

Ich bin am Boden zerstört, weil Tom nicht da ist; es ist enttäuschend, niemanden zu haben, mit dem man im Bett darüber tuscheln kann, was nebenan vor sich geht. Aber dann frage ich mich: Würde ich das in meinem momentanen Zustand überhaupt tun? Alles ist so anders geworden. So freudlos.

Ich liege noch lange wach. Nachdem ich aufgehört habe, mich vor Schmerzen zu winden, denke ich an meine Nachbarin, die sich aus ganz anderen Gründen gewunden hat. Hat sie einen Freund oder einen Lover? Ein Date oder einen One-Night-Stand?

Ich weiß nicht, warum ich nicht aufhören kann, mir Gedanken über Harriet und ihr Leben zu machen, das mir so nah und zugleich so fern ist. Ich denke darüber nach, wie Ehrfurcht gebietend schick sie immer aussieht, wenn ich ihr zufällig im Hausflur begegne. Oft habe ich das Gefühl, sie zu kennen, muss jedoch eingestehen, dass mein Wissen über sie große Lücken aufweist. So habe ich beispielsweise keine Ahnung, ob sie in einer Beziehung ist oder wen sie liebt.

Ich denke darüber nach, wie viel Geld sie verdienen muss, um sich ganz allein eine Wohnung in diesem Haus leisten zu können. Das ist beeindruckend, erst recht für jemanden in der Kreativbranche, der vermutlich freischaffend tätig ist.

Ich denke darüber nach, dass sie all das ist, wovon ich früher gehofft habe, dass ich es mit dreißig sein würde. Und darüber, wie weit diese Hoffnungen von meiner derzeitigen Realität entfernt sind.

Und dann denke ich an Tom, der beruflich unterwegs ist und in einem fremden Bett schläft. Allein? Ich glaube schon. Ich hoffe es.

Wenn Tom mich betrügen würde, wäre es dann mit einer Frau wie Harriet? Mit einer Frau, die ihr Leben im Griff hat, aber trotzdem für jeden Spaß zu haben ist? Für die der Freitagabend immer noch dazu da ist, um trinken oder tanzen zu gehen?

Ein Teil von mir klammert sich an die Überzeugung, dass Tom nur mich und unser Baby will – egal, in welchem Zustand. Egal, wie lange es dauert.

Aber wenn ich einen schlechten Tag habe und Tom nicht da ist, um mir Halt zu geben, fällt es mir leicht, mir eine Welt vorzustellen, in der ihn das andere viel mehr reizt als ich.

Die Regelschmerzen halten an, sodass ich selbst um fünf Uhr früh noch nicht in den Schlaf gefunden habe. Um mich irgendwie zu beschäftigen, google ich meine Nachbarin. Ihre Facebook-Seite ist voll mit Fotos von einer Party, auf der sie gestern Abend war. Harriet mit Kussmund, eingequetscht zwischen lauter Freunden. Harriet, die zusammen mit einer Schar ähnlich schick zurechtgemachter Frauen Schnaps trinkt. Eine Platte Sushi mit der Bildunterschrift MJAM-MJAM!

Und natürlich nimmt sie hinterher einen Mann mit nach Hause, um guten, lauten Mitternachtssex zu haben. Und morgen – nein, heute – werden die beiden wahrscheinlich irgendwo hier in der Straße gemeinsam frühstücken gehen und eine Bloody Mary dazu trinken. Ich stelle fest, dass Rachel in meinem Kopf so ähnlich aussieht wie Harriet. Glamourös, sexy, von allen bewundert. Die beiden verschwimmen miteinander und vermischen sich mit anderen Frauen, die ich auf der Straße gesehen habe oder die neben mir im Bus saßen. Frauen in gebügelten Kleidern und schicken Stiefeln. Frauen, die ihre Handys aus den Taschen ziehen und laut und deutlich sagen, was sie brauchen und welche Pläne sie haben. Frauen, die einen individuellen Duft und mehrfarbigen Lidschatten tragen.

Plötzlich erschrecke ich über mich selbst: Vor lauter Eifersucht google ich in den frühen Morgenstunden meine Nachbarin, nachdem ich ihr beim Sex zugehört habe. Ich stehe auf, um meine Binde zu wechseln, und sitze mit dem Kopf in den Händen auf der Toilette. Wenn Tom wirklich lieber eine Harriet anstelle einer Lexie haben wollte, wer könnte es ihm verübeln?