Ich gebe eine spontane Party. Der Subtext ist wie immer der gleiche: Kommt, wenn ihr ein gebrochenes Herz habt, wenn ihr einsam seid, wenn ihr trinken wollt, bis ihr vergesst, wer ihr seid. Kommt, wenn ihr nicht mit Menschen zusammen sein wollt, die euch wirklich etwas bedeuten. Wenn die Menschen, die euch etwas bedeuten, euch enttäuscht haben, oder wenn es niemanden gibt, der euch etwas bedeutet. Kommt, wenn ihr an nichts anderes denken könnt als an eine tote Frau namens Naomi.
Ich heiße all die Ausgestoßenen und Gebrochenen, die Verkommenen und Betrunkenen willkommen. Ich will weder Nachnamen noch Plattitüden von meinen Gästen hören, und ich bekomme am nächsten Tag auch keine Textnachrichten von ihnen, wie schön es doch gewesen sei, weil sie sich kaum noch daran erinnern können, wo sie waren und was sie getan haben. Am Ende sind wir so leer wie die Whiskyflaschen, und nicht anders wollen wir es haben.
Ein weiterer Zweck der Party ist es, Tom auf die Nerven zu gehen und ihn nervös zu machen. Ihn dafür zu bestrafen, dass er mich abgewiesen hat, statt mich zu vögeln, damit ich Naomi und Luke und alles andere endlich vergessen kann.
Die Tür ist offen, Tom. Du kannst gerne vorbeischauen. Vielleicht hilft dir das dabei, dich daran zu erinnern, was beim letzten Mal passiert ist.
Aber ich weiß, dass er nicht kommen wird.
Ich dachte, es hätte zwischen uns gefunkt. Ich wusste, dass Toms und Lexies Beziehung sich gerade in einer schwierigen Phase befindet. Aber er hat meinen Kuss nicht erwidert. Im Gegenteil, er konnte es gar nicht erwarten, wegzukommen.
Ich betrachte meine schlaksige, zu große Gestalt im Spiegel. Lag es daran? An mangelnder körperlicher Anziehung? Hätte er mich mehr gemocht, wenn ich, sagen wir, Naomis Körper hätte? Eine Woge der Übelkeit steigt in mir hoch. Naomi hat jetzt keinen Körper mehr. Gibt es vielleicht einen Prozentsatz, der ausdrückt, inwieweit ich für ihren Tod verantwortlich bin? Und werde ich jemals erfahren, wie hoch dieser Prozentsatz ist? Gibt es eine Zahl, mit der ich noch leben könnte, und eine andere, die zu hoch wäre?
Vielleicht hat Toms Zurückweisung auch gar nichts mit meiner Attraktivität zu tun. Vielleicht sind andere Männer einfach treuer als Luke mit seinen unzähligen Seitensprüngen und Affären. Ich trete gegen den Spiegel, der einen kleinen Sprung bekommt.
Ich hätte es wissen müssen: Von der Sekunde an, als Tom meine Wohnung betrat, hat er sich verhalten wie ein Mann, der zu einem Vorstellungsgespräch kommt und nach wenigen Augenblicken merkt, dass er für diese Firma nicht arbeiten möchte.
Er hat sich nicht die Jacke ausgezogen und die ganze Zeit an seinen Ärmeln genestelt, hat sie hoch- und wieder heruntergekrempelt. Er hat meinen Kuss nicht mal eine halbe Sekunde lang erwidert.
Deshalb musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Hat er mir abgekauft, dass wir miteinander geschlafen haben? Denkt er, dass er tatsächlich so viel getrunken haben könnte, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann?
Sobald er weg war, fing ich an zu trinken. Ich trank, bis ich irgendwann auf dem Fußboden die Besinnung verlor.
Nach allem, was ich getan hatte. Nach all der harten Arbeit. Ich schleuderte ein Weinglas gegen ihre Wand, in der Hoffnung, er würde es hören. Ich machte mir nicht die Mühe, die Scherben aufzusammeln, denn es gab niemanden, den ich vor einer Verletzung bewahren musste. Für mich selbst war es zu spät. Warum werde ich nie belohnt, obwohl ich mich für die Männer in meinem Leben so sehr aufopfere?
Jetzt sitze ich auf meiner eigenen Party in der Ecke, allein, mit einem großen Amaretto Cola in der Hand. Wenn Tom glaubt, dass ich mich aus seinem Leben zurückziehe, hat er sich geschnitten.
Diese Bitterkeit macht süchtig. Sie vermehrt sich in meinem Innern. Man fängt an, indem man die Menschen hasst, die scheinbar alles haben. Die Glückspilze. Dann geht es weiter: Man hasst den Mann im Laden, weil er lächelt und zufrieden aussieht. Man ärgert sich über die Menschen im Pub, die eine Flasche Wein bestellen, um sie gemütlich im Kreis ihrer Freunde zu trinken, statt sie allein und hastig hinunterzustürzen. Man verachtet die Nachbarin, weil sie ein Leben hat, das man selbst gerne hätte, und jemanden, der »Ich liebe dich« zu ihr sagt.
Alle diese Menschen werden zu Figuren im Theaterstück der eigenen Gedanken. In diesem Stück lässt man sie dafür büßen, dass sie Eltern haben, mit denen sie reden können, Brüder, die sie besuchen kommen, und Partner, die ihnen treu sind. Man bestraft sie dafür, dass ihnen nicht permanent Bilder der liebenswerten Naomi im Kopf herumspuken, die völlig nichtsahnend in diese Katastrophe hineingestolpert ist. Man bestraft sie dafür, dass sie nicht ständig an orange lackierte Zehennägel denken müssen.
Manchmal greift das Theaterstück auch aufs wahre Leben über, weil man feststellt, dass Gedanken einfach nicht genug sind. Weil man diese Menschen wirklich bestrafen will.
Wenn Tom glaubt, dass ich brav hier sitze und zuhöre, wie er drüben mit Lexie das genießt, was rechtmäßig mir gehört, dann irrt er sich.
Wenn er denkt, dass ich sie jetzt in Ruhe lasse, kennt er mich schlecht.
Wenn er glaubt, dass ich noch einmal Arbeit und Mühen in eine Sache investiere, nur damit sie mir dann genommen wird, dann hat er sich getäuscht.
Die Sache mit Luke hat mich etwas gelehrt: Auch wenn ein Mensch für mich unerreichbar ist, kann ich immer noch die Hand nach seinem Leben ausstrecken. Ich kann es packen, ihm die Knochen brechen und es in Stücke reißen. Ich kann die beiden immer noch vernichten, auch wenn sie mich für einen unwichtigen Niemand halten.
Um Mitternacht kommt Chantal.
»Harriet!«, sagt sie und küsst mich auf die Wange. »Wie geht es dir?«
Sie hat einen Mann mitgebracht und wirkt beinahe zivilisiert. Ich bin angeekelt.
»Du bist so nüchtern!«, rufe ich und verziehe missbilligend den Mund. »Trink ein paar Shots. Tanz ein bisschen.«
Sie lächelt mich an.
»Tanzen werde ich definitiv«, sagt sie. Ihr Gesicht ist von roten Locken umrahmt, und ihre Augen strahlen vor Glück. »Aber keine Shots. Ich versuche weniger zu trinken.«
Dann schaut sie zu dem Mann, der sich im Zimmer umsieht und feststellt, dass alle anderen zehnmal betrunkener sind als er. Er streicht sich die Haare aus den Augen.
Als ich die beiden allein lasse, sehe ich noch, wie er ihr etwas zuraunt und dabei eine Grimasse schneidet.
Eine halbe Stunden später gibt sie mir von der anderen Seite des Zimmers durch Gesten zu verstehen, dass sie gehen will, und zieht mit ihrem neuen Freund von dannen. Sie hält seine Hand und darf sich geliebt fühlen. Sogar Chantal. Ich will, dass sie heulend auf dem Sofa liegt. Dass meine Partys der einzige Lichtblick in ihrem Leben sind. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Drogendealer. Es muss ein unglaubliches Gefühl sein, so viel Macht über andere zu haben.