Ich tippe etwas, dann lösche ich es wieder. Im nächsten Moment fängt Harriet an zu singen. Sie klingt wie die Moderatorin einer Kindersendung und ist unglaublich laut. Das kann doch nicht normal sein. Hat mich der Lärm anderer Menschen auch schon so gestört, als ich noch im Büro gearbeitet habe? Eigentlich habe ich Geräusche immer geliebt; das Radio im Hintergrund, Gespräche mit Freunden, während gleichzeitig der Fernseher läuft. Doch allmählich scheinen sich alle Regeln, die bisher für mich gegolten haben, zu ändern. Ich werfe ein Kissen gegen die Wand.
Ich stehe vom Sofa auf und gehe in die Küche, weil ich schon den ganzen Morgen an die Müsliriegel denken muss, die wir im Schrank haben.
Ich schaue an mir herunter. Ich trage Toms Schlafanzughose. Meine eigene sitzt inzwischen an der Taille so eng, dass sie mir unbequem geworden ist.
Ich esse einen Riegel, dann kehre ich zum Sofa zurück und denke nach. Ist es nachvollziehbar, dass Harriet mir dermaßen zusetzt? Ist es normal?
Jedem, der nicht in einem riesigen modernen Wohnblock mitten in London lebt, wo es einen Pförtner gibt, der Päckchen entgegennimmt oder dem überforderten Deliveroo-Boten mit seinem Pad Thai hilft, sich im Labyrinth aus Hunderten identisch aussehender Flure zurechtzufinden, muss mein Verhältnis zu meiner Nachbarin einigermaßen bizarr vorkommen. Ich weiß mehr über ihren Alltag als über den meiner Freunde. Unsere Leben sind eng miteinander verwoben, denn sie ist der Mensch, mit dem ich am meisten Zeit verbringe – und zwar mit Abstand. Ich weiß von ihren Partys, auf denen sie ihren Freunden Prosecco nachschenkt, obwohl diese gar keinen mehr möchten, weil sie eigentlich längst nach Hause hätten gehen wollen, aber sie amüsieren sich so gut, dass sie sich einfach nicht loseisen können.
Ich weiß auch, wie gern Harriet Karaoke singt und dass ihre Freunde immer halb lachend, halb stöhnend dagegen protestieren, weil sie doch morgen früh zur Arbeit müssen. Aber kaum setzt das Intro des ersten Songs ein, brechen sie in Jubel aus und bleiben doch. Mehr Freunde gesellen sich zu ihnen. Die gute Laune vervielfacht sich. Und es ist immer laut.
Und jetzt also das Klavier. Ich presse mir zwei Kissen über die Ohren, doch es ist unmöglich, die Geräusche von drüben auszublenden. Sie sind allgegenwärtig und stehen in permanentem Widerstreit zu unserem ruhigen Zuhause.
Harriet schreibt Lieder für Musicals, die Tausende von Menschen auf der Heimfahrt aus dem West End im Bus vor sich hin summen. Sie wird regelmäßig für Branchen-Websites interviewt und klingt geradezu Ehrfurcht gebietend intelligent. Da sie hier wohnt, muss sie erfolgreich sein. In diesem Gebäude stellen Tom und ich mit unserem eher durchschnittlichen Einkommen die absolute Ausnahme dar. Wir können uns die Wohnung nur leisten, weil sie Toms Eltern gehört und wir sie weit unter Marktwert von ihnen mieten.
Ich stelle fest, dass ich schon wieder dabei bin, Harriet zu googeln. Ich betrachte das Porträtfoto auf ihrer Website. Sie ist eine große, aparte und attraktive Frau. Sie strahlt Stärke aus. Ich mag ihren Mund und beneide sie um ihre glatten, seidig blonden Haare. In der Schule war sie sicher eins der beliebtesten Mädchen; von jemandem wie mir mit meinem strohigen Pony und den speckigen Schenkeln hätte sie keine Notiz genommen.
In ihrer Wohnung, die ihr zugleich als Studio dient, sitzt sie am Klavier. Den nackten Fuß auf dem Pedal, kritzelt sie Noten und streicht sie wieder durch. Ihre Finger, die Nägel lackiert, der Lack leicht abgeblättert, tanzen durch die Luft, ehe sie die Melodie, die sie sich ausgedacht hat, zu Papier bringt. Harriet ist eine Kreative. Sie kreiert Dinge. Sie ist kreativ. Oft versinkt sie so sehr in ihrer Arbeit, dass sie Termine vergisst und viel zu spät dran ist, wenn sie loshetzt, um sich mit Freunden zum Brunch zu treffen. Sie kauft Blumen in der Columbia Road, um sie aufs Klavier zu stellen und damit noch mehr Farbe in ihr schönes, helles Heim zu bringen. Sie weiß genau, was sie denkt und was sie will, und würde niemals ihre Wohnung mit austauschbarer Massenware aus einer Möbelhauskette dekorieren. Für Männer bringt sie das gesamte Paket mit: klug, immer gut aufgelegt und dazu noch umwerfend schön.
Ach so, ich vergaß: Natürlich bin ich ihr noch nie begegnet.
Ich habe sie lediglich einmal von Weitem gesehen, als sie aus dem Fahrstuhl kam. Ich hatte die Treppe genommen, weil ich zu der Zeit gerade versuchte, mehr Sport zu machen. Hin und wieder finde ich an sie adressierte Post in unserem Briefkasten und werfe sie in ihren, und manchmal, so wie jetzt, google ich ihren Namen. Mehr nicht. Trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl, sie zu kennen.
Von meinem häuslichen Arbeitsplatz – sprich: dem Sofa an der Wand – aus kann ich ihr Leben hautnah mitverfolgen. Es ist reich und prall und quillt nur so über vor tollen Erlebnissen.
Ich hingegen sitze jetzt schon seit drei Stunden hier. Mein Rücken fängt langsam an zu zwicken, ich habe Haferflocken am Kinn, und von meinem Auftrag, der zweitausend Wörter umfassen soll, sind gerade einmal sieben Sätze geschrieben.
Ich fege Krümel von meinem Schoß. Ich bin keine Harriet.
Steige gerade in die U-Bahn, schreibt Tom mir einige Zeit später. Curry?
Während ich eine Antwort tippe, fällt mir der Fleck auf meiner – seiner – Pyjamahose auf. Ich nehme mir vor, mich umzuziehen, vergesse es dann aber, weil ich die Speisekarte vom Thai-Imbiss studiere.
Curry ist nicht gut. Curry bedeutet, dass meine Jeans in Größe 40 kneifen wird. Curry bedeutet, dass wir heute Abend höchstwahrscheinlich nicht miteinander schlafen werden. Dabei sollten wir jede Gelegenheit nutzen.
Unser spontaner, erotischer Sofasex vor knapp einem Monat hat keine Ergebnisse gezeitigt. Mein Ovulationstest zeigt zwar an, dass ich noch nicht in der fruchtbaren Phase bin, aber der Große Doktor Google kann noch mehr, als mich in Bezug auf alles, was ich tue, jemals getan habe und im Laufe meines Lebens noch tun werde, heillos zu verunsichern. Er hat mir auch verraten, dass »viel hilft viel« der zurzeit vorherrschende medizinische Trend ist. Der Gedanke, dass es in der Medizin so etwas wie Trends gibt, ist besorgniserregend, also schiebe ich ihn beiseite und wähle stattdessen meine Beilagen aus. Ich setze Frühlingsrollen mit Ente auf die Liste der Dinge, von denen ich befürchte, sie könnten eine Schwangerschaft verhindern. Sie befinden sich dort in sehr, sehr guter Gesellschaft.
In Wahrheit haben wir keine Ahnung, weshalb es nicht längst passiert ist. Wir haben keine Ahnung, weshalb ich einmal schwanger war, eine Fehlgeburt hatte, und es seitdem nie wieder geklappt hat. Wir haben keine Ahnung, weshalb wir zwei Jahre später immer noch warten und hadern und erst ganz allmählich zu der Erkenntnis gelangen, dass wir eine weitere Schwangerschaft immer als selbstverständlich betrachtet und deshalb nie richtig um unser verlorenes Baby getrauert haben.
Mit jedem Monat, der vergeht, wird meine Angst größer. Ich rede mir ein, dass es meine Schuld ist, obwohl ich wirklich nichts unversucht lasse. Ich reise Tom, der Dokumentationen fürs Fernsehen dreht und manchmal länger unterwegs ist, hinterher, damit wir genau zum richtigen Zeitpunkt Sex haben können. Einmal habe ich mir sogar ein verführerisches Nachthemd bei Figleaves gekauft und eine ganze Woche in Hull in einem Travelodge-Motel verbracht. Es war grauenhaft.
Doch in letzter Zeit mache ich mir immer häufiger Vorwürfe, genau wie ich mehr esse und mehr schlafe, während ich andere Dinge zunehmend weniger tue: mich mit Freunden treffen, mir die Augenbrauen zupfen, Hosen ohne Gummizug tragen. Lachen.
Als wolle sie mich aus meinem inneren Monolog reißen, höre ich, wie Harriet nebenan vor Frust auf ihr Klavier einschlägt. Im nächsten Moment klingelt ihre Gegensprechanlage.
»Ja?«, meldet sie sich im brüsken Ton eines Menschen, der viel zu tun hat. Ich habe nie viel zu tun, nicht einmal jetzt, obwohl die Woche vor Weihnachten anerkanntermaßen die stressigste Woche des Jahres ist.
Es muss ein Lieferant sein, denn zehn Sekunden später höre ich, wie sie den Summer betätigt, die Wohnungstür öffnet und sich überschwänglich für die wunderschönen Blumen bedankt. Ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk? Von einem Freund? Von ihrer Mutter?
Ich rücke von der Wand ab und kuschle mich wieder aufs Sofa. Seit ich freischaffend arbeite, verbringe ich so viel Zeit zu Hause, dass Harriet einen beängstigend großen Teil meiner zwischenmenschlichen Interaktion ausmacht.
Ich stelle sie mir in hochhackigen Schuhen vor, wie sie, das Smartphone in der Hand, in ein Uber-Taxi springt, um zu einem Abendessen, einem Galerieabend oder in eine Bar zu fahren, in der starke, aufwendig gemixte Cocktails serviert werden. Und ich fühle mich an mein altes Ich erinnert, bevor das Thema Kinderwunsch die Kontrolle über mein Leben übernommen hat.
In meinen ausgelatschten Hausschuhen schlurfe ich ins Schlafzimmer und wühle im Schrank, bis ich die Schachtel finde, nach der ich gesucht habe. Es ist – wie sollte es anders sein? – ein alter Schuhkarton, und er ist voll mit Fotos, die ich eigentlich längst hätte einkleben wollen, nur dass die entsprechenden Alben nie gekauft wurden. Nun fristen sie ihr Dasein zwischen lauter Ansichtskarten, Souvenirs von Junggesellinnenabschieden, Geburtstagseinladungen, Abschiedskarten mit witzigen Sprüchen und alten Tickets.
Irgendwann habe ich aufgehört, jemand zu sein, der andere dazu beflügelt, Postkarten umzudrehen um noch an den Seiten weiterzuschreiben. Jemand, der andere zum Gebrauch von Ausrufezeichen, Großbuchstaben und Einschüben inspiriert.
Ich denke an meinem alten Arbeitsplatz in der Redaktion einer Frauenzeitschrift. Dort stand ich in dem Ruf, immer die besten Ideen für Interviews zu haben.
»Lexie bringt es auf den Punkt«, sagten die anderen oft, und ich besaß genug Selbstvertrauen, um ihnen zuzustimmen. Ich machte Witze und schlug neue Restaurants für die Mittagspause vor. Bis ich irgendwann zu schrumpfen begann. Und jetzt, während die Leute unten vor meinem Fenster Weihnachtslieder singen und den fünften Truthahnbraten des Monats essen, sitze ich wieder einmal allein zu Hause und warte.
Ich weiß nicht, wie mein Leben so klein und eng werden konnte. Ich weiß nicht, wann ich mich in diese Schachtel gesperrt habe, die gerade groß genug ist für mich selbst. Früher war auch ich eine Harriet. Heute bin ich neidisch.