Es ist ein merkwürdiges Gefühl, eine Wohnung zu betreten, die das genaue Spiegelbild meiner eigenen ist. Alles ist ein bisschen verschoben, nicht ganz richtig. Abgesehen davon kommt mir Lexies und Toms Wohnung nur halb so groß vor, weil sie so viel Zeug haben. Überall Sachen, Artefakte ihres Lebens. Dagegen sieht meine Wohnung aus, als wäre sie leergeräumt worden, damit die Zimmer auf den AirBnB-Fotos größer erscheinen.
Ich habe auf den passenden Moment gewartet. Von Facebook und Instagram weiß ich, dass Tom beruflich unterwegs ist. Irgendwann höre ich nebenan die Wohnungstür ins Schloss fallen, und kurze Zeit später sehe ich, wie Lexie, wild dem Bus winkend, über die Straße rennt, ehe sie einsteigt und davonfährt. Der Weg ist frei. Danke, Lexie, denke ich. Das weiß ich wirklich sehr zu schätzen.
Als Erstes schaue ich mich in aller Ruhe um, als wäre ich in einer Kunstgalerie oder einem Museum. Ich nehme alles in mich auf und lasse meine Gedanken treiben.
Vermutlich wäre eine gewisse Nervosität angebracht, aber ich habe schon Schlimmeres getan. Weitaus Schlimmeres.
Ich schlendere durch das winzige Wohnzimmer, das fast vollständig von einem Ecksofa dominiert wird. Ich sehe Lexies Schminktäschchen, daneben ein Taschentuch mit einem Lippenstiftfleck. Ich berühre es, und eine Spur Farbe bleibt an meinem Finger haften. In Lexies Becher schwimmt noch ein Schluck kalt gewordener Tee. Ich nehme ihn und halte ihn in beiden Händen. Mein Blick fällt auf eine zur Hälfte beschriebene Geburtstagskarte. Lexies Glückwünsche klingen persönlich und kommen von Herzen. Als ich mit den Fingern über die Heizung streiche, spüre ich einen Rest Wärme.
In der Küche hängt eine Kreidetafel, auf die jemand BROKKOLI NUDELN DAS EIS MIT DEN MARSHMELLOWS gekritzelt hat. Auf dem Tresen liegen einige Kekskrümel, daneben steht eine zu zwei Dritteln leergetrunkene Flasche Rotwein. Ein Leben.
Aber der Mülleimer müsste mal wieder geleert werden, denke ich und verziehe das Gesicht, als mir der unangenehme Geruch in die Nase steigt. Ich gehe zurück in den Flur und fahre mit einem Finger an der Wand entlang. Die Wohnung könnte wirklich einen neuen Anstrich vertragen.
Doch die wirklich interessanten Ausstellungsstücke kommen erst noch.
Zum einen ist da ein iPad, das ich entdecke, als ich mich auf Lexies und Toms ungemachtes Bett setze. Es ist nicht passwortgeschützt, vielleicht weil es sowieso immer nur zu Hause liegt. Die E-Mails sind mir zu langweilig, hauptsächlich Spam und Massenmails, aber dann stoße ich – mir nichts, dir nichts! – auf Lexies private Notizen. Eins ihrer Dokumente trägt den Titel Gedanken zum Beruf.
Überlegen: bietet Job als Texterin Zukunftsperspektiven? Ausreichend Verdienstmöglichkeiten?, steht da. Umschulung???
Sieh an. Lexie ist nicht zufrieden mit ihrer Arbeit. Sie hat zu wenig davon.
Ich lege das iPad weg und suche weiter.
Die Fotos interessieren mich nicht, im Internet gibt es genug davon, allerdings stoße ich in einer Schublade auf ein altes, handgeschriebenes Tagebuch, das mich sofort in seinen Bann zieht. Fast vergesse ich darüber die Zeit. Schließlich habe ich keine Ahnung, wann Lexie zurückkommt.
Zunächst denke ich, es ist ihr Tagebuch, schließlich verdient sie mit Schreiben ihr Geld, aber wie sich herausstellt, gehört es Tom, der es unter seinen Socken versteckt hat. Eine der Socken hat ein Loch. Die beiden lassen sich gehen. Nicht gut für eine Beziehung. Lücken, Lücken, Lücken.
Ich suche nach einem ganz bestimmten Datum. Ein Tagebuch, Tom? Man mag mich sexistisch finden, aber das erscheint mir ein sehr seltsames Hobby für einen Mann Mitte dreißig zu sein – wenngleich es für mich durchaus Vorteile hat. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und beginne zu lesen.
Sie fand in einer Wohnung statt – nebenan, glaube ich (bei Harriet). Allerdings war ich da schon so betrunken, dass alles ein bisschen verschwommen ist. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, Harriet gesehen zu haben. Vielleicht war es also auch woanders.
Meine Wangen glühen vor lauter Stolz. Ich werde in seinem geheimen Tagebuch erwähnt. Ich wohne unter seinen Socken.
Ich blättere ein paar Seiten zurück.
Das mit dem Baby hinterlässt allmählich Spuren. Ich will nicht einer dieser Männer sein, die sich wünschen, der Pub hätte noch länger geöffnet, damit sie ihren Kummer, wie es sich für Männer gehört, in Bier ertränken und ihre Probleme einfach verdrängen können. Aber wie es aussieht, bin ich so ein Mann.
Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen und weiterlesen. Wie drollig. Wie herzzerreißend. Wie entblößend.
Aber es wird allmählich Zeit zu gehen. Ich hole mein kleines Mitbringsel aus der Tasche und deponiere es in derselben Schublade, in die ich auch das Tagebuch zurücklege, ehe ich die Wohnung verlasse und die Tür hinter mir absperre.