Ich sehe Anais bereits von Weitem, und auf den ersten Blick scheint alles wie immer. Aber dann betritt sie das Café, und ich sehe ihn: ihren Bauch. Sie ist im neunten Monat und schiebt eine gigantische Babykugel vor sich her.
Bei unserer letzten Begegnung war ihr Bauch noch deutlich kleiner, deshalb habe ich mich vor diesem Treffen innerlich für den Anblick gewappnet. Nichtsdestotrotz rutscht mir nun das Herz bis in die Kniekehlen, und ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht.
Also tue ich das, was ich immer schon gut konnte: Ich spiele die Überschäumende.
»O mein Gott, bist du riesig!«, kreische ich, und sie kreischt auch, aber es ist kein echtes Kreischen. Es ist nur eine Scharade. Es ist all das, was wir nicht sind.
Wir bestellen grünen Saft und Toast mit Avocado und posten Selfies von uns auf Instagram, und sie hält mir einen langen Vortrag über Eier, die sie essen darf, und Eier, die sie nicht essen darf. Ich nicke. Es ist die reinste Hölle.
Ich finde es furchtbar, dass sich alles nur noch darum dreht. Ich will oberflächliche Gespräche über Popkultur führen. Ich will mich nicht über ihre Ernährung unterhalten. Ich will nichts von dem Tag hören, an dem sie gemerkt hat, dass sie schwanger ist, und ich interessiere mich auch nicht dafür, wie sie und ihr Freund das Kinderzimmer einzurichten gedenken.
Als unser Toast kommt, tritt Schweigen ein, weil wir uns dem Essen widmen. Ich sehe ihr zu, wie sie ihre Portion genüsslich verschlingt. Sie ahnt nichts von meinen gehässigen Gedanken. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Ich hätte Anais’ Babyparty organisieren sollen. Ich hätte viel zu viele Strampelanzüge kaufen und ihr Namensvorschläge simsen sollen. Es tut mir leid, Anais, bitte ich sie im Stillen um Verzeihung. Es tut mir so leid, dass ich dir im Moment keine gute und fürsorgliche Freundin sein kann. Ich wünschte, ich hätte die Worte, um es ihr zu erklären.
Allerdings macht sie mir die Sache auch nicht gerade einfach.
»In einer idealen Welt wäre ich vorher noch viel mehr gereist«, sagt sie und beäugt das Eigelb an ihrer Gabel. Mein Herz fängt an zu hämmern. Nicht, Anais. Bitte nicht.
Seit wir versuchen, ein Kind zu bekommen, kann ich eins nicht mehr ausstehen: Leute, die so tun, als hätten sie ein Anrecht auf Babys. Als wären Babys etwas, das man auf den Monat genau in sein bestehendes Leben eintakten kann, irgendwo zwischen den Trip nach Argentinien und die Beförderung, auf die man so lange gewartet hat. Das ist respektlos all jenen gegenüber, die sich einfach nur ein Baby wünschen, egal, wie und wann und unter welchen Umständen.
»Mmm-hmm«, mache ich, dann gehe ich auf die Toilette und atme fünfmal tief ein, so wie es in dem Achtsamkeits-Ratgeber stand, für den ich meinen Patricia-Highsmith-Roman beiseitegelegt habe. So weit ist es schon gekommen: Ich kann nicht einmal mehr meine gewohnte Bettlektüre genießen, stattdessen lese ich Bücher, die mir dabei helfen sollen, nicht durchzudrehen. Der Kinderwunsch ist wie ein schreckliches Unkraut, das nach und nach mein gesamtes Leben überwuchert.
Das Atmen nutzt nicht viel gegen die Gedanken in meinem Kopf.
»Was machst du heute Abend?«, fragt Anais, als der entkoffeinierte Kaffee kommt, den sie bestellt hat. »Spielt Wein dabei eine Rolle? Na los, mach mich neidisch. Gott, wie ich den Wein vermisse.«
»Du hast doch Glück. Du bekommst ein Baby.«
Ich höre meinen Tonfall. Ich klinge schnippisch und brüsk.
Ich habe Messer und Gabel sinken lassen. Das Frühstück liegt halb aufgegessen auf meinem Teller. In meinem Drang, mich gesünder zu ernähren, habe ich alle wirklich leckeren Bestandteile übriggelassen.
Anais macht ein betretenes Gesicht. »Ja, ich weiß natürlich, dass ich allen Grund zur Freunde habe«, rudert sie zurück. »Es ist nur … wenn ich es hätte planen können …« Dann streckt sie die Hand nach meinem Teller aus. »Isst du den Pancetta nicht mehr?«
Nimm ihn. Nur zu, nimm alles.
»Na ja, solche Dinge richten sich eben nicht nach Terminplänen«, sage ich in demselben Ton, mit demselben Gesicht, während sie in aller Seelenruhe meinen Speck wegknuspert.
Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Ich freue mich einfach nicht für sie. Ich kann ihr das Glück nicht gönnen. Ich finde es ungerecht, dass sie ein Baby bekommt, obwohl sie gar keins wollte – und immer noch keins will – und dass wir diesen Punkt hartnäckig ausblenden. Ich hingegen muss in die Klinik fahren und warten, dass jemand ein anderes Spekulum holt. Ich muss zwölf verschiedene Medikamente schlucken, wenn ich auch nur den Hauch einer Chance haben möchte, schwanger zu werden.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr über ihrem Kopf. Ich will das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich will nach Hause gehen, mein Telefon ausschalten, meinen Schlafanzug anziehen und mich vor der Welt verkriechen.
Als ich mich wieder Anais zuwende, sehe ich, dass sie aufgehört hat zu essen. Sie sieht merkwürdig aus. Ich weiß nicht, ob sie traurig oder wütend ist. Wir lassen uns die Rechnung bringen und gehen. Wir verzichten auf die Muffins, die wir normalerweise zum Abschluss essen, und machen auch keinen Bummel über den Borough Market mehr, für den wir uns sonst immer Zeit nehmen.
Unsere Umarmung zum Abschied ist kühl, und danach kommt keine War-schön-dich-wiederzusehen-SMS von ihr. Im Bus auf der Heimfahrt fühle ich mich trotz der Körperausdünstungen meiner Mitpassagiere wohler als während des Frühstücks. So sieht jetzt mein Leben aus. Ich bin soziales Gift. Deshalb fällt es mir auch leichter, allein im Bus zu sitzen, als mich in Situationen zu begeben, in denen die Gefahr besteht, dass ich mir selbst und anderen peinlich bin.
Zu Hause sitze ich im Schneidersitz auf dem Fußboden und blende alles aus bis auf Harriets Klavierspiel. Ihr zuzuhören ist auch eine Art von Achtsamkeitsübung. Eine etwas gewöhnungsbedürftige, aber trotzdem – irgendwie beruhigt es mich.
Nach ein paar Minuten bricht die Musik ab, und gleich darauf spüre ich es: Sie ist auf der anderen Seite der Wand, genau gegenüber. Sanft lehne ich meinen Kopf dagegen.