Ich sitze da und lausche dem Tropf, tropf, tropf der Dusche, die immer nur für kurze Zeit Wasser spendet, damit ich keine Möglichkeit habe, mich zu ertränken.
Vom anderen Ende des Ganges her kommt ein lauter, undefinierbarer Knall. Dann ein Schluchzen, das direkt vor meiner Tür seinen Höhepunkt erreicht und nun wie eine Sirene wieder leiser wird, als sein Verursacher weitergeht, wohin auch immer.
Vor lauter Frust schlage ich mit der Faust auf den abgenutzten, graugrünen Teppichboden. Ich ziehe an einem Faden. Schreibe mit dem Finger die Initialen hinein, die mir nicht aus dem Kopf gehen: A. A.
Wieder presse ich das Ohr gegen die Wand, diesmal so fest, dass es wehtut. Aber seit wann machen Schmerzen mir etwas aus?
Ich bin tatsächlich wieder hier gelandet. Einmal mehr bin ich gezwungen, alles Wichtige durch eine Wand zu verfolgen. Na ja, praktisch ist immerhin, dass mein Zimmer direkt neben dem Wartebereich liegt. Und dass er jedes Mal mitkommt, wenn sie mich besucht. Jedes gottverdammte Mal.
Ich spitze die Ohren. Versuche zu verstehen, was er sagt, und seinen Worten versteckte Hinweise zu entnehmen. Ist er wirklich glücklich? Und sie? Ich habe genug Erfahrung, um zu wissen, dass das, was sie nach außen projizieren, nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen muss. Ich weiß alles über die Filter, durch die die Menschen die Realität betrachten, über das Schweigen und die Makel, die man nur bemerkt, wenn man ganz genau hinsieht.
Bei Tom und Lexie war es der unerfüllte Kinderwunsch, bei Naomi und Luke die Tatsache, dass ihre Beziehung nicht so vollkommen war, wie es schien. In Wahrheit war sie kein bisschen besser oder gesünder als die Beziehung zwischen Luke und mir.
Eine andere Patientin – selbstmordgefährdet, glaube ich – fängt an zu schreien, und ich verwünsche sie, weil ich ihretwegen jetzt nicht mehr hören kann, was nebenan gesprochen wird. Ich lausche jedes Mal – das hilft mir, mein Bild zu vervollständigen. Herauszufinden, wo vielleicht Lücken sind, in die ich mich zwängen könnte. Dass etwas einmal nicht funktioniert hat, heißt nicht automatisch, dass es beim nächsten Mal wieder nicht funktionieren wird.
»Sei still«, wispere ich. »Ich will was hören.«
Doch an einem Ort wie diesem ist es nirgendwo still, nicht mal in meinem Kopf. Da ist dieses beständige Summen, das einfach nicht weggehen will und das ich nicht mit meinem Handy, mit irgendwelchen Posts und Nachrichten und Updates abtöten kann. Hier habe ich keinerlei Ablenkung. Keinen Zugang zu den angenehmen Nichtigkeiten des Lebens.
Neben mir liegt ein Notizbuch. Ich blättere in den Aufzeichnungen, die ich bei jedem ihrer Besuche gemacht habe. Jedes Mal horche ich, was sie drüben im Wartezimmer reden, und schreibe alles genau auf. Neben dem Notizbuch liegt ein spezieller Stift, der so konstruiert ist, dass man sich oder anderen damit keine Verletzungen zufügen kann. Er ist ein Privileg, eine Belohnung, weil ich bislang noch nicht versucht habe, mich umzubringen, obwohl ich schon mehrere Wochen an diesem grauenhaften, öden Ort festsitze. Und obwohl ich – wovon meine Ärzte allerdings nichts wissen – seit geraumer Zeit meine Tabletten nicht mehr nehme. Ich werfe einen Blick zu meiner Matratze, unter der ich die heutige Dosis Pillen versteckt habe.
Ich schnappe noch einige Worte auf, während die beiden nebenan geduldig warten. Er wird eine Stunde lang alte Zeitschriften lesen. Sie wird zu mir kommen, mir Kekse anbieten und meine Freundin sein.
Abermals blättere ich im Notizbuch. Archie, steht darin, wieder und wieder. Ich flüstere den Namen, um auszuprobieren, wie er sich anfühlt: dieser Name, der neu ist in meinem Leben und jede Menge Möglichkeiten bereithält. Archie.