Während ich mir die Fotos ansehe, die Harriet mir gegeben hat, wird mir etwas Entscheidendes klar. Möglicherweise hat der Stress der Kinderwunschbehandlung Tom verändert. Möglicherweise ist er ein Betrüger, ein Lügner und ein Manipulator. Und möglicherweise wird er diesem Baby nie ein guter Vater sein.
Wieso um alles in der Welt sollte er Harriet den Schlüssel zu unserer Wohnung geben? Vielleicht hätte er ihr einen Ersatzschlüssel anfertigen lassen – aber aus welchem Grund sollte er ihr seinen eigenen Schlüsselbund inklusive hässlichem Anhänger überlassen und mir gegenüber dann behaupten, er hätte ihn verloren? Ich kann im Moment nicht besonders klar denken, aber dass diese Behauptung von Harriet blanker Unsinn ist, begreife ich sehr wohl.
Und sobald ich das erkannt habe, kommen mir weitere Fragen.
Könnte es sein, dass sie gar nicht durch Tom von unserer Kinderwunschbehandlung erfahren hat, sondern aus der gestohlenen Post?
Wieso sollte Tom zulassen oder gar wollen, dass Harriet meine Kleider anzieht und darin für Fotos posiert? Wenn sie sich tatsächlich bei uns in der Wohnung getroffen haben, wieso hat er sie dann nicht daran gehindert, mit ihren viel zu langen Storchenbeinen in meinen Jumpsuit zu steigen? So etwas tut man doch nicht, wenn man heimlich Sex mit der Nachbarin hat.
Nein, das ist das Verhalten einer kranken Stalkerin, die Beweise fingiert, um sie später für ihre Zwecke einzusetzen.
Diese Überlegungen reichen, um Zweifel in mir aufkommen zu lassen. Ich bin verunsichert und angreifbar, aber noch ist nicht alles vorbei. Vielleicht kann ich meine Familie doch noch retten. Wenigstens mein Baby.
Schlagartig hellwach, sehe ich mich um.
Harriets Wohnung ist klein, ein Spiegelbild unserer eigenen. Ich nehme jedes Detail in mich auf. Flucht ist ausgeschlossen. Die Tür zum Nebenzimmer kann man nicht abschließen, ich kann also nicht einmal dorthin rennen, mich verbarrikadieren und jemanden anrufen oder ausharren, bis auf mein Schreien hin Hilfe kommt.
Harriet und ich sind auf uns allein gestellt.
Das verängstigte Pochen meines Herzens erinnert mich daran, dass es noch einen zweiten Herzschlag in mir gibt. Leiser, schneller, aber noch unberührt von meiner Angst. Dem Kind darf nichts passieren. Es hat sich so sehr angestrengt, um existieren zu dürfen.
Was, wenn Tom immer noch der Alte ist? Ich muss unbedingt zu ihm und ihn fragen. Wir haben so viel gemeinsam durchgestanden, ich kann ihn jetzt nicht einfach aufgeben. Nicht, solange auch nur der Hauch eines Zweifels besteht. Denk nach, Lexie. Denk nach.
Doch plötzlich gibt es keine Gelegenheit zum Nachdenken mehr. Harriet stürzt sich auf mich, sodass ich rückwärts aufs Sofa falle. Ich schreie. Seit ich schwanger bin, wage ich es nicht einmal mehr, den Kanten der Arbeitsplatten in unserer Küche zu nahe zu kommen aus Angst, ich könnte mich stoßen. Jetzt liegt ein ausgewachsener Mensch auf mir und hält mich fest. Ihre Augen lodern. Sie wusste von Anfang an, worauf es hinauslaufen würde. Sie hat die Macht. Ich versuche mich zu bewegen, aber sie ist zu schwer, und außerdem bin ich starr vor Angst. Das Baby, das Baby, das Baby. Das Baby, für das wir so viel auf uns genommen haben.
»Verunstalte mein Gesicht«, flehe ich. »So wie du es bei ihr gemacht hast. Bei Naomi. Mein Gesicht, mein Gesicht, mein Gesicht!«
Mein Gesicht spielt keine Rolle. Nur ein einziger Teil von mir ist wichtig.
Aber mein Gesicht interessiert sie nicht. Stattdessen winkelt sie das Bein an, um mir das Knie in den Bauch zu rammen. Wieder und wieder versucht sie es, aber ich mache mich ganz klein, winde mich verzweifelt unter ihr und drehe mich zur Seite, um das Kind irgendwie vor ihr zu schützen.
Das ist es, was sie die ganze Zeit wollte. Sie wollte Tom, ja, aber sie wollte auch mein Glück zerstören. Sie wollte nicht länger in ihrer freudlosen Wohnung sitzen und meine Freude ertragen müssen. Sie ist getrieben von Neid. Das weiß ich, denn mit Neid kenne ich mich aus.
Fieberhaft sehe ich mich nach ihrem Schlüssel um, doch im nächsten Moment treffen sich unsere Blicke, und ich weiß genau, wie die Geschichte ausgehen wird.
»Sie war auch nicht geschminkt«, sagt sie emotionslos.
Naomi.
Mir wird klar, dass sie alles von langer Hand geplant hat. Sie ist eine waschechte Soziopathin – vielleicht sogar eine Psychopathin –, und höchstwahrscheinlich ist auch Tom nichts weiter als ein Opfer. Scheiße, Tom. Bitte, sei zu Hause. Hör das hier. Tu doch was.
»Bitte nicht!«, schreie ich mit überschnappender Stimme, die gleich darauf in ein Schluchzen umkippt. »Tu dem Baby nichts!«
Tom ist nicht da. Wahrscheinlich ist es jetzt sowieso zu spät, ihn für meine Zweifel um Verzeihung zu bitten. Es ist zu spät. Harriet wird nicht plötzlich wieder Vernunft annehmen und mich in Ruhe lassen. Naomi ist der Beweis dafür.
Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, keine Ahnung, wie mein winziger Fötus und ich unserer wahnsinnigen Nachbarin entkommen sollen.
Doch dann sehe ich etwas aus dem Augenwinkel. Mit einer Hand versuche ich meinen Bauch zu schützen, während ich die andere ausstrecke. Weiter und weiter und noch ein Stückchen weiter.
Meine Fingerspitzen tun ihr Äußerstes, um den kostbaren Schatz in meinem Innern zu retten. Sie strecken sich, soweit sie können, und im allerletzten Moment, wie ein Neugeborenes, dessen Mund nach der Brust seiner Mutter sucht, bekommen sie es zu fassen. Den Henkel der Teekanne. Ich lege einen Finger darum.
Und plötzlich durchströmt mich eine bisher ungekannte Stärke. Auf einmal bin ich ein Mensch, der einem anderen mit voller Absicht wehtun kann. Ein Mensch, der zu allem fähig ist. Ich könnte die Zähne fletschen, ich könnte kratzen, töten und verstümmeln. Für dieses Baby würde ich alles tun, wenn sie mich dazu zwingt. Und ich würde es hinterher nicht bereuen. Ich würde nichts empfinden außer der Gewissheit, das Notwendige getan zu haben. Es stellt sich heraus, dass ich ausgerechnet in meinem scheinbar schwächsten Moment am stärksten bin.
Denn diesmal ist es nicht Harriet, die den heißen Tee nimmt. Sondern ich.
Es ist nicht Harriet, die angreift. Sondern ich.
Es ist nicht Harriet, die einen rauen, wilden Schrei ausstößt. Sondern ich.
Sie ist nicht die Einzige, die Macht ausüben kann.
Ich bekomme die Teekanne zu fassen und schleudere sie so fest ich kann. Der Deckel springt ab, und ein Schwall heißer Flüssigkeit ergießt sich über Harriet. Sie gibt einen Laut von sich, den ich in all der Zeit, die ich nun schon Tür an Tür mit ihr wohne, noch nie aus ihrem Mund gehört habe.
Dann schnappe ich mir den Schlüssel zu ihrer Wohnungstür, den ich kurz zuvor erspäht habe – den Schlüssel, mit dem sie mich eingesperrt hat –, und renne los.