Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Schmerzen. Sie sind so überwältigend, dass ich nichts anderes tun kann, als laut zu schreien. Das ist der Moment, in dem Lexie mir entwischt. Sie stürzt an mir vorbei und reißt die Schlüssel vom Regal, wo ich sie hingelegt habe. Kein gutes Versteck, das gebe ich zu – aber ich habe nicht damit gerechnet, sie überhaupt verstecken zu müssen. Lexies Flucht war in meinem Plan nicht vorgesehen.
Ich schreie, aber sie schaut sich nicht um, ob es mir gut geht. Sie rennt einfach weiter, zurück in ihr perfektes Leben.
»Miststück!«, brülle ich, doch sie ist bereits auf und davon. Meine Wohnungstür steht sperrangelweit offen.
Ich will die Verfolgung aufnehmen, aber meine Schmerzen sind zu stark. Die Chance ist vertan.
Ich höre mich schluchzen. Als ich den Blick senke, sehe ich, dass die Haut an meinem Unterarm feuerrot ist. Und die Rötung nimmt immer weiter zu. Mir schwindelt.
Ich lasse mich aufs Sofa fallen und betrachte den Kamillenteefleck an meiner Wand. Auf ihn versuche ich mich zu konzentrieren, während die Schmerzen immer stärker und stärker werden.
Als Luke ausgezogen ist, hat er sämtliche Bilder abgehängt. Danach habe ich die Wände beige gestrichen. Er hat alles mitgenommen, auch meine Fantasie. Lexies und Toms Wände sind natürlich farbig.
Nun ziert wässriger Kamillentee meine Wand. Er sieht aus wie eine Landkarte.
Könnte auch Kunst sein, denke ich benommen. Oder ein Tattoo – als Erinnerung an einen einschneidenden Moment in meinem Leben. Das erste Kunstwerk an meiner Wand, seit Luke verschwunden ist und alle Bilder mitgenommen hat.
Vielleicht gilt dasselbe für die Brandwunde, die langsam an meinem Arm Gestalt annimmt. Auch Kunst, auf irgendeine Art.
Ich denke an Luke, wie er auf unserem Sofa saß, dort wo Lexie bis eben gesessen hat, und trotz der Schmerzen, die inzwischen so intensiv sind, dass mir davon übel wird, wünsche ich mir sehnlichst, er würde zu mir zurückkommen. Die Konsequenzen sind mir egal. Ich brauche jemanden, der wieder Leben in die Wohnung bringt. Der mich wieder zu einem echten Menschen macht. Ich schließe die Augen. Stimmt das? Ist es wirklich das, was ich will?
Ich will, dass Luke mir und den Wänden etwas Farbe verleiht.
Ich glaube, ich fantasiere schon vor lauter Schmerzen. Vermutlich wäre das nicht das Schlechteste.
Ich dachte, wenn ich ihn durch einen Mann ersetze, der ihm ähnlich sieht, könnte ich mir einbilden, dass alles noch so ist wie früher. Ich dachte, mit Tom zusammen könnte ich mir endlich wieder ein richtiges Leben aufbauen. Wir würden eine Familie gründen und im Pub Sandwiches essen, und die Bilder von uns zweien würden den alten Bildern mit Luke so ähnlich sehen, dass ich den Unterschied gar nicht bemerken würde. Wie ein Finde-den-Fehler-Puzzle meines Lebens.
Ich schnappe nach Luft, als mir der Schmerz abermals brennend heiß durch den Körper fährt. Ich sollte die Wunde kühlen, einen Krankenwagen rufen, vielleicht Chantal Bescheid sagen. Aber ich tue nichts von alldem. Ich sitze einfach nur da, weine vor Schmerzen und warte, dass jemand kommt, um mir zu helfen. Und wieder einmal warte ich vergebens.