Von Facebook weiß ich, dass Lexie zu ihrem Bruder gefahren ist. Tom nutzt die Zeit, um sich zu betrinken, als hätte er die Alkoholtoleranz eines Studenten und die finanziellen Mittel eines russischen Oligarchen. Ich weiß das, weil ich im selben Pub sitze wie er, ein Buch lese und ihn beobachte. Darin bin ich mittlerweile ein richtiger Profi. Was man von meinem richtigen Job im Moment eher nicht sagen kann. In meiner Inbox stauen sich bereits die Mahnungen, Nachfragen und Beschwerden. Ich habe Deadlines verstreichen lassen, ich halte Termine nicht ein, ich versage auf ganzer Linie und bin auf dem besten Wege, meinen hart erarbeiteten Ruf zu ruinieren.
Aber wie soll ich mich auch auf die Arbeit konzentrieren, wenn ich gleichzeitig Tom beschatten muss? Ich habe jede Menge Kinderwunsch-Blogs gelesen, und in manchen ging es auch darum, welche Auswirkungen solche Probleme auf Männer haben können. Bestimmt ist es nicht leicht für ihn zu wissen, dass Lexie etwas ganz Bestimmtes braucht, um glücklich zu sein, und dass er es ihr womöglich nicht geben kann.
Toms Freunde bestellen sich etwas zu essen, aber Tom lehnt ab. Ihm geht es nicht ums Essen. Er will sich nicht den ganzen Abend lang an einem Bier festhalten, als wäre es mitten in der Woche und er über dreißig – obwohl beides zutrifft.
Er geht zum Tresen, um Nachschub für alle zu holen.
»Und einen doppelten Jack Daniel’s«, sagt er, nachdem er das Bier bestellt hat, und trinkt den Whisky noch am Tresen aus, ehe er mit den Biergläsern an den Tisch zurückkehrt.
Nach einer Weile winkt er einem Kellner und bestellt sich noch einen Wodka mit Cola. Sein eigenes Glas ist schon wieder nahezu leer, und er sieht sich ungeduldig um. Seine Freunde trinken ihm zu langsam.
Heute Morgen bin ich ihm zu seinem Drehort an der South Bank gefolgt. Ich habe den ganzen Tag in sicherer Entfernung ausgeharrt und mir die Zeit mit einem Buch und meinem Handy vertrieben. Als Patientin in einer psychiatrischen Klinik lernt man warten. Und man lernt sitzen. Sitzen, sitzen und noch mal sitzen.
Als er schließlich seine Ausrüstung zusammenpackte, heftete ich mich an seine Fersen. Wieder führte sein Weg nicht nach Hause, sondern in einen Pub.
Ich registriere die fragenden Blicke seiner Freunde, wenn sie die von ihm angebotenen Schnäpse ausschlagen, weil sie am nächsten Morgen um halb neun in einem Meeting sein müssen oder ein Kleinkind zu Hause haben, das um fünf Uhr dreißig nach seinen Cheerios schreit.
Sie fragen sich, was mit ihm los ist. Ob er schlechte Nachrichten bekommen oder sich mit Lexie gestritten hat. Ob vielleicht jemand aus seiner Familie krank ist.
Ich weiß das aus Erfahrung. Ich selbst habe auch schon getrunken und dabei solche Blicke geerntet. Seine Freunde mögen die Einzelheiten nicht kennen, aber sie wissen, dass dieses Verhalten untypisch ist für Tom und er den Alkohol offenbar nötig hat. Deshalb halten sie ihm, obwohl es Donnerstagsabend ist, geduldig bis um Mitternacht die Stange, auch wenn sie in Wahrheit gerne schon um zehn in ihren Vorort irgendwo in Surrey zurückgekehrt wären.
»Ich bleib noch ein bisschen bei ihm«, höre ich einen seiner Freunde an der Theke zu einem anderen sagen. »Fahr du ruhig nach Hause. Ich will ihn in dem Zustand lieber nicht alleinlassen.«
»Glaubst du, es ist wegen Lexie?«, fragt der andere, ein großer Mann mit Glatze.
»Keine Ahnung«, sagt der Erste. »Aber es kann nichts Gutes sein.«
Das ist echter Großmut, denke ich und sehne mich nach Freunden, die ich nicht mehr habe, und nach Güte, die mir niemand geschenkt hat, als es mir schlechtging.
»Lächle doch mal, Schätzchen«, sagt ein Mann, der am Tresen auf sein Bier wartet, zu mir.
»Ich habe keinen Grund dazu«, gebe ich zurück, lasse mir aber trotzdem einen Drink von ihm spendieren. Ich mustere ihn. Sein Gesicht sieht ganz passabel aus, und ich überlege schon, ob ich mich von ihm abschleppen lassen soll, aber dann fällt mir mein eigentlicher Auftrag wieder ein. Den darf ich nicht aus den Augen verlieren.
Trotz der Januarkälte schlendert Tom in gemächlichem Tempo nach Hause. Er hat es nicht eilig. Ich auch nicht, Tom. Ich auch nicht, denke ich, während ich ihm folge. Wie schade, dass wir nicht zusammen trinken können. Aber dann kommt mir eine Idee.
Am nächsten Abend ist Lexie immer noch nicht wieder da, und Tom tut das Vorhersehbare, nämlich das Gleiche wie am Abend zuvor: Er betrinkt sich nach der Arbeit unter den mitleidigen Blicken seiner Freunde. Das ist lediglich eine Vermutung, denn diesmal bin ich nicht dabei. Ich bin zu Hause geblieben, um meine Falle zu präparieren.
Gestern Nacht war Tom so betrunken, dass er, nachdem seine Freunde sich verabschiedet hatten, garantiert noch auf eine Party gegangen wäre. Leider gab es nirgendwo eine Party. Und genau das wird heute anders sein. Sobald er aus dem Fahrstuhl tritt, wird er merken, dass bei mir gefeiert wird. Er wird es unmöglich übersehen können.
Meine Wohnungstür ist wie immer angelehnt, und gerade als der Zeiger der Küchenuhr auf 12:01 Uhr springt, kommt Tom herein. Ich schmunzle, dann muss ich laut lachen. Tom ist so berechenbar. Er hält sich exakt an meinen Plan.
»Was ist denn so lustig?«, fragt der Typ, mit dem ich bereits seit einer Stunde im Durchgang zur Küche Smalltalk mache, und lächelt verunsichert. Offenbar war es kein komischer Moment in seinem Monolog. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob sein Monolog überhaupt komische Momente hatte, auch wenn er das vermutlich glaubt.
»Wie bitte?«, sage ich zerstreut. »Sorry. Erklär mir noch mal, worin genau dein Problem mit dem Feminismus besteht.«
Während er weiterredet, wandert mein Blick zu Tom. Er trägt ein altes T-Shirt, das früher einmal marineblau war, dazu Jeans und Sneaker. Seine Haare müssten dringend geschnitten werden – noch dringender als sonst. Vereinzelte Schweißperlen zieren seine Stirn, und als er sich umdreht und die Jacke auszieht, sehe ich auch an seinem Rücken einen feuchten Fleck.
Zwischen Tom und mir drängen sich jede Menge Gäste, im Vergleich zu denen ich noch so nüchtern bin, dass ich eine Konferenz leiten könnte. Auch Tom sieht ziemlich fertig aus. Vermutlich ist ihm gar nicht klar, dass er in der Wohnung seiner Nachbarin gelandet ist und sich unter dem riesigen Überwurf mein Lebensinhalt verbirgt – mein Flügel, der im Moment mit Chipskrümeln übersät ist und als Abstellfläche für leere Gläser dient.
Eine Sekunde lang schließt er die Augen und steht einfach nur da. Als er sie wieder öffnet, wirkt er zunächst ein wenig orientierungslos, aber dann kommt schlagartig Leben in ihn.
Auf einmal sind seine Blicke überall. Er registriert Chantal, die allein in der Mitte des Zimmers tanzt, dass ihre knallroten Haare fliegen. Dann Steph, die mit der Weinflasche wie mit einem Teddybär im Arm eingeschlafen ist. Und schließlich einen Mann, der Koks von meinem Flügel schnieft und dessen Namen ich vergessen habe. Ich muss das Ding unbedingt desinfizieren, ehe ich mich morgen daransetze. Der Koksschniefer war schon auf vier meiner Partys, hat aber noch nie mit jemandem ein Wort gewechselt. Offensichtlich möchte er einfach nur nicht allein sein, wenn er Drogen nimmt. Er hält sich im Hintergrund und lässt sich vom Partylärm umspülen. Das kenne ich. Wenn ich ihn morgens an der Bushaltestelle treffe, murmelt er ein verschämtes »Hallo, danke für die tolle Party, ich muss jetzt weiter«, so wie die meisten anderen meiner Gäste auch.
Ich versuche den Anschein zu erwecken, als würde ich mich an dem Gespräch, das ich gerade führe, aktiv beteiligen, doch meine Aufmerksamkeit gilt nach wie vor Tom. Sprich ihn nicht an, sage ich mir. Beobachte ihn einfach nur aus der Ferne.
Aber dann reißt der Mann, mit dem ich mich unterhalte – Aaron? Andy? – mich plötzlich an sich und drückt seine Lippen auf meine. Er schmeckt nach Hopfen und Hefe so wie mein allererster Kuss mit Luke und viele andere Küsse seitdem. Trotzdem mache ich mich sofort von ihm los.
»Was soll das denn werden?«, herrsche ich ihn an, was eine Frau auf der anderen Seite des Raums dazu veranlasst, sich kurz nach uns umzudrehen.
»Ein Kuss.« Er lacht. »So läuft das doch, oder? Wir reden ein bisschen, es macht Klick, und dann küssen wir uns?«
Ich funkle ihn entrüstet an. Ich bin stinksauer, allein schon weil er mich von Tom abgelenkt hat.
»Ich weiß nicht mal, wie du heißt!«, zische ich. »Du hast die ganze Zeit nur langweiliges Zeug gequatscht. Was habe ich zu dir gesagt, das dir auch nur ansatzweise suggeriert hat, es könnte zwischen uns Klick gemacht haben? Wehe, du kommst mir noch mal zu nahe.«
Er quittiert meine überzogene Reaktion mit einem ungläubigen Lachen, trollt sich dann aber, sodass ich mich wieder Tom zuwenden kann. Innerlich brodle ich vor Zorn, dass ich durch die Auseinandersetzung mit diesem Vollidioten wichtige Minuten verschenkt habe. Wenn ich eins hasse, dann vergeudete Zeit.
Aber zurück zu Tom. Während ich so tue, als würde ich etwas auf meinem Handy nachschauen, verfolge ich ihn unauffällig mit meinen Blicken. Ich sehe einen Mann mit traurigen Augen, der zwar keine Drogen anrührt, dafür aber alles trinkt, was sich in Reichweite befindet. Er trinkt sogar noch mehr als die anderen Schmarotzer, die sich auf meinen Partys tummeln. Den Rest aus einer herumstehenden Flasche Whisky. Ein Bier, das ihm jemand gereicht hat. Wodka mit Cola, was er sich eigenhändig in meiner Küche mixt, als wäre er hier zu Hause. Einen kurzen Moment gebe ich mich dieser Fantasie hin. Wenn du schon mal dabei bist, Tom, setz doch gleich auch noch Kaffee auf. Wollen wir zusammen ein Risotto kochen?
Ich überlege, ob ich mich darüber ärgern soll, dass er meine Vorräte plündert, ohne auch nur von mir Notiz zu nehmen. Aber im Grunde genommen ist das zweitrangig. Hauptsache, er ist hier. Das ist die perfekte Gelegenheit.
Jemand drückt ihm die nächste Flasche Bier in die Hand. In meiner Wohnung drängen sich fünfundzwanzig bis dreißig Menschen, und Tom verbringt die nächsten zwanzig Minuten damit, sich mit einem jungen, permanent lächelnden Bühnenbildner namens Ian aus dem ersten Stock über die didaktische Zielsetzung des Theaters von Bertolt Brecht zu unterhalten. Ich stehe in ihrer Nähe, höre aufmerksam zu und warte auf nützliche Informationen. Aber der prätentiöse, betrunkene Smalltalk will und will kein Ende nehmen.
»Was hat dich denn hierher verschlagen?«, fragt Tom. »Wenn du doch ganz unten wohnst?«
Ian wirkt überrascht.
»Die Partys auf dieser Etage sind legendär«, sagt er.
»Mann, ich komme mir vor wie ein Opa«, lallt Tom. »Wie deiner vielleicht. Wir wohnen auf dieser Etage.«
»Und du hast noch nie was mitbekommen?«
»Wir hören die Musik und den Lärm, klar. Aber wir hatten keine Ahnung, dass auch Nachbarn zu den Partys kommen. Wir dachten, hier im Haus kennt sich keiner untereinander. Jedenfalls kennen wir keinen.«
Wir, wir, immer nur wir.
»Wenn ich ehrlich bin«, fährt er mit einem Lächeln fort. Ist es ein trauriges Lächeln? Jedenfalls sehe ich einen Anflug von Traurigkeit über seine Züge huschen. »Fühlen wir uns auf dem Sofa mit einem Film und einer Tüte Chips wohler. Wir haben die dreißig überschritten, unser Leben ist ziemlich langweilig.«
»Manchmal höre ich den Lärm, wenn ich abends nach Hause komme und noch keine Lust habe, ins Bett zu gehen. Dann steige ich in den Lift und komme hoch«, erzählt Ian munter, um gleich darauf theatralisch zu raunen: »Außerdem gibt es jede Menge Alkohol.«
Gutes Argument, Ian.
Sie holen sich beide noch ein Bier, und die Unterhaltung wendet sich wieder dem Brecht’schen Theater zu.
Wenn ich das Verb »herumgeistern« höre, denke ich normalerweise an ein großes Haus und eine einsame alte Witwe, aber auch ich geistere oft in meiner Wohnung herum. An manchen Abenden ist die Leere so schrecklich, dass ich es einfach nicht mehr aushalte. Selbst in der Klinik gab es mehr Leben – sicher, manchmal waren es nur die körperlosen Stimmen von Patienten, die weiter unten im Gang auf ihren Betten festgeschnallt waren. Trotzdem. Das ist immer noch besser als nichts.
Jetzt muss ich die Stille aus eigener Kraft ausfüllen, und da ich weder Freunde noch Familie habe, die mir dabei helfen könnten, muss ich Fremde zu mir locken, und dazu fällt mir nur eine verlässliche Methode ein: Ich muss ihnen etwas umsonst bieten. Für die meisten ist das Wein, für einige Männer Sex.
Vielleicht könnte ich auch mit Tom Sex haben. Aber ich verwerfe die Idee recht schnell wieder. Ich muss langfristig denken.
Ihn weiterhin im Auge behaltend, geselle ich mich zu Chantal.
Sie nimmt mich am Arm und wirbelt mich herum, damit ich mit ihr tanze, und ausnahmsweise bin ich glücklich genug, um ihr den Gefallen zu tun. Lachend und trinkend drehen wir uns im Kreis. Irgendwann beuge ich mich zu ihr. »Siehst du den Typ da hinten?«, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie kneift angestrengt die Augen zusammen und schaut in Toms Richtung.
»Der wird mein nächster Freund.«
»Das ist ja großartig!«, flüstert sie zurück, sodass einige Prosecco-Spritzer auf meiner Wange landen. »Du hast einen Mann verdient. Du hast alle Männer verdient.«
Dann zieht sie mich an sich und schunkelt mit mir zusammen im Takt zur Musik, bis sie mir unter Tränen gesteht, dass sie sich höchstwahrscheinlich gleich übergeben muss. Dann nimmt sie ihre Schuhe in die Hand und wankt in Richtung Tür davon.
Dort angekommen, dreht sie sich noch einmal zu mir um.
»Ich weiß, ich muss gleich kotzen«, presst sie hervor und würgt. »Aber ich freue mich wirklich über deinen neuen Freund!«
Sie gibt mir einen Kuss auf den Mund.
Als Tom mehrere Stunden später auf meinem Sofa einschläft, setze ich mich neben ihn und streichle zärtlich sein Gesicht, als wäre er ein Neugeborenes. Ich beuge mich zu ihm herunter, um seinen Atem an meiner Wange spüren zu können. Ich berühre seine Locken, reibe die Spitzen zwischen meinen Fingern und atme tief seinen Duft ein. Bier und Schweiß und Haargel.
Dann zücke ich mein Handy, schmiege den Kopf an seine Schulter und mache ein Selfie von uns. Er reagiert nicht, sondern schläft einfach weiter. Ich bin nur ein Körper unter vielen, und es ist drei Uhr morgens. Dann fällt mein Blick auf seinen Schlüsselbund, der ihm aus der Tasche gerutscht sein muss und jetzt neben ihm auf dem Sofa liegt. In der nächsten Sekunde habe ich ihn eingesteckt.
Einige Zeit später wird er wach. Er verzieht das Gesicht, als wäre ihm übel, dann torkelt er durch die Gästeschar zur Wohnungstür.
Nachdem er gegangen ist, berühre ich die Kuhle, die sein Kopf auf meinem Sofakissen hinterlassen hat. Genau an dieser Stelle sitze ich sonst immer, google seinen Namen und schalte den Ton am Fernseher aus, um besser seine Beziehungsprobleme mithören zu können.
Sekunden später ist er wieder da. Er sucht eine Weile erfolglos nach seinem Schlüssel, ehe er erneut zur Tür hinauswankt. Ach, Tom, denke ich, während ich das Schlüsselbund in meiner Tasche tätschle.
Dann gehe ich ins Bett, obwohl die Party noch in vollem Gange ist. Das bedeutet, dass meine Wohnungstür die ganze Nacht über unverschlossen bleiben wird und jeder einfach hereinspazieren kann. Egal. Der Abend – auch wenn ich ihn größtenteils mit Leuten verbracht habe, die ich nicht kannte und die, ohne auch nur danke zu sagen, fast meinen gesamten Alkohol ausgetrunken haben – war einer der besten Abende seit Langem. Der wunderschöne Tom mit seinen Locken. Mit einem Lächeln im Gesicht und den Anfängen eines Plans im Kopf schlafe ich ein. Sogar im Schlaf halte ich Toms Schlüssel fest in der Hand. Bisher musste ich mich mit ein paar gestohlenen Briefen und Informationen aus dem Internet begnügen – mit kleinen Appetithäppchen. Der Wohnungsschlüssel jedoch verschafft mir Zugang zu einem kompletten Büfett.