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Harriet

Februar

Ich liege jetzt schon seit einer Stunde auf meinem Bett und weine. Nichts setzt mir so sehr zu wie die Nähe zwischen einer Schwester und ihrem Bruder.

Aus den sozialen Netzwerken weiß ich, dass Lexie zurzeit Besuch von ihrem Bruder hat. Sie unterhalten sich leise und innig, sodass ich kein Wort verstehen kann, aber ihr Gelächter dringt durch die Wand, genau wie das Kichern und Kreischen eines kleinen Jungen.

Ich denke an David und daran, dass er mich erst in England besucht hat, als ich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Ich denke daran, dass er mit einer Frau namens Sadie zusammengezogen ist, und frage mich, ob sie wohl bald ein Baby bekommen werden. Wenn ja, werde ich das Kind überhaupt kennenlernen? Werde ich es liebhaben? Werde ich es am Bauch kitzeln, nachdem ich ihm die Windel gewechselt habe? Ich spiele mit dem Gedanken, David zu schreiben. Er fehlt mir so sehr. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es dafür zu spät ist. Es scheint unmöglich, die Zeit zurückzudrehen.

Ich schluchze hemmungslos, aber danach geht es mir, anders als oft behauptet wird, kein Stück besser. Meine Tränen hatten absolut nichts Reinigendes an sich, im Gegenteil: Am liebsten würde ich immer weiter weinen und gar nicht mehr aufhören. Ich klicke Davids Facebook-Seite an, auf der er sein Leben dokumentiert. Dort begegne ich Freunden, die ich nicht kenne, einem Bart, den ich noch nie gesehen habe, und politischen Ansichten, von denen ich nicht wusste, dass er sie vertritt. Es gibt Menschen, die sich am äußersten Rand seines Dunstkreises bewegen und ihm trotzdem näher stehen als ich. Währenddessen lehnt sich Lexie einfach zurück und ist wieder einmal die Gewinnerin. Sie hat einen echten Bruder neben sich auf dem Sofa sitzen, mit dem sie lachen kann.

Das Schlimmste ist, dass ich selbst an meiner Lage schuld bin. Meine Familie war entsetzt über das, was ich getan hatte, aber sie hat trotzdem alles versucht, um die Verbindung zu mir nicht abreißen zu lassen. Nachdem ich David endlich erlaubt hatte, meinen Eltern zu sagen, was geschehen war, beantragten sie – die nie zuvor die USA verlassen hatten – sofort Reisepässe und flogen nach England, um mich in der Klinik zu besuchen.

Als sie ins Zimmer kamen, lag ich regungslos im Bett und blickte an die Decke. Ich hatte kein Handy, um mich zu beschäftigen, keine Bürste, um mir die Haare zu kämmen. Nicht einmal die harmlosesten Alltagsgegenstände konnte man mir ohne Bedenken überlassen.

Während Mom sofort zu mir geeilt kam, blieb Dad zunächst in der Tür stehen. Als ich mich weigerte, Mom zu umarmen, und einfach weiter schweigend vor mich hin starrte, kehrte sie verwirrt und betroffen an seine Seite zurück.

»Das ist eure Schuld«, sagte ich irgendwann. Nicht: »Wie geht es euch?« oder: »Wie war der Flug?«

Meine Worte rissen einen Abgrund zwischen uns auf.

»Das hier ist eure Schuld. Seht nur, was ihr angerichtet habt.«

Es bedeutete mir nichts, dass meine Familie Tausende Meilen weit gereist war, um bei mir sein zu können. Ich dachte ausschließlich an Luke.

Sie schwiegen erschüttert.

»Ihr konntet ihn von Anfang an nicht leiden. Er hat sich nie als ein Teil unserer Familie gefühlt. Deshalb hat er mich auch verlassen. Das habt ihr jetzt davon.«

»Harriet, du kannst uns doch nicht allen Ernstes die …«, begann mein Vater mit großen Augen. Er war kreidebleich im Gesicht. Meine Reaktion verunsicherte ihn zutiefst, genau wie die Umgebung. Sicher hatte sich keiner von uns träumen lassen, dass unser Wiedersehen an einem solchen Ort stattfinden würde.

»Wir möchten dir doch nur helfen«, fiel meine Mom ihm sanft ins Wort und nahm seinen Arm.

Ich wusste, dass sie versuchte, die Situation zu entspannen. Sie wollte mich beschwichtigen wie ein hysterisches Kleinkind.

»Wieso denn?«, fauchte ich und sah ihr zum ersten Mal in die Augen. »Ihr habt mein Leben zerstört. Ihr habt Luke vertrieben. Kein Wunder, dass wir ins Ausland ziehen mussten.«

Sie standen nach wie vor im Türrahmen. Einige Zeit verstrich. Mein Vater, das sah ich ihm an, versuchte immer noch, die Kargheit und Leere meines Zimmers zu verarbeiten, während meine Mutter vergeblich gegen ihre Tränen ankämpfte.

»Ihr habt mich im Stich gelassen«, fuhr ich fort und richtete den Blick wieder zur Decke. »Jetzt lasse ich euch genauso im Stich.«

Sie gingen, kamen aber jeden Tag wieder. Ich weigerte mich, sie zu sehen. Zwei Wochen später mussten sie zurück in die Staaten fliegen.

David gegenüber zeigte ich mich etwas gnädiger. Mein Bruder hatte beschlossen, noch etwas länger in England zu bleiben. Einige seiner Freunde verbrachten hier ein Sabbatjahr.

David war immer schon meine Achillesferse gewesen. Durch ihn begriff ich, was Menschen empfanden, wenn sie von der Liebe zu ihren Kindern sprachen. Für ihn hätte ich mich vor einen Bus geworfen. Ihn wies ich nicht ab, wenn er mich besuchen kam.

Er kam jeden Tag und saß eine Weile an meinem Bett, ehe er sich verabschiedete, weil er noch zu einem Konzert oder in einen Pub oder auf eine Party gehen wollte. Manchmal schwieg ich, manchmal unterhielten wir uns über Musik, Fernsehen oder gemeinsame Bekannte.

Dann, es war ein paar Wochen nach meiner Einlieferung, stand er eines Tages von dem Stuhl auf, auf dem er bisher immer gesessen hatte, setzte sich zu mir aufs Bett und nahm meine Hand. Er fand wohl, ich hätte inzwischen genügend Medikamente verabreicht bekommen und Therapiesitzungen über mich ergehen lassen, um eine Dosis Ehrlichkeit zu vertragen. Ich wappnete mich.

»Ich weiß, das mit Luke hat dir das Herz gebrochen«, begann er sanft. »Aber kannst du vielleicht trotzdem versuchen, mir genauer zu erklären, was passiert ist? Ich kann einfach nicht glauben, dass du zu so etwas fähig bist.«

Die Vorstellung, dass David mich für den Rest seines Lebens verachten könnte, war für mich unerträglich, und in meiner Angst ging ich zum Angriff über.

»Wieso interessiert dich das überhaupt?«, fuhr ich ihn an, während eine Schwester mir ein paar Tabletten gab. »Du hast Luke doch sowieso gehasst.«

Er machte ein entsetztes Gesicht.

»Ich habe Luke nicht gehasst«, sagte er. »Keine Ahnung, wie du darauf kommst.«

Ich zog trotzig eine Augenbraue hoch – eine erbärmliche Geste. Aber Luke hatte es mir gesagt, es musste also wahr sein.

»Und das ist auch gar nicht der Punkt.«

»Ich möchte, dass du jetzt gehst«, sagte ich und wandte mich ab, als er versuchte, mir zum Abschied einen Kuss zu geben.

Danach weigerte ich mich, ihn zu sehen, und weil er irgendwann wieder zur Arbeit musste, kehrte auch er in die USA zurück.

Nachdem ich aus der Klinik entlassen wurde, beschränkte ich unseren Kontakt auf ein absolutes Minimum. Fortan tauschten wir nur noch Banalitäten aus – die Arbeit läuft prima, das Leben läuft prima, alles läuft prima. Verglichen mit unserem Verhältnis davor, war eine tiefe Kluft zwischen uns entstanden, und ich glaube, das Ganze war für ihn so unbegreiflich, dass er irgendwann aufhörte, sich dagegen zu wehren.

Meinen Eltern gegenüber war ich noch unerbittlicher. Sie riefen mehrmals in der Klinik an, und später, nach meiner Entlassung, schrieben sie mir Mails, doch ich zeigte ihnen konsequent die kalte Schulter.

Dann kam ein Brief.

Wir geben nicht auf, Harriet. Du bist unsere Tochter. Wir geben dir die Zeit, die du brauchst, um zur Ruhe zu kommen, aber in einem Monat werden wir dich besuchen, oder wir buchen dir einen Flug nach Hause.

Oft spielte ich mit dem Gedanken, sie anzurufen, mich bei ihnen zu entschuldigen, ihnen alles zu erklären und zu sagen: »Ja, ja, ja, bitte holt mich nach Hause. Kümmert euch um mich. Kocht mir Hühnersuppe.« Ich recherchierte sogar Flugpreise im Internet, weil ich dachte, es wäre vielleicht besser, ihnen alles von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Wenn ich aus eigenem Antrieb zu ihnen käme, würden sie wissen, dass es mir wirklich leidtat, dass ich kein schlechter Mensch war. Doch letzten Endes schämte ich mich zu sehr. Wie sollte ich Menschen, die Jahre investiert hatten, um mich großzuziehen, mich den Unterschied zwischen Richtig und Falsch zu lehren und mir zu zeigen, wie man ein anständiges Leben führte, begreiflich machen, weshalb ich einem anderen Menschen so etwas angetan hatte? Wie sollte ich all das, was ich ihnen vorgeworfen hatte, ungesagt machen? Wie sollten wir uns jemals davon erholen?

Ich dachte an Davids Worte und daran, dass wir die Rollen getauscht hatten. Auf einmal war er der Erwachsene, der Überlegene.

Ich wusste, dass ich es nicht ertragen würde, von jemandem, den ich liebte, verurteilt zu werden. Es war besser, alle Brücken abzubrechen.

Also schrieb ich zurück:

Versucht nicht mehr, mich zu kontaktieren. Besucht mich auch nicht mehr. Ich bin sowieso umgezogen, deshalb wäre es reine Zeitverschwendung.

Lügen, Bitterkeit – was immer nötig war, um sicherzugehen, dass ich nicht den Menschen Rede und Antwort stehen musste, die mich am meisten liebten.