»Lexie!«, tönt es aus meiner Mailbox. »Ich würde gern wissen, wie es dir so geht. Lass doch mal wieder was von dir hören – falls das Leben als Freischaffende nicht zu stressig ist.«
Ich lächle trocken. Die Nachricht ist von Rich, einem alten Schulfreund, den ich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen habe. Warum das so ist, kann ich nicht genau sagen, denn meine Arbeitstage sind kurz und bestehen im Wesentlichen daraus, dass ich die Arbeit – so ich überhaupt welche habe – vor mir herschiebe; meine Abende wiederum verbringe ich im Schlafanzug vor dem Fernseher oder auf Harriets Social-Media-Seiten. Trotzdem gelingt es mir irgendwie, den Anschein zu erwecken, als sei ich eine vielbeschäftigte Frau. Ich habe Zeit, innerhalb von vier Tagen einen dicken Wälzer von Donna Tartt durchzulesen, aber ich schaffe es nicht, mich mit Menschen zu treffen, die mir wichtig sind.
Seit ich vor einem Jahr aus dem Job ausgestiegen bin, haben Verabredungen mit Freunden Schritt für Schritt den Charakter von Vorstellungsgesprächen angenommen, weshalb ich mich meistens davor drücke. Eine Zeit lang konnte ich mir noch einreden, dass das allein aus Selbstfürsorge geschieht. Ich habe meine Arbeitsstelle in der Redaktion aufgegeben, um weniger Stress zu haben, doch ironischerweise ist der Stress jetzt einfach nur breiter gestreut. Mittlerweile stresst mich alles, seien es Zweifel an meiner beruflichen Kompetenz, Freundschaftspflege oder die Frage, ob ich zu viel Weizen esse und ob das womöglich der entscheidende Grund dafür sein könnte, weshalb ich nicht schwanger werde.
Trotzdem glaubte ich lange, dass alles gut war, denn ich hatte ja Tom.
Tom und ich haben uns in London an der Uni kennengelernt. Ich arbeitete neben dem Studium in einem Club, wo es meine Aufgabe war, herumzugehen und pappsüße Shots für ein Pfund pro Glas an den Mann zu bringen. Tom war auf Antibiotika und durfte keinen Alkohol trinken, deshalb wandte ich mich ab, um meine Ware anderswo loszuwerden.
»Was, wenn ich dir zwanzig Pfund gebe und du das Zeug wegschüttest?«, schlug er vor. Es war keine Eitelkeit, sondern reiner Pragmatismus.
Ich lachte, trank in rascher Folge drei von den Schnäpsen, die angeblich nach Apfel schmecken sollten, und setzte mich zu ihm.
Mit meinen einundzwanzig Jahren strotzte ich nur so vor Selbstbewusstsein. Schlank, wie ich war, seit ich meinen Babyspeck losgeworden war, und bereits ein wenig beschwipst. Ich trug einen winzigen hellblauen Fummel aus Lycra mit Spaghettiträgern – ein Kleid, das ich heutzutage für kein Geld der Welt mehr anziehen würde. Inzwischen trage ich Poloshirt und kniehohe Stiefel, wenn ich abends ausgehen will. Aber so waren sie, die wilden Zweitausender. Wenn uns kalt war, wärmten wir uns nicht mit Kaschmirsocken, sondern mit billigem Wodka, und Achtsamkeit bedeutete für uns, dass wir zu unserem Mixgetränk aus Archers Pfirsichlikör und Limo noch einen Schnaps dazubestellten.
»Damals dachte ich, du wärst eine Nummer zu groß für mich«, sagt Tom oft.
Dabei war er genau das, was ich wollte. Ich hatte mir nie einen Mann gewünscht, der besonders laut oder dominant oder sarkastisch oder bissig war. Ich suchte jemanden, der nett war und mir Stabilität versprach. Ich hatte zwar Wurzeln, aber sie waren dünn und weit verzweigt. Als ich sechzehn war, zogen meine Eltern – mein Vater war Pilot – nach Kanada, was meiner Kindheit, die ohnehin bereits eine Vorstufe des Erwachsenseins gewesen war, ein jähes Ende bereitete. Es ist keine tragische Geschichte, mir ist nichts wirklich Schlimmes passiert. Ich wurde nicht mit sieben Jahren Waise oder bin von meinen Eltern verstoßen worden. Aber wenn man gezwungen ist, sehr früh erwachsen zu werden, hinterlässt das Spuren. Ich war einfach noch nicht so weit. Ich haderte mit meinem Babyspeck und war in meinem sich entwickelnden Körper noch nicht richtig angekommen. Ich hätte hausgemachte Mahlzeiten und gemütliche Sofas gebraucht, die nach dem Parfüm meiner Mutter rochen. Einen festen Platz in der Welt. Ein Zuhause.
Als sie wegzogen, taten sie dies in der Auffassung, ihre Elternpflichten erfüllt zu haben. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt, unterhalten uns über FaceTime oder schreiben einander Nachrichten, aber oft denke ich: Wäre es so schlimm gewesen, noch zwei Jahre zu bleiben? Hättet ihr nicht wenigstens warten können, bis ich es über die Ziellinie schaffe? Stattdessen musste ich die letzten Meter allein zurücklegen – orientierungslos und benommen vor Schreck, weil sie auf einmal nicht mehr da waren.
Die letzten zwei Schuljahre verbrachte ich auf einem Internat, danach floh ich nach London. An der Universität war ich die Einzige ohne ein elterliches Zuhause, in das ich über die Ferien oder am Wochenende zurückkehren konnte. Sicher, ich hätte nach Kanada fliegen können – aber nicht mal eben schnell für zwei Tage, um mich von meiner Mutter bekochen zu lassen, meine Weißwäsche abzugeben, mich in mein altes Bett zu kuscheln und wieder ein bisschen wie ein Kind zu fühlen – oder um leicht beschämt meinen Vater zu fragen, ob er einen Blick auf meine Stromrechnung werfen könne, weil ich keine Ahnung hatte, was die einzelnen Posten darauf bedeuteten.
»Du kannst jederzeit zu mir kommen«, bot mein Bruder Kit mir an, der zusammen mit fünf Kommilitonen in einer versifften Studentenbude am anderen Ende des Landes hauste. Ich war ihm dankbar für das Angebot, und ich liebte ihn von Herzen – aber nicht genug, um es mit den Unmengen männlicher Schamhaare aufzunehmen, die bei ihm im Badezimmer herumlagen.
Mein Partner sollte keine weitere Unordnung in mein Leben bringen. Ich sehnte mich nach Herzensgüte und Verlässlichkeit – nach einem Mann, der mir Toast ans Bett brachte und mir ein Taxi rief. Genau das hat Tom immer für mich getan. Und ich für ihn.
»Ich heiße Tom«, sagte er, als ich das Tablett mit den Shots vor uns auf den Tisch stellte. Er streckte mir die Hand hin, und ich zog ihn auf, weil er so förmlich und vornehm tat.
Ich ahmte seinen Surrey-Dialekt nach. Ich lachte, als er mir gestand, dass er seit Kindertagen fast jeden Abend Tagebuch schrieb. Ich trank ein Bier und benahm mich wie ein Kerl.
Als er trotzdem nicht die Flucht ergriff, entspannte ich mich allmählich. Irgendwann bestellte ich das, was ich wirklich trinken wollte, und wir unterhielten uns vier Stunden lang, bis die Lichter angingen und der Club zumachte. Tom brachte mich nach Hause und trug sogar meine Schuhe.
Drei Tage später stellte ich ihn meinen Freundinnen vor. Wir waren eine ganze Horde junger Frauen auf einer Geburtstagsparty. Ich hatte bereits drei Gläser Wein intus und war kurz davor zu glauben, dass die Leidenschaft, mit der ich über obskure Neunzigerjahre-Bands diskutierte, echt war, als ich sah, wie Tom sich mit meiner Mitbewohnerin Alana unterhielt. Beschwipst und glücklich lächelte ich. Er hatte sich auf Anhieb in die Gruppe eingefügt.
An das, was danach kam, habe ich nur verschwommene Erinnerungen, so wie an die meisten Dinge, die damals nach einundzwanzig Uhr abends passierten. Es wurde getanzt, fünfzehn Leute grölten dieselben Songs mit, und als es in Soho Mitternacht schlug, küssten und küssten und küssten wir uns.
Zwei Monate später besuchten wir seine Familie. Wir saßen um einen großen Esstisch herum, seine Mutter tat mir eine Extraportion Lasagne auf und nannte mich »Liebes«, und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu strahlen.
Ich sah zu Tom, der gerade mit einem Stück Knoblauchbrot seinen Teller sauberwischte. Dann ging mein Blick weiter zu seinem Vater, der in Pantoffeln in die Küche schlurfte, um noch eine Flasche Chianti zu holen. Ich roch geschmolzenen Käse und Duftkerzen und hörte das Radio aus der Küche dudeln.
»Du hast echt Glück, weißt du?«, sagte ich zu Tom, als wir später nebeneinander in seinem schmalen Bett lagen. »Dass du so eine tolle Familie hast.«
»Du hast auch eine Familie«, antwortete er und drehte sich auf die Seite. Das Bett war klein, doch wir nahmen die Enge gerne in Kauf. Getrennt zu schlafen wäre uns wie Folter erschienen.
»Wie man’s nimmt«, sagte ich.
Ich hatte ihm noch nicht viel von meiner Familie erzählt, aber selbst wohlwollend betrachtet, hatte sie absolut nichts mit seiner Familie gemein. Toms Mutter nahm mich gleich bei unserer ersten Begegnung in die Arme und drückte mich, wohingegen meine Mutter immer zurückzuzucken schien, wenn ich versuchte, sie zu umarmen. Es lag nicht daran, dass sie körperliche Nähe ablehnte – sie wusste einfach nur nicht, wie sie damit umgehen sollte. Unsere Mahlzeiten waren keine geselligen Zusammenkünfte, sondern dienten in erster Linie der Nahrungsaufnahme. Meistens aßen wir gar nicht zusammen, sondern jeder schmierte sich ein Sandwich, wenn er Hunger hatte.
Für meine Zukunft wünschte ich mir eine Familie, die so war wie die von Tom. Während er, betrunken vom Rotwein, neben mir eindöste, lag ich da, schaute ihn an und dachte bei mir: Ob du wohl derjenige bist, mit dem ich mal Kinder bekommen werde? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie unser Familienleben aussehen würde, aber insgeheim wusste ich es längst: Es würde feste Umarmungen geben, Lasagne und jemanden, der in Schaffellpantoffeln in die Küche schlurfte, um eine zweite Flasche Chianti zu holen.
Seitdem sind dreizehn Jahre vergangen, und Tom ist immer noch bei mir. Er ist immer noch so wundervoll wie am Anfang. Aber er ist eben nur ein einzelner Mensch und kann nicht allein die Verantwortung für unser Leben tragen. Ich habe ihn zu sehr unter Druck gesetzt, ihm eine viel zu große Last aufgebürdet.