KAPITEL 17
Isalda weckte sie, als die Sonne schon aufgegangen war. »Wach auf, wir müssen zur Messe. Beeil dich!«
Tryngen fuhr hoch. Das Bild der verschleierten Schwestern, das sie noch im Kopf hatte, verlor sich im Nichts. Sie rieb sich die Stirn, hinter der ein Unwetter des Schmerzes tobte, und kniff die Augen zusammen. Warum musste ausgerechnet heute die Sonne scheinen und ihre widerlichen Strahlen auf ihr Bett werfen? Es war der Allmächtige, er zürnte ihr wegen der Missetaten, die sie heute Nacht begangen hatte. Frevel.
»Oh Gott, wie siehst du denn aus?« Isalda beugte sich über Tryngens Stirn. »Was hast du getan?«
»N-nichts.« Tryngen wehrte sie mit der Hand ab und betastete vorsichtig die geschwollene Stelle. Ziemlich dick. »Bin aus dem Bett gefallen«, murmelte sie hastig.
Isalda verzog missbilligend den Mund. »Du hast geschlafen wie ein Stein«, sagte sie mit vorwurfsvoller Miene. »Was ist denn nur los? Nun mach schon!«
Tryngen erhob sich mit Mühe. Sie fühlte sich, als flösse Blei in ihren Adern. Ihr Kopf pochte vor Schmerz, und sie hatte einen üblen Geschmack im Mund. Sie trug wieder ihr altes Hemd. Aber über ihren Brüsten fühlte sie den neuen Anhänger. Also war alles doch kein Traum gewesen.
Sie wusch sich und spülte sich den Mund aus, dann kleidete sie sich an. Gerade noch rechtzeitig kamen sie zur Messe in der Kapelle und drängten sich zu den anderen Novizinnen. Hinter ihnen standen die Laienschwestern und die Familienangehörigen der Schwestern.
Unauffällig sah Tryngen sich um und erschrak, als sie ihren Vater erkannte. Er trug seinen Sonntagsstaat – Samtkappe, knöchellanger Bliaut, darüber einen Mantel aus feiner Wolle. Sein silbern schimmernder Bart war sorgfältig gestutzt. Er war allein.
Hastig wandte sie sich wieder um und bewegte die Lippen zum Gebet. Was bei allen Heiligen wollte er hier? Sie konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal zur Messe ins Kloster gekommen war, es musste Jahre her sein. Nun kam er ausgerechnet heute. Wenigstens war Alveradis nicht bei ihm. Eine Begegnung mit ihr hätte sie heute nicht ertragen.
Ungeduldig wartete Tryngen die Messe und die anschließende übliche Prozession der Schwestern auf dem Friedhof ab. Sie traf ihren Vater am Rande des Friedhofs. Die Sonne schien auf sein winterblasses Gesicht, doch sein Lächeln erlosch, als er sie sah.
»Was ist das?« Er deutete auf die Beule an ihrer Stirn.
Tryngen musste schlucken. »Ein Sturz. Ich bin heute Nacht aus dem Bett gefallen.«
»Das ist doch unglaublich!« Er holte tief Luft und stemmte die Hände in die Hüften.
»Bitte, Vater, glaub’ mir.«
Er schüttelte den Kopf. »Wann ist das passiert?«
»Ich sagte doch, in dieser Nacht.«
Er nahm sie am Arm und führte sie von den Schwestern fort, die mit ihren Familien an den Gräbern in der Nähe standen. Langsam schritten sie über das Gras. Tryngen musste daran denken, wie sie im ersten Ritual hier mit den Schwestern die Gräber umkreist hatte, um das Zeichen zu beschreiben. Es kam ihr vor wie ein Traum.
Ihr Vater hielt inne. »Wenn du Schwierigkeiten hast, sag es mir bitte! Wo und mit wem auch immer, ich werde mich darum kümmern!« Er sah sie eindringlich an.
Sie hielt seinem Blick stand. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Vater, es geht mir gut!«
»Aber du siehst blass aus!«
»Das ist nichts. Ich hab schlecht geschlafen.«
Er zog seine Stirn in sorgenvolle Falten. »Wirst du am Hof gut behandelt?«
»Ja, ausgezeichnet! Der Propst ist ein guter Herr.« Sie hätte nie geglaubt, dies einmal zu sagen. »Aber nun sag mir, warum bist du hier? Woher wusstest du, dass ich heute hier bin und nicht in der Propstei?«
Endlich lächelte er. »Von ihr.« Er deutete auf Maria, die allmählich herankam. Sie ging so langsam, wie es Tryngen schien, weil sie jeden Schritt auskosten wollte. Mehr Locken als sonst waren ihr ins Gesicht gefallen. Ihre Blässe verlieh ihrer Schönheit einen besonderen Reiz. Sie lächelte.
Alexander starrte sie an. Auch er wurde noch blasser, wie es schien. Vielleicht lag das daran, dass die Wintersonne wieder hinter einer Wolke hervorgekommen war und auf sie herunterschien. Er presste die Lippen zusammen, dann hob er die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Maria«, sagte er nur.
»Schön, dich zu sehen, Alexander.« Sie hielt vor ihnen inne, als müsste sie von einem langen Marsch verschnaufen. Aus der Nähe betrachtet sah sie doch erschöpfter aus. »Ich freue mich, dass du uns nach so langer Zeit wieder besuchst. Wie geht es Alveradis?«
»Gut. Aber sie muss sich heute ausruhen und konnte nicht mitkommen«, sagte Alexander, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Wie bedauerlich.«
»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen und nun gleich zweimal hintereinander. Leider aus weniger erfreulichem Anlass.«
»Das lag nicht an mir«, gab sie zurück.
Wieder maßen sie sich mit Blicken, als würden sie ein stilles Gefecht ausführen, dessen Grund nur sie kannten. Tryngen atmete die frische Luft ein und wünschte sich, bald etwas gegen ihre Kopfschmerzen und die Schwellung tun zu können. Sie hoffte, dass ihr Vater nicht gekommen war, um sie doch noch zu einer Heirat mit Ortwin Schoenweder zu drängen.
»Du hast recht, Maria. Das lag nicht an dir, aber auch nicht nur an mir. Alles hätte anders sein können. Es hätte anders sein sollen.«
Die beiden sahen sich eine Weile an. Sie schienen Tryngen vergessen zu haben.
»Bist du zufrieden mit deinem Leben?«, fragte er.
Maria nickte.
Er presste seine Lippen fest zusammen. »Also war es richtig.«
»Ja.« Sie sah ihm geradewegs in die Augen.
Er sah auf den Boden. Dann hob er den Kopf und fragte: »Warum habe ich trotzdem das Gefühl, dass du nicht glücklich bist?«
»Ich bin zufrieden«, beharrte Maria. »Wenn ich wüsste, dass Tryngen nicht heiraten müsste, wäre ich noch zufriedener. Du machst sie unglücklich, wenn du sie in eine Ehe zwingst, die sie nicht will.«
Sein Mund formte eine harte Linie. »Ich bin ihr Vater und ihr Vormund und bestimme, was für sie das Beste ist.«
Maria trat einen Schritt auf ihn zu. Sie kamen sich so nah, dass ihre Gesichter sich fast berührten. »Bitte sag mir, dass du sie nicht für meine Taten bestrafst.« Der Wind schluckte einen Teil ihrer Worte, und doch glaubte Tryngen, nicht richtig gehört zu haben.
»Bitte hört auf! Ich möchte nicht, dass ihr euch streitet. Vater …«, sie legte ihrem Vater die Hand auf den Arm, »kannst du dich noch daran erinnern, als wir früher krank waren, Bruno und ich? Maria hat uns das Leben gerettet.«
»Ich weiß. Wie könnte ich das je vergessen?« Alexander schluckte, sodass sein Adamsapfel hüpfte. Eine Weile sah er schuldbewusst aus. Tryngen musste mit den widersprüchlichsten Gefühlen kämpfen – Mitleid, Liebe und Freude. In diesen Augenblicken – jetzt, wo Alveradis fehlte – war er wieder wie früher. Ihr alter Vater war zurückgekehrt.
Tryngen umarmte ihn. Eine Weile hielt sie ihn umklammert und atmete seinen vertrauten Geruch ein, ehe er sich losmachte. Er lächelte.
»Kommt ihr zu Wilems Hochzeitsfest?«, wollte Maria wissen.
Er räusperte sich, wischte sich kurz mit der Hand über die Augen. »Alveradis nicht, sie ist schon zu weit, das Kind kann jederzeit kommen, aber ich … denke schon.«
Maria nickte und lächelte. Sie redeten nur noch Belangloses, während sie langsam über den Friedhof zurückgingen und Alexander zur Pforte begleiteten. Tryngen sah ihrem Vater noch lange hinterher, und er drehte sich zu ihrem Erstaunen zu ihr um und winkte.
»Wie anders Vater doch ist ohne Alveradis«, sagte Tryngen zu Maria, als sie wenig später allein in der kleinen Küche am Arbeitstisch saßen.
»Du hast recht, er ist ein anderer Mensch«, bestätigte Maria. Sie nahm Tryngens Kopf in beide Hände und betrachtete die Schwellung im Licht, das durch die Luke hereinfiel. »Sieht böse aus.« Sie runzelte die Stirn, nahm die Wundsalbe aus dem Regal und verteilte sie auf Tryngens Stirn.
»Wusstest du, dass er heute kommt?«
»Nein.« Maria stellte das Gefäß mit der Salbe auf den Tisch zurück. »Als ich bei ihm war, hab ich ihm gesagt, dass wir uns sehr freuen würden, wenn er unserem Kloster mal wieder einen Besuch abstatten würde.« Sie starrte gedankenverloren aus der Luke, dann besann sie sich wieder auf Tryngens Schwellung. »Hast du Kopfschmerzen?«
Tryngen nickte.
»Stark?«
»Ja.«
Maria zog hörbar die Luft ein und reichte ihr den Becher mit dem Trank aus Nesseln und Garbenkraut. »Tut mir leid, ich hab das nicht gewollt«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Die Priorin hat das Ritual geändert. Der Schlag war ihr Einfall. Sie wandelt alles ab. Auch der Sarg … So was gab’s vorher nie. Niemals! Glaub’ mir bitte, dass ich das nicht gewollt habe! Es tut mir so leid!« Sie drückte Tryngen die Hand.
»Schon gut.« Tryngen winkte ab.
»Nein, ist es nicht. Nichts ist gut! Der Trank war zu stark, du hattest gestern Schwierigkeiten. Erinnerst du dich überhaupt noch an das, was geschehen ist?«
Tryngen nickte. »Ich habe etwas gesehen, ein brennendes Feuer auf einem See. Ich wollte es fassen, schwamm hin, aber was ich auch tat – ich konnte es nicht erreichen.« Sie schluckte ihre Traurigkeit herunter, die bei der Erinnerung an das Bild wieder aufgestiegen war.
Maria starrte sie an. Sie sah aus, als wollte sie sie etwas fragen, schien sich aber dann anders zu besinnen. »Die Bilder, die das Sternenauge uns schickt, sind oftmals … verstörend. Oft sind es nur Trugbilder, aber manchmal ist es auch die Wahrheit.«
»Die Wahrheit? Wie kann ich wissen, was die Wahrheit ist und was Trug?«
»Du wirst noch lernen, das zu unterscheiden. Das Wahre offenbart sich immer früher oder später«, erklärte Maria. Sie erhob sich, holte ein paar getrocknete Kräuter aus der angrenzenden Kammer und begann, sie in einem Napf mit einem Mörser zu zermahlen. »Weißt du, wer die anderen sind?«
Tryngen rieb sich die schmerzende Stirn. »Ja«, antwortete sie. Maria und Elisabeth, Richmud, Blithildis, Duregin. Und die Priorin natürlich. Leise zählte sie ihre Namen auf.
»Siehst du, du weißt es«, bestätigte Maria. »Obwohl wir uns nicht enthüllen, zu unserem Schutz. Nur die Wissenden zeigen sich voreinander.« Sie wandte sich zu Tryngen um, nahm den Napf und befahl ihr, den Kopf stillzuhalten. »Du weißt nichts, hörst du?« Vorsichtig verstrich sie die frische Kräuterpaste auf Tryngens geschwollener Stirn.
»Natürlich, ich hab’s doch geschworen.«
Maria stellte den Napf auf den Tisch zurück und begann, Tryngens Kopf mit einem Verband zu umwickeln. »Mir gefällt das nicht. Gerade jetzt, wo du am Hof bist. Ich hätte dich nicht … es hätte nicht sein dürfen.«
»Aber ich wollte es doch!«, entgegnete Tryngen. »Der Propst ahnt überhaupt nichts. Ich werde den Teufel tun und irgendetwas verraten.«
Maria nickte und verknotete den Verband. Sie ließ sich zurück auf den Schemel sinken und starrte eine Weile vor sich hin. Tryngen erschrak, weil sie so bedrückt war, sagte aber nichts. Ihr Vater hatte recht, Maria war nicht zufrieden, und sie hatte nichts davon geahnt. Maria versteckte etwas vor ihr, wahrscheinlich, um sie nicht zu belasten. War ihr Vater deswegen hier gewesen, weil er es geahnt hatte? Hatte sein Besuch womöglich gar nicht ihr gegolten, sondern Maria? Über was hatten die beiden wirklich gesprochen?
Sie wagte es nicht, Maria zu fragen. Sie hatte das Gefühl, dass es sie nichts anginge. Aber sie wollte sie trösten. »Es ist doch alles nicht so schlimm. Die Schwellung wird zurückgehen, und Propst Engelbert ist … ich war wieder zum Schachspiel bei ihm!« Für einen Augenblick waren ihre Kopfschmerzen vergessen, und sie lächelte glücklich.
Maria starrte sie an. Sie schüttelte den Kopf. Dann sprang sie auf und lief unruhig vor der Feuerstelle hin und her, während sie ihre Hände knetete. Nach einer Weile hielt sie inne. »Das ist sehr schön. Ich freue mich für dich.« Aber ihr Lächeln wirkte gequält.
Tryngen musterte sie besorgt. Sie hatte Maria noch nie so unruhig gesehen. »Was ist mit der Schwesternschaft?«, fragte sie leise. »Was ist los?«
»Ich sagte ja schon – seitdem sie hier ist, ist alles anders. Die Rituale … ich hatte gehofft, sie würde endlich gehen und Richmud ihre Stellung überlassen, wie es geplant war. Aber sie ist immer noch hier. Etwas muss sie hier festhalten.«
»Vielleicht will Richmud nicht«, meinte Tryngen. »Es ist ihr zu gefährlich. Weil sie doch Meisterin ist.«
Maria antwortete nicht und nahm ihren unruhigen Lauf wieder auf. Tryngen fragte sich, ob Marias seltsame Unruhe von den Tränken kam. Vielleicht war es schädlich, wenn man sie immer wieder nahm. Wenn das so wäre, würde auch sie früher oder später darunter leiden. Sie spürte, wie der pochende Schmerz in ihrem Kopf stärker wurde. »Das Sternenauge«, begann sie mit rauer Stimme. »Was ist es? Kann ich nun mehr über die geheimen Tränke erfahren, die ihr benutzt? Ich bin doch jetzt eine Lernende.« Auch deshalb war sie doch Lernende geworden, setzte sie in Gedanken hinzu. Sie musste an die Schriftrollen denken, die sie in der Nacht auf dem Altar gesehen hatte.
Maria seufzte. »Meine Ziehmutter hat alles aufgeschrieben, aber ihre Aufzeichnungen sind mit allen anderen Schriftrollen, die die Schwesternschaft besitzt, bei der Hohepriesterin. Nur sie entscheidet, wer Zugang zum Wissen erhält. Ich weiß nicht, was sie damit macht, und ob sie sie dir jemals zeigt. Aber du hast recht. Du bist eine Lernende, und so werde ich dir jetzt die geheimen Kräuter zeigen.« Sie ging in die angrenzende Kräuterkammer und kehrte wenig später mit einem Kräuterbündel und einem hölzernen Kasten zurück. »Du weißt, dass wir das Bilsenkraut sammeln und auf dem Dachboden trocknen. Kannst du dich noch erinnern, wie wir es früher in dem verlassenen Dorf gefunden haben?«, fragte sie und deutete auf die getrockneten Blätter auf dem Tisch. »Ich habe dir damals erklärt, dass du es nicht anfassen darfst, weil es die Menschen verrückt macht. Wir machen einen Sud aus den Blättern und geben etwas davon in das Sternenauge.«
Tryngen erinnerte sich an das Kraut mit seinem widerlichen, unverkennbaren Geruch. Sie beugte sich über die trockenen, bräunlich grünen Blätter und roch. Der Geruch war schwächer geworden, aber immer noch unverkennbar.
Maria zog einen Schlüssel aus ihrer Gürteltasche und öffnete den Kasten. Darinnen lagen Stoffsäckchen, die mit Wollkordeln oder Lederbänden fest verschnürt waren. Sie zeigte Tryngen die Kräuter, die das Sternenauge noch enthielt, und erklärte ihr, wie viel und was davon in den Trank gehörte. Zum Schluss versprach sie, ihr nach und nach mehr über die geheimen Kräuter und Tränke zu erzählen. Tryngen war froh, endlich alles zu erfahren.
»Maria, was bedeutet es, wenn ein Toter schwarz ist im Gesicht, nachdem er plötzlich gestorben ist? Wurde er vergiftet?«, fragte sie zum Schluss.
Maria ließ die Hände sinken, die sie sich gerade gewaschen hatte und nun mit einem Leinentuch abtrocknete. »Warum fragst du das?«
Tryngen zögerte. Sie wollte sie nicht beunruhigen, daher konnte sie ihr nicht die Wahrheit sagen. »Einer der Knechte ist neulich plötzlich gestorben«, log sie rasch. »Er wurde morgens tot in seiner Kammer gefunden und war schwarz im Gesicht.«
»Hm.« Maria hängte das Tuch zurück an den Nagel. »War er denn schon älter?«
»Ja, ein älterer Mann.«
»Sonst war nichts Auffälliges mit ihm? Hat er sich übergeben? Gab es Zeichen für einen Todeskampf?«
»Die Leute sagen Nein, ich weiß es aber nicht. Ich hab nur das Gerede gehört.«
»Ach, die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist, das weißt du doch!« Maria winkte ab. »Es ist schwer zu sagen, wenn man den Toten nicht gesehen hat, und selbst dann weiß man’s nur selten. Er könnte auch einen plötzlichen Tod gestorben sein.«
Tryngen nickte. Magister Pilgrim hatte also das Geheimnis seines Todes mit ins Grab genommen.
»Gifte sind heimtückische Waffen«, sagte Maria. »Du kannst sie meistens nicht mal riechen.«
Tryngen ging zu Fuß in die Stadt zurück und gelangte durch den Zugang in der Nähe der Pfaffenpforte in den Hof. Zum ersten Mal, seit sie hier war, freute sie sich, wieder zurückzukommen. Der Pförtner kannte sie mittlerweile und ließ sie wortlos ein. Sie beschloss, auf das Abendessen zu verzichten, in der Kapelle St. Lambert zu beten und sich gleich danach hinzulegen. Sie war müde, erschöpft und hatte außerdem keine Lust, sich Clementia gegenüber für ihren Verband rechtfertigen zu müssen.
In der Kapelle knieten nur ein paar Mönche und lauschten dem Gebet des Vikars. Tryngen zog den Schleier tiefer ins Gesicht und kniete sich hinter sie. Sie hoffte, dass sie an diesem Abend niemandem mehr begegnen würde, den sie kannte. Sie hatte keine Lust mehr zu lügen. Aber gleich morgen würde sie Propst Engelbert unter die Augen treten müssen. Ihm ihre magere Ausrede aufzutischen, war ihr zutiefst zuwider. Wie hatten die Schwestern ihr das nur antun können?
Die Erinnerung an den engen dunklen Sarg, an die Knochen kam wieder hoch, und sie spürte, wie sich ein Alb auf ihre Brust setzte und ihr die Luft nahm. Die letzte Nacht war ein Traum, etwas, das sie vergessen wollte. Der berauschende Trank hatte ihr ein enttäuschendes Trugbild geschickt und Schmerzen in ihrem Kopf hinterlassen. Sie hatte geglaubt, sie würde eine Schwester der Hohen Mutter werden, der Gottesmutter und Heiligen Jungfrau Maria. Aber die hölzerne Figur mit dem Halbmond, die sie auf dem Altar gesehen hatte, war eine fremde Göttin gewesen. Eine, die sie noch nie gesehen hatte. Die Gottesmutter habe viele Gesichter, sagte Maria immer. Aber Tryngen wusste nun, dass sie sich irrte.
Sie hatte das Gefühl, dass der Alb auf ihrer Brust schwerer wurde. Hastig rang sie nach Luft, schluckte die aufsteigenden Tränen herunter und betete gegen ihre Angst und Enttäuschung an.
Als sie nach den Gebeten die Kapelle verließ, erblickte sie Bruder Stephanus mit zwei anderen Mönchen aus dem Heiliggeisthaus. Sie hatte ihn seit dem Vorfall mit dem Capellarius nicht mehr gesehen und rechnete mit seiner Ablehnung, aber er kam lächelnd auf sie zu. »Schwester Tryngen!« Er drückte ihre Arme fest mit seinen dicken Fingern. »Ich freue mich, dich zu sehen! Wie lange ist’s her, dass du uns verlassen hast?«
»Einen Mond«, sagte sie und lächelte verlegen. Wie geschickt er umschrieb, dass sie ihn belogen hatte! Aber er schien es ihr nicht nachzutragen.
»Ich hoffe, es gefällt dir gut bei Propst Engelbert?« Neugierig musterte er sie im Licht einer Fackel. Es war bereits dunkel, aber natürlich bemerkte er sogleich ihren Verband. »Was ist denn da geschehen, Mädchen?«, wollte er wissen.
Sie erzählte ihm das, was sie auch schon ihrem Vater gesagt hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Du kommst mit«, bestimmte er. »Ich hab eine hervorragende Salbe gegen so was.« Er winkte seinen Brüdern, dass sie vorgehen sollten, nahm ihren Arm und zog sie über den Klosterhof zum alten Palast.
»Bruder Stephanus, ich bin schon im Kloster gut versorgt worden«, protestierte sie.
Doch er ließ ihre Widerrede nicht zu. »Gegen meine Salbe kommt nichts an! Schon morgen wird man weniger seh’n, glaub mir«, versicherte er und drängte sie sanft vorwärts, als sie über den Flur zum Krankensaal schritten. Leise öffnete er die Tür, nickte dem Krankenbruder zu und führte Tryngen in den Aderlass-Raum, wo er sie auf den Schemel drängte und in seinem Regal nach etwas suchte.
»Was ist aus Kuno geworden?«, fragte Tryngen, die sich wieder an die Aderlässe erinnerte, die sie hier vorgenommen hatten.
»Kuno?« Bruder Stephanus wandte sich zu ihr um und blickte sie fragend an.
»Der Mann mit dem starken Husten, den Ihr zur Ader gelassen habt.«
»Ach so! Der ist zu Gott gegangen. Nicht lange nachdem du weg warst.«
»Ich hatte mir schon gedacht, dass er nicht mehr wird«, meinte sie betrübt.
»Und ich hatte mir gleich gedacht, dass du nicht nur ein dummes Klostermädchen bist«, sagte der Mönch lächelnd. Er nahm einen Spatel und füllte eine gräuliche Paste aus einem großen Tongefäß in einen kleinen Napf.
»Es tut mir leid, dass ich Euch angelogen habe«, sagte sie kleinlaut. »Der Propst brauchte uns anfangs nicht. Ich habe nur nutzlos herumgesessen.«
»Schon gut, Mädchen!« Er breitete ein kleines Tuch über den Napf und verschloss alles mit einer Kordel. Er hob den Kopf und sah sie an. Auf seinem breiten Gesicht lag ein listiger Ausdruck. »Ich hab das doch gewusst! Bin dir mal hinterhergelaufen und habe mich erkundigt.«
»Ihr habt es gewusst und nichts gesagt?!«
»Würdest du einen dicken Fisch wieder ins Wasser werfen, wenn du ihn im Netz hast?«
Tryngen spürte, wie sie errötete. Es war ihr peinlich, dass er die ganze Zeit ihre Lüge durchschaut und nichts gesagt hatte. Wenigstens hatte er sie nicht verraten.
»Ich hab mich gefreut, die Leibärztin unseres künftigen Erzbischofs so näher kennenzulernen«, sagte er.
»Ich bin keine Ärztin«, erwiderte Tryngen. »Ich bin die rechte Hand der Infirmaria im Kloster Weiher.«
»Hier erzählt man sich, du hättest dem Propst das Leben gerettet.«
»Ach ja?«
»Stimmt das etwa nicht?«
»Doch«, sagte Tryngen. »Ich bin nur … überrascht.«
»Warum?«
»Weil man das hier weiß.«
Nun sah Bruder Stephanus überrascht aus. »Es ist schwer, hier am Hof etwas geheim zu halten, Schwester Tryngen. So etwas Außergewöhnliches wie die Rettung unseres Propstes spricht sich doch herum.«
Sie nickte. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass der Mönch ihr Freund werden könnte. Er gab ihr den Napf. »Diese Salbe nimmst du dreimal am Tag und man wird bald nichts mehr sehen. Du willst doch sicher nicht, dass man dir viele lästige Fragen stellt.«
»Danke, Bruder Stephanus.« Tryngen rutschte von ihrem Schemel, als ihr noch etwas einfiel. »Könntet Ihr mir sagen, wie Ihr die Avicenna-Salbe macht? Sie hat beim Capellarius ausgezeichnet gewirkt. Vielleicht könnte sie auch dem Herrn einmal nützlich sein. Wobei ich natürlich hoffe, dass er sie nicht braucht.«
»Ich verstehe – ist nicht leicht für dich, gegen unseren gelehrten Magister anzukommen, was? Diese eingebildeten Herren mit ihrem Buchwissen! Wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, dass du Propst Engelbert gerettet hast. Wir Krankenmeister kennen uns noch immer am besten in der Heilkunde aus, und – bei Gott! – wir halten zusammen.« Er seufzte. »Komm her, wenn du Zeit hast, dann zeig’ ich dir, wie man die Salbe macht.«
Tryngen bedankte sich. Bruder Stephanus begleitete sie hinaus, wurde aber dann zu einem Kranken gerufen und konnte sie nicht zurückbringen. Er wollte ihr einen Diener mitschicken, doch sie lehnte ab. Offenbar, dachte sie, als sie den Flur entlangschritt, war sie nicht die Einzige, die sich mit Lügen half. Auch Mönche, ja selbst Propst Engelbert logen und hatten ihre Geheimnisse, die sie zu bewahren suchten.
Tryngen musste lächeln. Sie verließ den alten Palast und eilte über den dunklen Domhof, vorbei an der Hachtpforte und dem gedrungenen kleinen Steinhaus, wo man sie gefangen gehalten hatte. Schwacher Lichtschein drang aus der Wachstube. Tryngen sah weg, als würde allein der Anblick des Hauses sie wieder in das Verlies zurückversetzen. Sie durchquerte einen schmalen Durchgang, an dessen Ende eine Fackel hinter einem Torbogen brannte, und sah zwei Männer, die dahinter miteinander sprachen. Zu ihrer Überraschung erkannte sie Magister Waldever und Lambert. Sie hielt inne. Was hatte der Magister mit dem Leibdiener des Propstes zu schaffen? Sie hatte sie noch nie miteinander sprechen sehen. Sie starrte auf die Silhouette des Magisters, die sich vor dem Fackellicht abzeichnete – seine vorspringenden Brauen unter der Bundhaube, die dünnen Finger, mit denen er gestikulierte, während er auf Lambert einredete.
Schnell verbarg sie sich im Schatten einer Wand. Der Wind wehte die leise Stimme des Magisters in den Gang, aber sie konnte nichts verstehen, sosehr sie sich auch anstrengte. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. Dann fasste sie den Mut, sich ein paar Schritte an die beiden heranzuschleichen, und verbarg sich in der dunklen Ecke neben dem Torbogen.
»… noch nicht«, hörte sie den Magister sagen.
Eine Weile war es still, dann erwiderte Lambert: »Gut. Wenn er es so will.«
Tryngen vernahm ein Geräusch, als würde einer dem anderen auf die Schulter klopfen. Dann hörte sie Schritte, die sich entfernten. Und Schritte, die näher kamen. Sie hielt die Luft an, presste sich an die Mauer und verharrte still. Mit weit ausholenden Schritten eilte Magister Waldever an ihr vorbei. Sie starrte auf seinen Mantel, der hinter ihm herwallte, und wagte nicht zu atmen. Erst als seine Schritte in der Ferne verklungen waren, traute sie sich aus ihrem Versteck heraus. Zitternd durchquerte sie den Torbogen, als sie jemanden hinter sich bemerkte. Sie fuhr herum, doch es war nur Uda. Gott sei Dank!
»Hast du mich erschreckt!« Sie musste innehalten und nach Luft ringen.
»Tut mir leid, Schwester, das wollte ich nicht.« Uda musterte sie mit einem raschen Blick, während sie an ihrem Mägdegewand herumzupfte. Auch sie schien außer Atem zu sein. »Ihr seid spät. Ich hab Euch schon gesucht!«
»Ach so?« Tryngen dachte, dass sie sich vor der Magd nicht rechtfertigen musste, wo sie gewesen war.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte Uda und deutete auf Tryngens Verband.
»Das ist nichts, nur eine Beule. Bin hingefallen und schlecht aufgekommen.«
»Ah.«
»Warum hast du mich gesucht?«
»Weil man mich schickt. Ihr sollt Euch vorbereiten. Unser Herr will morgen früh zum Kampfplatz, und der Magister und Ihr sollt dabei sein. Falls … etwas passiert.«
»Auf den Kampfplatz?!«
Uda nickte. »Manchmal reitet er mit dem Marschall und ein paar Männern dahin, zum Üben. Ist nicht weit von hier.«
Tryngen schluckte. Sie hatte gehofft, noch etwas Zeit zu haben, bevor sie Engelbert wieder unter die Augen treten müsste.
»W-wann geht es los?«, fragte sie, während sie langsam zum Gesindehaus schritten.
»Gleich nach Sonnenaufgang.«
»Aber ich kann doch nicht reiten!«
Aus den Augenwinkeln sah sie Uda lächeln. »Keine Angst, Ihr fahrt natürlich mit dem Küchenwagen. Ich würd’ unsern Herrn auch gern mal kämpfen sehn! Aber ich muss ja immer hierbleiben.«
Tryngen schluckte gegen die Trockenheit in ihrem Mund an. Sie würde Bruder Stephanus’ Salbe mitnehmen, die eigentlich für sie selbst gedacht war, das Wundkraut, Verbände, ein Essigtuch gegen Ohnmachten.
»Soll ich Euch helfen?«, fragte Uda, als sie das Gesindehaus erreicht hatten.
»Nein danke.«
»Gut. Dann haltet Euch morgen früh bereit.«
Tryngen nickte und beobachtete, wie die Magd in der Dunkelheit verschwand. Mit Furcht dachte sie an den nächsten Tag. Gleichzeitig freute sie sich darauf.