KAPITEL
27
»Du siehst gut aus – so erfrischt«, meinte Propst Engelbert am Abend zu ihr. »Rote Wangen stehen dir bestens, Schwester Tryngen.«
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, während sie noch einmal an seinem Trank roch, nur zur Sicherheit.
»Ihr auch, Herr.« Sie nickte dem Leibdiener zu, damit er ihm einschenken konnte. Propst Engelberts Gesicht war nicht mehr ganz so bleich und eingefallen. Er hatte gebadet, seine Suppen gegessen, alle Tränke getrunken. Am nächsten Morgen würde die Wahl stattfinden, und er wollte zum Erzbischof gewählt werden. Noch am Nachmittag hatte man ihm das kostbare Gewand gezeigt, das er anlässlich dieses besonderen Ereignisses tragen würde – einen Chormantel aus Seide und Leinen, mit kunstvollen Goldfadenstickereien und einer juwelenbesetzten Schließe aus purem Gold.
»Das ist dein Verdienst, Schwester Tryngen.«
Ihr Lächeln vertiefte sich. Sie freute sich für ihn, sie wünschte ihm von Herzen alles Gute, doch sie war mit ihren Gedanken immerzu bei Maria und Wilem. Außerdem hatte sie sich angewöhnt, nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen. Das Gift rief Stimmungsschwankungen bei ihm hervor – in einem
Augenblick sprühte er vor Zuversicht und Hoffnung, im nächsten sah er sich sterben.
»Freust du dich nicht?«
»Doch, ich freue mich sehr, dass es Euch wieder besser geht.«
»Das meine ich nicht. Ich rede von meinem Lob. Es gibt Leute am Hof, die würden sich für ein Lob von mir eine Hand abhacken lassen. Aber an dir scheint es abzuprallen.«
»Nein, ganz und gar nicht. Ihr irrt Euch, Herr. Es ist nur … wie soll ich’s sagen? Wir Melancholiker tragen unsere Gefühle wohl mehr nach innen.«
Er leerte seinen Becher und gab ihn dem Leibdiener zurück. »Getroffen!«, grinste er. »Du wirst besser! Ich bin überrascht, dass Melancholiker so gewandt mit Worten kämpfen können.« Er lächelte wieder sein übliches halbes Lächeln, von dem sie nie wusste, ob er es ehrlich meinte oder nicht.
»Vielleicht bergen Melancholiker Schätze in sich, die Ihr noch nicht erkannt habt«, erwiderte Tryngen.
Sein Mundwinkel sank herab. »Was du nicht sagst! Ich wäre gespannt darauf.«
Sie musste schlucken, als ihr die Doppelbödigkeit ihrer Worte klar wurde. Er könnte sie auf eine Weise verstehen, die ihr ganz und gar nicht recht wäre. Sie starrten sich eine Weile wortlos an.
Er erinnerte sich, durchfuhr es sie. Er wusste wieder, was sie neulich nachts getan hatten
.
Sie war sich plötzlich sicher, dass er es tat.
»Verzeiht, Herr,
so
meinte ich es nicht«, sagte sie hastig.
»Nein? Wie dann?« Er tat ihr nicht den Gefallen, wegzusehen. Sie spürte, dass sie verlegen wurde, und wäre am liebsten hinausgelaufen. Ihr fiel nichts ein, was sie erwidern konnte. Sie fühlte sich überrollt vom eigenen Wagemut, der sie nun kleiner
als zuvor zurückließ. »Wenn Ihr erlaubt, würde ich mir gern ein Bild von Euren Knien machen, Herr.«
»Ich erlaube es nicht. Lenk nicht ab, Schwester Tryngen. Welche Schätze birgst du in dir?«
»Ich habe nicht von mir gesprochen, sondern von Melancholikern im Allgemeinen.«
»Ah, jetzt weichst du aus.« Er lehnte sich seufzend zurück in das Kissen, das sein Leibdiener ihm eben gerichtet hatte. »Dabei würde ich deine Schätze gerne kennenlernen, Schwester Tryngen.«
Sie trat an den Tisch, klappte ihren Korb auf und begann, ihre Salben und Tinkturen zu ordnen. Es kam ihr so vor, als wäre es schlagartig still im Gemach geworden. Der Leibdiener hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, wo er auf neue Befehle wartete. Nur das Gemurmel der betenden Mönche drang durch die offene Tür zum Empfangsgemach herein. Tryngens fahrige Hände warfen ein paar Fläschchen um. »Herr, ich … falls Ihr meint, dass ich … Ich bin eine Novizin und außerdem Eure Heilerin.«
»Genau. Und ich bin der Propst.«
Sie senkte ihre Stimme und blickte zum Wandbehang hinüber, hinter dem sich die geheime Kammer verbarg. »
So
ein … Mädchen bin ich nicht«, sagte sie.
»Ich weiß«, erwiderte er. »Aber in der letzten Zeit habe ich oft gedacht, es wäre besser, wenn du dich nicht mehr hinter Klostermauern versteckst, auch wenn es dort sicher ist.«
Wenn er nur wüsste, dachte sie, was für ein gefährlicher Ort ein Kloster sein kann
.
»Ich bin schon lange nicht mehr im Kloster.« Sie klappte ihren Korb zu. »Seit Monaten bin ich hier am Hof.«
»Gefällt es dir hier?«
»Sehr.« Sie wich seinem Blick aus, damit er nichts von ihrer Angst sehen konnte, die Angst davor, ihn und den Hof eines Tages verlassen zu müssen.
»Sieh mich an, Schwester Tryngen!«, forderte er sie auf.
Sie gehorchte. Er musterte sie aufmerksam. »Diese Schätze, von denen du sprachst – ich finde, du solltest sie der Welt zeigen.«
»Wie … wie meint Ihr das, Herr?«
»Nun, es ist zu schade, wenn Schätze verborgen bleiben. Du bist klug und wissbegierig und …« Er hob die Hand und sah zum neuen Leibdiener hinüber. »Lasst uns allein!«
Der Mann gehorchte und verließ das Gemach, schloss leise die Tür hinter sich. Die Kerzenflammen flackerten auf.
»Schätze«, fuhr er fort, »sollten eines Tages das Licht der Welt erblicken.«
»Ich habe meine Heilkunst schon immer in den Dienst der Menschen gestellt«, erwiderte Tryngen.
»Ich spreche nicht nur von deiner Heilkunst.« Er räusperte sich, nahm seinen Becher und trank. »Ich meine das, was dahinter ist. Was sich in deinem Inneren verbirgt. Manchmal kommt es hervor wie ein Sonnenstrahl, der plötzlich hinter Wolken vorbricht.« Er bedachte sie mit einem ernsten Blick. Sein Mund bildete einen Strich.
»Ihr meint, ich verstecke mich hinter meiner Heilkunst?«
»Nein, das trifft es nicht genau.« Er sann eine Weile nach.
Überrascht wartete Tryngen auf seine nächsten Worte. Das Zögern war ungewöhnlich für ihn, der sonst nie um Worte verlegen war und immer schon den nächsten Satz oder den nächsten Scherz in der Tasche hatte.
»Ehrlich gesagt hat’s mich gefreut zu sehen, wie du dem Magister zunehmend widersprochen hast«, fuhr er fort. »Du solltest dir immer deiner selbst so sicher sein, wie du es in diesen Augenblicken warst. Sei in Zukunft ruhig mutiger!«
»Ich
bin
mutig.«
Er gab ihr seinen leeren Becher zurück, wobei ihre Finger sich kurz berührten. Sie sahen sich einen Augenblick an. Er lächelte, und dieses Mal hob er beide Mundwinkel. Tryngen spürte, wie ihr Herz rascher klopfte.
»Mut ist eine Eigenschaft, die jedem Menschen gut steht, einerlei, ob Mann oder Frau oder welchem Stand er angehört«, fuhr er fort. »Wobei ich nicht vom Hochmut spreche, der verwerflich ist. In meinem Stand gibt es viele hochmütige Menschen. Ihr Hochmut steht ihnen nicht gut zu Gesicht. Hingegen ist es traurig zu sehen, wie jemand sein schönes Inneres vor anderen versteckt und es nicht zeigt.«
Tryngen schwieg betroffen, während sie gegen ihre aufkommende Enttäuschung ankämpfte. Er hatte also nicht von äußerer Schönheit gesprochen, sondern meinte, dass sie nur von innen schön war und das nicht zeigte. Er bemängelte ihren fehlenden Mut. Aber hatte er nicht selbst durch seine schroffe Art dazu beigetragen, dass sie Angst vor ihm hatte? Wie hatte sie doch kämpfen müssen, ihm ihre Angst nicht zu zeigen!
»Manchmal wird es einem aber auch nicht leicht gemacht«, sagte sie.
Engelbert sah auf seine Hände hinunter, die auf der Wolldecke lagen. »Du meinst, der Magister hat es dir nicht leicht gemacht? Natürlich nicht! Warum auch? Er ist dein Gegner. Er will ebenso gerne mein Leibarzt werden wie du.«
»Gewiss«, bestätigte sie. Ein wenig erleichtert war sie schon, dass er wohl nicht im Traum daran dachte, sie könnte ihn gemeint haben.
»Man sollte nicht anderen die Schuld am eigenen fehlenden Mut geben«, meinte Engelbert. »Wobei ich dir durchaus zugestehe, dass du als Herbaria den schwereren Stand hast, gegen den Magister anzukommen.«
Tryngen nickte.
»Aber du hast es gemeistert«, fuhr er fort. »Ich habe jedenfalls keine große Lust, dich herzugeben, damit dieser … wie hieß er noch gleich?«
»Ortwin Schoenweder.«
»… damit Ortwin Schoenweder dich heiraten kann.«
»Danke, Herr!« Tryngen strahlte. Endlich versicherte er ihr, dass sie bei ihm bleiben konnte! Sie würde seine Heilerin bleiben, auch wenn er Erzbischof wäre. Dabei wusste er noch nicht einmal etwas von der Verschwörung und dass Magister Waldever fort war.
»Wolltest du nicht meine Knie begutachten?«, fragte Engelbert.
»Ja, natürlich.« Sie trat an sein Bett, schlug die Decke beiseite. Immer schwerer fiel es ihr, seinen Körper mit dem nüchternen Blick einer Heilerin zu betrachten. Auch jetzt sah sie zuerst seine muskulösen Männerbeine und ertappte sich dabei, einen Blick hinauf zu seinen Oberschenkeln gleiten zu lassen, wo seine Decke endete. Seine Knie waren nicht mehr geschwollen. Bruder Stephanus hatte sie nach dem Bad nicht mehr mit Verbänden umwickelt, sondern nur noch die Salbe aufgetragen. Sie hätte es genauso getan.
Sie spürte, wie er sie beobachtete, und errötete. Rasch deckte sie ihn wieder zu. »Eure Knie sind abgeschwollen«, sagte sie. »Ich werde Eurem Leibdiener sagen, dass er noch einmal Salbe aufträgt. Ihr seid bereit für den morgigen Tag, Herr.«
Seine beiden Mundwinkel hoben sich. »Nun, dann schick ihn mir ruhig wieder rein. Gute Nacht, Schwester Tryngen.«
Sie knickste tief. »Gute Nacht, Herr.«
Sie spürte, wie er ihr hinterhersah, als sie das Gemach verließ.
In dieser Nacht blieb sie mit den anderen vom Gesinde im Empfangsgemach. Ungeduldig wartete sie, bis auch der letzte
Diener eingeschlafen war, dann erhob sie sich und hüllte sich in ihren Umhang. Sie musste noch vor dem Wachwechsel fortkommen, dann würde es ihr vielleicht gelingen, sich an dem müden Gardisten der Leibwache vorbeizuschleichen, anstatt sich von einem ausgeschlafenen Wachhabenden unangenehme Fragen stellen zu lassen.
Aber der Gardist an der Tür hielt sie fest. »Weißt du, wo Wilem ist?«
Erschreckt fuhr sie zusammen und starrte in sein noch junges, glatt rasiertes Gesicht. »N-nein. Warum?«
»Ich hab ihn noch nicht gesehen, und er hat heute Abend Wache.«
»Tut mir leid, ich weiß nicht, wo er ist.«
Der Gardist sah enttäuscht aus. »Ihr seid doch verwandt, oder nicht?«
»Nein, nur gute Bekannte.«
»Ach so. Aber der geht doch nicht in die Schenken oder zu den Huren? So einer ist der doch nicht?«
Tryngen spürte, wie ihre Hände und Knie zu zittern begannen. »Nein! Ich suche ihn und sag dir Bescheid, wenn ich etwas weiß.«
»Gut.« Der junge Mann sah erleichtert aus. »Er sollte bald auftauchen, sonst wirft der Hauptmann ihn raus.«
»Ja.« Tryngen zog ihren Umhang fest zu und verließ mit wackligen Knien den Vorraum. Sie lief zum Gesindehaus, zog sich Udas Gewand in ihrer Kammer an und hüllte sich in ihren Mantel, dann lief sie über den verschneiten Hof zur Pforte. Aus den Fenstern des Doms drang schwacher Lichtschein und leiser Männergesang. Eigentlich war es noch zu früh für die Vigilien. Aber vielleicht hielten die Mönche und Priester wegen der bevorstehenden Wahl Nachtwache. Der Pförtner musterte sie misstrauisch, stellte ihr aber keine weiteren Fragen.
Tryngen atmete auf und beeilte sich. Sie durchquerte das alte Tor in der Heidenmauer und bog in die Straße ein, die durch Niederich führte. Niemand war zu sehen, alles schien schon zu schlafen. Ein leichter Wind wehte durch die stillen Gassen. Als sie an St. Ursula vorbeikam, sah sie, dass auch dort aus der Klosterkirche Licht drang. Auch hier schien man nicht zu schlafen, sondern bereitete sich auf den nächsten Tag vor. Der Tag, an dem in Köln ein neuer Erzbischof gewählt werden würde.
Tryngen spürte einen Stich, als sie an Propst Engelbert dachte. Ob sie wirklich seine Leibärztin werden könnte? Oder hatte er es nur gesagt, um sie in Sicherheit zu wiegen? Sie würde es erfahren, sobald sie an den Hof zurückgekehrt war. Wenn Maria in Sicherheit war. Sie zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken.
Sie verlangsamte ihre Schritte und vergewisserte sich mehrfach, dass ihr niemand folgte, ehe sie in die Gasse am alten Graben einbog. Eine dünne Schneeschicht lag auf den Dächern der Holzbaracken und ließ die Gasse im Gegensatz zu sonst sauber erscheinen. Aber sie konnte den Geruch nach Hundekot nicht verdecken. In den vielen Spuren suchte Tryngen nach Hufabdrücken, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Obwohl sie sich bemühte, leise zu sein, witterten sie Rethers Hunde und begannen zu bellen.
Tryngen beschleunigte ihre Schritte. Sie hastete zum Ende der Gasse. Sie konnte es kaum noch erwarten, zum Versteck zu kommen und endlich zu erfahren, ob Maria und Wilem ihren Verfolgern entkommen waren.
Christinas und Peros Hütte kam ihr noch kleiner und schäbiger vor denn je. Auf einmal erschien es ihr dumm, dass sie beschlossen hatten, Maria ausgerechnet hier zu verstecken.
Sie lief in den Garten. Von einem Pferd keine Spur. Ihr Atem ging hastiger. Sie hob ihre zitternde Hand und pochte
gegen die verwitterte Tür. Zweimal lang, zweimal kurz, das verabredete Zeichen. Mit klopfendem Herzen wartete sie ab.
Nichts regte sich. Das Warten dehnte sich endlos, während ihre Angst stieg. Was würde sie tun, wenn sie es nicht geschafft hätten? Sie wollte nicht daran denken.
Tryngen starrte auf die Tür und betete. Versprach der Hohen Mutter noch einmal ihr Leben, wenn sie das Leben der beiden bewahren würde. Pochte wieder.
Endlich hörte sie von drinnen ein Geräusch, und die Tür öffnete sich endlich einen Spalt breit. Zu ihrem Schrecken sah sie nur Christinas entstelltes Gesicht. Wortlos ließ die kranke Frau sie ein und verriegelte die Tür hinter ihr. Drinnen umfing sie tiefe Nacht. Rötlich glomm der Rest eines Feuers in der Mitte der Hütte. Aus dem dunklen Raum kam eine Hand und legte sich auf ihre Schulter. Wilem! Tryngen sank in seine Arme.
»Na endlich!«, raunte er. »Wo warst du denn so lange?«
»Am Hof. Ich wollte schon früher kommen, aber der Propst hat mich aufgehalten.«
Endlich, nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte Tryngen die Umrisse von Maria. Sie warf sich in ihre Arme, klammerte sich an ihr fest. Atmete tief ihren vertrauten Geruch ein. Über ihre Schultern hinweg sah sie Pero auf seinem Lager am Feuer schlafen. Wieder dachte sie, dass dies kein gutes Versteck wäre. Gewiss, die beiden armen Menschen waren ihnen zu Dank verpflichtet. Aber sie mochte sich nicht ausdenken, was die Schergen der Priorin mit ihnen machen könnten.
»W-wo ist das Pferd?«, fragte sie.
»Bei Rether«, erklärte Wilem. »Es war besser, es bei ihm zu verstecken. Er hat hoch und heilig versprochen, es nicht zu verkaufen. Maria meinte, wir könnten ihm trauen.«
»Sie waren nah an uns dran, aber wir haben es geschafft«, ergänzte Maria stolz.
»Dir ist niemand gefolgt?«, fragte Wilem.
»Nein.«
»Ganz sicher?«
»Aber ja.« Tryngen dachte an die Stille in den Gassen. Sie hätte jedes Geräusch noch in hundert Fuß Entfernung gehört, selbst das Rascheln eines Pferdeschwanzes.
Eine Weile schwiegen sie. Christina schlurfte zur Feuerstelle und füllte eine Flüssigkeit in einen Becher, was sie sehr geschickt mit ihren Handstümpfen bewältigte, kam zurück und reichte ihn Tryngen.
»Danke.« Tryngen umschloss den Becher mit ihren kalten Fingern. Der Trank war wohltuend heiß und schmeckte nach den Kräutern, die Pero im Sommer nach ihren Anweisungen gesammelt hatte und nach denen die ganze Hütte roch. Sie ließen sich auf ein paar Schafsfellen am Boden nieder.
»Es ist nur für diese Nacht«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Morgen wirst du krank, und ich bringe dich ins Heiliggeisthaus zu Bruder Stephanus, Maria. In dem Trubel der Bischofswahl wird das niemand bemerken.«
»Ich hab die Kleider hier«, ergänzte Christina. Die Kleider aus den alten Beständen des Klosters, die sie Christina mitgebracht hatten, würden Maria am nächsten Tag in eine Bäuerin verwandeln.
»Ich auch!« Tryngen klopfte gegen ihren Beutel, in dem sich ihr Schwesterngewand befand. Heute Abend war es besser, es nicht zu tragen, weil Katharinas Bruder sie in ihrer Novizinnentracht sofort erkannt hätte. Aber morgen würde sie sich wieder in eine Schwester zurückverwandeln.
»Gut und schön«, seufzte Maria. »Aber was kommt dann?«
»Das sagten wir doch schon! Wenn wir sicher sind, dass sie dich nicht mehr suchen, kommst du zu Florenzia und mir«,
bestimmte Wilem. »Zurück zum Kloster kannst du nicht mehr, solange sie da sind.«
»Hast du eine Ahnung, wer sie sind, Maria?«, fragte Tryngen.
»Ich weiß es nicht.« Maria starrte lange in die Feuersglut. Ihr Schleier war weit nach hinten gerutscht, und ihre Locken umrahmten ihr Gesicht. »Richmud hat mir nie den Namen von Katharinas Nichte verraten, die den Grafen geheiratet hat. Vielleicht kannte sie ihn selbst nicht. Sie hat Katharina vertraut. Ich glaube nicht, dass sie wusste, wer sie in Wahrheit ist.«
»Meinst du, sie weiß es jetzt?«, flüsterte Tryngen.
Maria hob ihre Schultern. »Ich weiß es nicht. Die beiden sind sehr … vertraut miteinander.«
»Richmud hat uns verraten. Sie wollte ihre Töchter retten, dafür hat sie uns verraten.«
»Die Priorin hat alles zerstört.« Maria begann, leise zu weinen. Wilem legte den Arm um sie. Eine Weile hielt er sie wortlos fest, dann sagte er: »Ich weiß zwar nicht genau, worum es geht, aber vielleicht ist es besser so. Du fängst ein neues Leben an. Du kannst überall als Heilerin arbeiten. Du kannst auch wieder zu Mutter nach Linn zurückgehen. Ich hab sowieso nie verstanden, warum du unbedingt in dieses Kloster wolltest.«
»Die Schwesternschaft ist zerstört, Wilem! Unsere Gemeinschaft …«
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und schluchzte. Beklommen lauschte Tryngen auf ihr Weinen. Trotz des heißen Kräutertranks war ihr furchtbar kalt. Sie wusste, wie viel das Leben als Krankenmeisterin des Klosters Maria bedeutete und was es ihr ausmachen musste, dass die Schwesternschaft nun zerstört war. Viel mehr als ihr selbst.
Sie räusperte sich. »Vielleicht könnten wir eine neue Schwesternschaft …«
»Nein!« Maria fuhr hoch und schüttelte energisch den Kopf. »Es ist vorbei.«
»Aber … wenn nicht mit Richmud … vielleicht in einem anderen Kloster?«
»Nein, Tryngen«, sagte Maria mit tonloser Stimme. »Wir haben unsere Zeit gehabt. Katharina hatte recht: Es ist zu gefährlich. Wir können von Glück reden, wenn sie uns nicht verrät.« Ihr Kopf sank wieder auf Wilems Schulter zurück.
Tryngen schwieg, sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie ließ sich von Christina heißen Trank nachschütten in der Hoffnung, ihr könnte wärmer werden. Aufzugeben, das kam sonst nie für Maria infrage. Vielleicht war sie nur zu erschöpft und zu schwach. Vielleicht würde sie in ein paar Tagen, wenn sie sich erst im Heiliggeisthaus von allen Anstrengungen erholt hatte, wieder anders denken. Aber eigentlich, gestand Tryngen sich ein, hatte sie recht. Es war zu gefährlich geworden, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie ihre letzten Worte nur gesagt, um Maria zu trösten. Sie selbst fühlte sich nun erleichtert.
»Wilem, du musst zurück, sie vermissen dich schon am Hof«, sagte sie in die Stille hinein.
»Morgen früh«, bestimmte er. »Ich sage dem Hauptmann, ich hätte bei meiner kranken Schwester bleiben müssen. Wahrscheinlich steckt er mich dann in die Hacht, aber du kannst ja beim Capellarius ein gutes Wort für mich einlegen, Tryngen.«
»Sei nicht leichtsinnig! Es war schon schwer genug, dich an den Hof zu bringen.«
»Wer ist denn hier leichtsinnig? Ich lass euch auf keinen Fall heute Nacht allein!«
Niemand erwiderte etwas. Tryngen lauschte auf Peros regelmäßige Atemzüge. Irgendwo knackte ein Holzbalken. Kalter Wind drang durch die Ritzen und Löcher der Baracke herein
und ließ sie frieren. Christina humpelte zur Feuerstelle und deutete auf ein kümmerliches Lager aus ein paar Fellen und einer löchrigen Decke, das wohl ihr eigenes war. »Schlaft ein bisschen, Schwestern.«
Die beiden lehnten ab, weil sie ihr nicht das Lager nehmen wollten, doch Christina bestand darauf, dass sie schliefen, und so legten sie sich hin und wärmten sich gegenseitig. Marias Nähe und Wilems Messer in ihrem Gürtel beruhigten Tryngen ein wenig. Irgendwann waren ihre Müdigkeit und Erschöpfung so groß, dass sie tatsächlich einschlief. Sie träumte von Engelbert, wie er am Morgen im Dom – gehüllt in seinen prächtigen Chormantel – auf die Bekanntgabe der Wahl wartete. Wie dann der Dekan das Ergebnis verkündete: Nicht er, sondern Dietrich von Heimbach sei gewählt worden.
Sie erwachte durch ein Geräusch, ein sehr lautes Holzknacken, nein, ein Holzbrechen. Sie fuhr hoch. In der Dunkelheit, die die Hütte erfüllte, erkannte sie nichts. Dann flog die Tür krachend auf. Ein kalter Luftschwall wogte herein und wirbelte die Aschereste des Feuers hoch, die überallhin zerstieben. Die Umrisse von zwei Kriegern zeichneten sich gegen das Morgenlicht ab. Eine Fackel erhellte die winzige Baracke. Ihr Licht zuckte über die Feuerstelle, über Christina, die sich schützend über Pero geworfen hatte, auf Maria, die neben Tryngen aus dem Schlaf fuhr. Wo war Wilem?
Die Männer waren im Nu bei ihnen, zerrten Maria und sie hoch. Sie trugen Umhänge, die ihre Köpfe verhüllten, aber die Flamme zuckte hoch und beleuchtete ihre Gesichter. Katharina von Gründbachs Bruder und sein Freund. Tryngen wollte schreien, aber es kam kein Laut heraus. Sie beobachtete fassungslos, wie Katharinas Bruder Maria packte und aus der Baracke stieß. Der andere führte sie selbst hinaus.
Der Morgen schimmerte zartrosa herauf und warf sein erstes Licht auf den schneebedeckten Garten, wo zwei Pferde warteten. Am Rand der Hütte, nicht weit von Christinas Bank, lag eine dunkle Gestalt im Schnee. Wilem!
Maria hatte ihn im selben Augenblick gesehen und schrie auf. Von Gründbach presste ihr seine Hand auf den Mund. Er zog sein Messer aus dem Gürtel, hielt es ihr an die Kehle. »Keinen Ton mehr oder du stirbst.«
Tryngen dachte, dass sie diesen Mann noch nie hatte sprechen hören. Immer nur hatte seine Schwester geredet. Nun erschrak sie über seine Stimme, die kalt in den Morgen klirrte.
»Wo ist unser Pferd?«, wollte er von Maria wissen.
»Wir … haben es laufen lassen.«
Er richtete die Messerspitze auf ihre Schlagader.
»Wirklich, es ist weggelaufen«, beharrte sie mit zitternder Stimme.
»Warum ist es dann nicht wieder zu uns zurückgekommen?«
»Weiß ich nicht.«
Rethers Hunde stimmten ein ohrenbetäubendes Gebell an. Von Gründbach brachte einen unwilligen Laut hervor und schubste Maria zu seinem Pferd. »Wir werden hier jeden Stein umdrehen«, schnarrte er, »und wenn wir es finden, dann gnade dir Gott!« Er zog ein Seil aus seiner Satteltasche, fesselte Maria die Hände und schob sie auf sein Pferd. Sein Kumpan zog Tryngen das Messer aus dem Gürtel und fesselte sie. Sie sah zu Wilem hinüber, der immer noch reglos im Schnee lag. Täuschte sie sich oder war da ein dunkler Fleck auf seiner Brust? Hatten die Männer ihn erstochen? Hilflos sah sie zu Maria hinauf und begegnete ihrem Blick. Marias Augen waren mit Tränen gefüllt.
Tryngen schrie auf. Vielleicht würden die Armen sie hören und sich mit Christina um Wilem kümmern. Von Gründbachs Freund presste ihr fluchend die Hand auf den Mund. Er packte
sie und hob sie auf das Pferd. »Kein Laut mehr oder du stirbst!«, drohte seine Stimme an ihrem Ohr. Sie konnte sich nur noch an der rauen Mähne festklammern, als die Reiter den Tieren die Fersen in die Flanken drückten und losritten. Tryngen sah sich um, warf einen letzten Blick auf Wilem. Dann sah sie in die Hütte und bemerkte, wie Christina Pero an sich drückte und mit ihren Handstümpfen immer wieder über seine schmutzigen Haare fuhr. Sie betete zur Hohen Mutter für Wilems Leben.