Acht

Sie war kaum einen Tag in Ruanda, als es zum Sturz der Regierung kam. Eben erst war Erica bei der Familie Baptiste eingezogen, die in einem kleinen Mietshaus am Stadtrand von Kigali wohnte. Dort sollte sie drei Tage bleiben und dann zu ihrer Arbeitsstelle im Hochland gefahren werden. Doch letztlich sah sie vom Land nur das, was sie durch das Wohnzimmerfenster mit Blick auf die von Menschen wimmelnde Straße wahrnahm. Die Kleider der Leute wirkten wie leicht mit Mehl bestäubt, so als wären sie in einen Sandsturm geraten. Die Hitze war unglaublich. Männer und Frauen hielten sich Taschentücher an die Stirn und bewegten sich so benommen, als hätten sie Gehirnerschütterungen erlitten.

Beim Essen am ersten Abend herrschte in der engen Küche der Familie Baptiste quälendes Schweigen. Nach einer Weile schaltete die Mutter, eine erschöpfte Frau in einem geblümten Kittel, das Transistorradio ein, das an einem Haken über der Spüle hing, und ein verzweifelt klingender Sprecher verlas auf Französisch die Abendnachrichten. Alle legten das Besteck aus der Hand und lauschten.

Der Vater wandte sich an Erica. Sie wisse ja, dass es im Land politische Unruhen gebe, sagte er in langsamem, gewissenhaft formuliertem Englisch. Ruanda befinde sich in einer Krise, die Regierung stehe auf wackeligen Füßen. Hatten die Leute vom Jugend-Friedenscorps sie nicht gewarnt? Erica schüttelte peinlich berührt den Kopf. Alle starrten sie ausdruckslos an. Außer dem Vater sprach keiner Englisch. Sogar Juvenale, die Tochter in Ericas Alter, besah sie mit unverhohlenem Desinteresse.

Nach dem Essen blieben alle vor dem Radio sitzen und hörten sich zu Ericas Verblüffung Songs von Helen Reddy und Gladys Knight and the Pips an. Eine amerikanische Hitparade. Erica blickte reihum in die schwarzen Gesichter. Alle hörten aufmerksam zu, kein Wort wurde gesprochen. Im Fenster drehte sich gemächlich ein Ventilator, und draußen ertönten gelegentlich Alltagsgeräusche. Sie war in Afrika, am Ziel ihrer Wünsche, aber die Situation ergab für sie keinen Sinn. Das Ganze hätte sich auch in einer Sozialwohnung in Queens abspielen können.

Als sie später in den Spiegel des winzigen Badezimmers sah, das sich die Baptistes mit einer anderen Familie teilten, erschien ihr das eigene Gesicht stark verändert. Es war schon nach einem Tag in der Sonne gerötet und von den Strapazen der Reise eingefallen. Und als sie auf die Liege sank, die der Vater im Eingang zu Juvenales Zimmer aufgestellt hatte, brannten ihre Augen vor Müdigkeit. Es war schrecklich heiß in der Wohnung, ihr Körper unter dem Laken fühlte sich seltsam feucht an. Hinten im Zimmer wälzte sich Juvenale seufzend im Bett. Sie war ein dünnes Mädchen mit tiefschwarzer Haut und tiefschwarzem, zu fingerbreiten Zöpfchen geflochtenem Haar.

»Z’êtes fatigueé?«, fragte Juvenale ins Dunkel hinein.

Erica war so froh, dass jemand das Wort an sie richtete, dass sie lange und ausschweifend in einem mühsamen Highschool-Französisch antwortete, ja, sie sei wahnsinnig müde von dem tagelangen harten Training auf einem Campingplatz in Maine, von der ganztägigen Flugreise und der Busfahrt. Als ihr klar wurde, dass ihre Ausführungen für Juvenale wahrscheinlich keinerlei Sinn ergaben, hörte sie abrupt auf zu sprechen.

Sie wusste nicht weiter. Das Gespräch war bereits an sein Ende gelangt. Die beiden Mädchen lagen im dunklen Zimmer flach auf dem Rücken. Das hier war nur eine Zwischenstation; bald würde sie von Vulkanen umgeben sein und Dorfbewohnern Mundhygiene beibringen. Sie würde Zahnseide an Männer und Frauen verteilen und riesige Plakate mit fröhlich bunten Gebissdarstellungen in die Höhe halten. Doch jetzt, in der Wohnung dieser Familie, die sie, warum auch immer, bei sich aufgenommen hatte, war ihr zumute, als wüsste sie nicht mehr, wo oben und unten war. Nach einiger Zeit akzeptierte sie das Gefühl und ließ sich fallen. Juvenale schlief da bereits. Erica versuchte, es ihr gleichzutun, indem sie sich vorstellte, die heiße, stickige Luft wäre beruhigendes Badewasser. Und beinahe hätte es tatsächlich geklappt. Wenige Augenblicke später war sie fast eingeschlafen, als auf der Straße drei Schüsse hallten. Sie riss die Augen auf.

Vom Gang her ertönten Stimmen. Juvenales Vater erschien, stieß sich den Fuß an Ericas Liege und rief den Mädchen etwas in hektischem Französisch zu. Erica blieb keine Zeit, um ihr Handwörterbuch aus dem Gepäck zu holen; es blieb ja kaum Zeit, um den Morgenmantel anzuziehen. Sekunden später führte der Vater die ganze Familie ins Treppenhaus. Die Nachbarn, die sich dort versammelt hatten, redeten so wild durcheinander, dass Erica kein Wort verstand. Eine einzelne Glühbirne schwang wie ein Pendel an einer Kette und ließ ihren Schein über die Gesichter gleiten. Erica kam sich vor wie in einer seltsamen neuen Diskothek oder nach der Einnahme einer seltsamen neuen Droge. Ihre Zunge fühlte sich dick und starr an, und ihr fielen nur noch die einfachsten französischen Wörter ein. »Un, deux, trois«, flüsterte sie vor sich hin. »Un, deux, trois«. Sie hockte sich zwischen Juvenale und einen alten Mann aus der Nachbarwohnung an die Wand und wartete auf weitere Instruktionen.

So kam es, dass sie nach Hause zurückflog, ohne die Vulkane oder den Kagera oder all die anderen fremdartig klingenden Dinge gesehen zu haben. Ihr Arm schmerzte noch von der Wochen zuvor erhaltenen Impfung, die sich nun als völlig unnötig erwies. Sie hatte weder Wasser aus Ruanda getrunken noch einheimisches Essen zu sich genommen. Die Baptistes hatten ihr Dosenmakkaroni serviert, dann war sie eingeschlafen – mehr war nicht gewesen. Noch vom Hinflug erschöpft reiste sie in die Vereinigten Staaten zurück. Irgendwie fühlte sie sich persönlich verantwortlich für den Putsch, so als hätte ihre Anwesenheit ein ganzes afrikanisches Land aus der Balance gebracht. Als hätte die Ankunft der Dicken die andere Seite einer Wippe nach oben schnellen lassen, Menschen in die Luft geschleudert und eine Regierung gestürzt.

Dottie stand am Gate, als sie eintraf. Erica ließ sich umarmen und wurde zur Limousine gebracht. Opal, die natürlich mitgekommen war, hüpfte auf dem Rücksitz herum, sah fern und nahm sich eine Cola nach der anderen aus der Minibar, doch Erica war zu erschöpft, um sie zu beachten. An den zerdrückten Veloursbezug geschmiegt schlief sie die ganze Fahrt nach Manhattan durch.

Vielleicht, meinte Dottie, ließe sich noch ein schönes Sommercamp für sie finden. Sie zählte mehrere auf – beliebte Camps, die im hinteren Teil der New York Times für sich warben, Camps mit klangvollen Namen wie Golden Lake oder Iroquois Valley. Und dann gebe es ja noch die Abnehmprogramme, Camps mit Namen wie Belle Rêve Camp für übergewichtige Jugendliche, wo Erica viel besser aufgehoben wäre als unter lauter starken, fitten Teenagern in der afrikanischen Savanne: sechs Wochen hungern in einem Zelt mit Mädchen wie sie selbst, weit weg von allem. Doch Erica wollte nirgendwohin, sondern beschloss, zu Hause zu bleiben und sich in ihrem Zimmer einzuigeln, das sie am besten von vornherein nie verlassen hätte.

Opal und Dottie waren beste Freundinnen geworden. In letzter Zeit setzten sie sich oft ans Klavier und sangen Musicalsongs. Eine zutiefst verstörende Entwicklung, die Ericas Ohren komplett überforderte. Sie drehte ihren Plattenspieler auf, was die Stimmen von Reva and Jamie zwar stark verzerrte, aber zumindest alles andere übertönte, besonders die munteren Akkorde vor der Reprise von »Happy Talk«. Sie tauchte in das Klangmeer ein, lag auf dem Bett und ließ sich, obwohl das Zuhören schmerzhaft war, von der Musik überrollen, so wie man, wenn eine Bahn vorbeirast, auf dem Bahnsteig steht und das Unerträgliche erduldet: die große Wand aus Lärm, die einen im Vorbeisausen mit sich zu reißen und erst in letzter Sekunde loszulassen scheint. Dann herrscht wieder Stille im Bahnhof, und man hört kaum mehr als das Ächzen der Drehkreuze.

In dieser Lautstärke war die Musik kein Genuss, aber Genuss spielte sowieso keine Rolle. Das Kiffen mit Jordan fand sie ja auch nicht toll – ihre Hände und Füße fühlten sich dabei so locker an, als wären sie an den Handgelenken und Knöcheln halb abgeschraubt worden. Außerdem verstärkte sich ihr üblicher Appetit in geradezu lachhaftem Ausmaß, sodass sie bestimmte Süßigkeiten wie in Comicblasen über sich schweben sah, Twinkies und Yodels, alles, was weich und in Plastik eingeschweißt war, alles, was keinen Widerstand bot, alles ohne Kruste, ohne Herausforderung. Das beste Essen war so nachgiebig wie Fleisch.

Auch das Gegenteil traf zu: Das beste Fleisch war nachgiebig wie Essen. Jedenfalls schien Jordan das so zu sehen, wenn er mit den Händen an ihrem Körper entlangfuhr und gelegentlich innehielt, um etwas zu ertasten. Den Sex mit Jordan, bei dem es um nichts ging, konnte man gewissermaßen durchschwimmen, bis er sich von selbst erledigt hatte. Niemand verlangte, dass sie es schön fand; nicht einmal, ob sie es schön fand, wurde gefragt. Erica war sich sicher, dass auch Jordan den gemeinsamen Sex als notwendig und erfüllend wahrnahm, obwohl das keiner von ihnen jemals zugeben würde. Ihre Bedürfnisse waren grotesk – als hätten sie herausgefunden, dass beiden das gleiche seltene Enzym fehlte.

Während Erica wie niedergewalzt von der Musik allein im Bett lag, spürte sie zu ihrem Erstaunen, dass sie Jordan Strang vermisste. Nicht ihn, genauer gesagt, sondern den Sex mit ihm. Dass sie auch diese Beschäftigung nicht besonders genoss, spielte für sie keine Rolle. In einer Beziehung gab man jeden Widerstand auf. Es war, als hätte sie sich tausend neuen und zum Teil giftigen Elementen ausgesetzt. Wie der Junge in dem Fernsehfilm würde sie ihr restliches Leben in einem Schutzanzug verbringen müssen. Nur Jordans Berührungen bargen keine Gefahr. Merkwürdig, dass sie die Berührungen eines Jungen brauchte, der sie nicht liebte. Eines Jungen, der niemanden liebte, außer sich selbst und vielleicht Hunter S. Thompson.

Jordan war in ein Computercamp in den Berkshires gefahren. Sie stellte sich vor, wie er nachts in einem Stockbett schlief, eingelullt vom leisen Klicken der Tastaturen, einem Geräusch, das er beruhigender fand als jedes Insektengesumm. Wahrscheinlich leuchteten im ganzen Camp Stockbetten grün oder gelb im Schein der Monitore, die das Dunkel wie Nachtlichter erhellten. Und am Lagerfeuer erzählte der Leiter des Betreuerteams von dem Geist des mysteriösen Computerhackers, der Sommer für Sommer axtschwingend das Camp heimsuchte.

Erica brauchte Jordans Adresse, um ihm zu schreiben, dass er ihr fehlte. Sie wollte es tun, obwohl sie wusste, dass der Brief zu einer umfassenden Beichte geraten würde. Weil ihr der Name des Camps nicht mehr einfiel, rief sie in einem Anfall von Mut bei Jordan zu Hause an; irgendwer würde ihr die Adresse schon geben. Nachdem es drei Mal geklingelt hatte, hob Jordans Mutter den Hörer ab. In Ericas Lid zuckte ein Nerv.

»Hier ist Erica Engels«, sagte sie. »Ich bin Jordans Freundin?« Sie sprach es wie eine Frage aus, um Jordans Mutter die Möglichkeit zu geben, »nein, bist du nicht« zu entgegnen.

Doch Jordans Mutter wirkte im Gegenteil sehr erfreut. »Ja, natürlich. Wie geht es dir, Erica? Ich dachte, du wärst den Sommer über in Ghana.«

»In Ruanda. Aber ich bin wieder da. Es gab einen Putsch, und ich musste nach Hause.«

Jordans Mutter lachte spitz auf. Erst nach einer kurzen Pause sagte sie: »Das tut mir leid.« Dann rückte sie ihre Stimme zurecht und fragte in professionellem Ton: »Was kann ich für dich tun?«

Als Erica um Jordans Adresse bat, reagierte Dr. Strang nachgerade entzückt. »Wie lieb von dir, dass du ihm schreiben willst. Das wird ihn freuen.« Wieder schwieg sie, um schließlich hinzuzufügen: »Weißt du was? Ich habe eine Idee. Am Sonntag ist Elternwochenende, da besuchen mein Mann und ich Jordan in Moccasin Hill. Hättest du Lust mitzukommen? Die Fahrt dauert dreieinhalb Stunden, wir bleiben nicht über Nacht. Jordan wäre bestimmt begeistert.«

Erica stimmte spontan zu.

Am Sonntagmorgen stand sie um sieben vor dem Haus der Strangs. Dottie hatte die Nachricht von dem Ausflug begeistert; sie war überglücklich, dass Erica tatsächlich etwas mit einem Jungen unternahm. Sie freute sich mehr als Erica selbst, die ihre Entscheidung bereits zu bereuen begann. Nun saß sie zwischen großen, klobigen Behältnissen eingezwängt auf der Rückbank des braunen Mercedes. Jordans Eltern hatten einen Picknickkorb gepackt und mehrere Schachteln mit Büchern mitgenommen, um die Jordan gebeten hatte. Weil außerdem Gartenmöbel im Wagen lagen, konnte Erica weder links noch rechts aus dem Fenster sehen.

Jordans Vater sprach kaum ein Wort – ein Verhalten, das Erica von Vätern gewohnt war. Väter, das waren aus ihrer Sicht die, die am Steuer saßen. Sie dachte an ihren eigenen Vater hinter dem Lenkrad des Kombi mit der Karosserie aus Holzimitat und erinnerte sich, wie sie auf dem Sitz hinter ihm seine Kopfform betrachtet hatte. Im Sommer hatte er immer die linke Hand aus dem Fenster gehängt, und nur dieser Teil seines Körpers war mit der Zeit braun geworden. Im Auto der Engels hatte es keine Klimaanlage gegeben, und wenn die Hitze besonders groß war und es auf dem Long Island Expressway nur im Schritttempo weiterging, schnitten Erica und Opal den Leuten in Autos mit Klimaanlage Grimassen.

»Mein Gott, das nenne ich Stoßverkehr«, hatte ihr Vater einmal zu ihrer Mutter gesagt, und jahrelang hatte sich Erica gefragt, warum es so hieß, obwohl die Autos gar nicht zusammenstießen. Ihr Vater auf dem Fahrersitz, das war die deutlichste Erinnerung an ihn. Wann immer sie jetzt an ihn dachte, was nur selten geschah, war es Sommer, und er saß in einem Hemd mit kurzen Ärmeln hinter dem Steuer, die rechte Hand am Lenkrad, während die linke einen nervösen kleinen Rhythmus aufs Wagendach schlug.

Es war lange her, dass Erica mehr als ein paar Minuten in der Nähe eines Vaters verbracht hatte. Sie wusste nicht mehr, wie das ging, wie man sich dabei benehmen sollte. Doch schon nach kurzer Zeit fiel es ihr wieder ein: mit scheuer Achtung, gegründet auf Angst und Respekt. Allerdings verhielt es sich beim Vater eines Freunds noch einmal anders – wie, musste sie erst herausbekommen. Wusste dieser Mann, dessen Gesicht sie nicht sah und den sie nur anhand seines schaufelförmigen Hinterkopfs identifizieren konnte, dass sie mit seinem Sohn schlief? Wahrscheinlich schon. Wahrscheinlich hatte er an einem Winterabend bei der Rückkehr von der Arbeit das Gipsmodell der weiblichen Genitalien auf dem Schreibtisch seiner Frau stehen sehen und zwei und zwei zusammengezählt. War es ihm recht, dass Jordan mit einer Dicken schlief? Oder war es ihm so peinlich, dass er seinen Sohn bei Gelegenheit zur Seite nehmen und ihn auffordern würde, sich etwas Besseres zu suchen? Sie fragte sich, warum ihr so wichtig erschien, was der Mann dachte. Letztlich war er nur eine Chiffre, ein Hinterkopf und zwei Hände an einem Lenkrad. Er stellte ihr keine Fragen, zeigte nicht die geringste Neugier.

Dafür war Jordans Mutter umso redseliger. Sie drehte sich oft zu ihr um, und irgendwann sagte sie: »Jordan hat mir erzählt, dass du die Tochter von Dottie Engels bist. Das hat mich wirklich beeindruckt. Was deine Mutter leistet, ist herausragend. Lachen ist extrem wichtig für das menschliche Wohlbefinden.« Sie drehte sich wieder nach vorn, und bis auf Weiteres war das Gespräch beendet.

Erica vertiefte sich wieder in ihre Reiselektüre, Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen. Sie hatte es schon einmal gelesen, es gehörte derzeit zu ihren Lieblingsbüchern. Sie mochte nur das Ende nicht, wenn das Mädchen gesund wurde, die Psychiatrie verließ und sich nicht mehr in das Geheimland Yr zurückziehen musste. Erica hätte sich gewünscht, Deborah wäre für immer in ihrem kleinen Universum geblieben, in einer Welt, so schön und abgeschieden wie der Garten des Einhorns auf den Wandteppichen in den Cloisters.

Wieder unterbrach Jordans Mutter Ericas Lektüre. »Mir fällt gerade etwas ein. Das gehört jetzt vielleicht nicht hierher, aber meinst du, deine Mutter wäre bereit, bei einem Ärztekongress aufzutreten? Ich weiß, dass sie ein Star ist, aber wir hätten gern mal so jemanden, und die Bezahlung wäre nicht zu verachten.«

»Keine Ahnung, sie hat sehr viel zu tun. Am besten rufen Sie ihren Manager an, der kümmert sich um solche Dinge.« Erstaunt stellte Erica fest, dass sie ihre Mutter instinktiv schützen wollte. Was sprach dagegen, dass Dottie Engels vor Ärzten auftrat? Warum sollte sie sich dafür zu schade sein? Sollte sie sich doch hinstellen, ihre üblichen Dickenwitze reißen und die Ärzte so zum Lachen bringen, dass sie keine Luft mehr bekamen! Doch ihr war klar, dass ihre Mutter ein solches Angebot niemals annehmen würde. Needler war sehr penibel, was ihre Engagements anbelangte. Jeden Herbst kamen diverse Unternehmen auf Dottie zu und baten um einen Auftritt im Rahmen irgendeiner Messe, und trotz der ansehnlichen Gagen sagte sie immer Nein. Wenn ein Comedian plötzlich das Firmenfrühstück von Tekwell im Dorset Hotel moderierte, war klar, dass etwas schieflief, dass etwas zu bröckeln begann, und meist war die Karriere von diesem Moment an nicht mehr zu retten.

Dr. Strang drehte den Kopf wieder nach vorn, und die restliche Fahrt verlief in tiefem Schweigen. Schließlich erreichten sie Moccasin Hill in Lenox, Massachusetts. Erica strich ihre völlig zerknitterten Sachen glatt und spähte durch die Windschutzscheibe nach draußen. In einer Kolonne mit anderen Autos passierten sie einen Holztorbogen. Am Rand der unbefestigten Straße winkte ein weiß gekleideter Betreuer alle weiter. Plötzlich bekam sie Angst vor dem Wiedersehen mit Jordan. Als sie den Parkplatz erreichten, hielt sie mit zusammengekniffenen Augen Ausschau, um herauszufinden, ob er unter den Campteilnehmern war, die mit den Händen in den Taschen auf ihre Familien warteten. Dann sah sie ihn. Überraschenderweise war er nicht allein, sondern lehnte inmitten mehrerer Jungs lässig an einem geparkten Wagen. Sein Haar war lang geworden und reichte fast bis zur Schulter.

Als er das Auto seiner Eltern entdeckte, hob er zögerlich die Hand und ging darauf zu. Gleichzeitig öffneten die Strangs ihre Türen, und Erica blieb hinten im Wagen zurück und sah zu, wie sich Jordan zuerst von seiner Mutter, dann von seinem Vater locker umarmen ließ. Bis jemand die Klappstühle oder den riesigen Picknickkorb auslud, war Erica nun im Wagen gefangen. Es dauerte eine Weile, bis die Strangs an sie dachten. Jordans Mutter drehte sich um und deutete auf das Auto, und Jordan neigte den Kopf und lugte hinein. Ihr Anblick schien ihn zu schockieren. Warum war er so fassungslos? Sie hatten ihm doch bestimmt gesagt, dass sie mitkommen würde.

Nein, sie hatten es ihm nicht gesagt. Sie hatten ihn überraschen wollen und damit einen Fehler begangen, wie Erica sofort erkannte. Erica war niemand, auf den sich Jordan freute oder dessen Kommen ihn gar begeisterte. Er starrte sie durch die Scheibe an und machte keine Anstalten, sie aus dem Auto herauszulassen. Erst als seine Mutter etwas für Erica Unverständliches sagte, streckte er den Arm aus, öffnete die Tür und hob wortlos die Klappstühle von der Rückbank, damit sie hinauskam. Erica rutschte über den Ledersitz, stieg aus und blieb vor ihm stehen.

Er fragte nur: »Was machst du hier?«

»Deine Mutter hat mich eingeladen. Hat sie dir das nicht gesagt?«

»Nein, mir hat keiner was gesagt«, antwortete Jordan. »Ich habe auch nur zwei Karten für die Computervorführung am Nachmittag. Dann muss ich wohl noch eine besorgen.«

Er kam ihr irgendwie verändert vor, und nicht nur weil sein Haar jetzt länger und seine Haut mit hellen Sommersprossen übersät war. Er hielt sich auch anders, aufrechter. Als hätte er in Moccasin Hill Haltungsübungen absolviert.

»Dann kommt mal mit«, sagte er, drehte sich um und ging voraus. Gehorsam folgten ihm Erica und die Strangs, mit Stühlen und Essen bepackt.

Umgeben von anderen Camp-Teilnehmern und deren Eltern breiteten sie auf einer Waldlichtung eine Decke aus und aßen zu Mittag. Einige Jungs erzählten lebhaft, doch die meisten hatten die Arme um die Knie geschlungen und starrten vor sich hin oder zupften unermüdlich an verschorften Wunden. Die Mütter packten Thermoskannen und riesige Plastikbehälter mit Essen aus. Erica war die einzige »Freundin«, denn bei den anderen Mädchen handelte es sich eindeutig um Schwestern. Die waren immer leicht zu erkennen, weil sie genauso teilnahmslos wie ihre Brüder wirkten, gedanklich in ihren imaginären Oasen verharrten oder in Seventeen blätterten. Nur Erica saß dicht bei Jordan und versuchte, ihn zum Reden zu bringen.

»Und warum bist du wieder zurück aus Ruanda?«, fragte er schließlich.

Sie erzählte ihm von der Reise, und er stellte ihr ein, zwei Fragen. Nach und nach entspannten sich alle. Jordans Mutter reichte Grillhähnchen herum, und sie begannen zu essen.

Erst am Spätnachmittag ging Erica mit Jordan in sein Schlafhaus. Seine Eltern hatten darauf bestanden, dass die beiden ein bisschen Zeit miteinander verbrachten, obwohl Jordan nicht besonders erpicht darauf zu sein schien. Während sich die Drs. Strang in der Sporthalle Sketche zum Thema »Das Zeitalter des Computers« ansahen, folgte Erica Jordan auf einem schmalen Weg zu einem Pfahlhaus aus Holz, in dem er mit sieben anderen wohnte, von denen keiner da war. Der düstere Raum war penibel aufgeräumt und roch nach Schüttelmixtur.

»Das ist es«, sagte er mit einer weit ausholenden Armbewegung. Auf einer Ablage neben seinem Bett standen mehrere kleine Pokale. Erica nahm einen und betrachtete ihn. »Erster Platz im Freestyle-Schwimmwettkampf«. Sie sah Jordan an.

»Ist das deiner?« Jordan nickte. Alle Pokale auf der Ablage gehörten ihm, Preise für Siege im Schwimmen, Bogenschießen und Tennis. Jordan Strang, einer der unsportlichsten Schüler der Headley High School, war im Lauf des Sommers ein anderer geworden. Erica fasste es nicht.

In diesem Moment schwang die Fliegengittertür auf, und zwei Jungs kamen herein. Sie ähnelten Jordan, obwohl sie kleiner waren und ihre Haare nicht annähernd so lang wie seine. Der eine kratzte ausdauernd an den Mückenstichen herum, die sich wie eine gepunktete Linie über seinen nackten Arm zogen.

»Wie geht’s, Mann?«, fragte Jordan.

»Alles gut, Jordo«, erwiderte der Junge. »Haben dir deine Leute was Anständiges mitgebracht?«

Jordan zuckte mit den Achseln. »Geht so. Das Übliche.«

»Also dann.«

Erica stand da und hielt noch immer Jordans Pokal für den Sieg im Bogenschießen umklammert. Sie fühlte sich wie bei etwas Verbotenem ertappt, als hielte sie Jordans Penis in der Hand. Sie stellte den Pokal zu den anderen Trophäen.

»Wir müssen los«, erklärte der andere Junge. Jordan hatte Erica noch nicht vorgestellt; allerdings wirkten die beiden auch nicht besonders interessiert an ihr. Vielleicht hatte sie eine Tarnkappe auf. Nachdem die Jungs ihre Carepakete auf ihre Betten geworfen hatten, gingen sie wieder. Klappernd fiel die Gittertür hinter ihnen ins Schloss.

Jordo. Sie hatten ihn Jordo genannt. Wahrscheinlich hatte er sich sein ganzes Leben lang einen solchen Spitznamen gewünscht. Endlich hatte er seine Nische gefunden – ausgerechnet in einem Computercamp, wo alle, die in der Schule als Unberührbare galten, zusammenkamen und den Wortschatz der Coolen einüben konnten. Wo stotternde, magere Jungs sich endlich abklatschen und gegenseitig mit »Mann« anreden durften, ohne dass irgendeiner das Ganze zum Brüllen fand. In diesem von Kiefern umstandenen, sicheren Hort konnten sie dürftige acht Wochen lang den Aufstand proben und gemeinsame Sache machen. Und Jordan hatte es zum Anführer gebracht – vielleicht weil er der größte war oder von zu Hause Drogen mitgenommen hatte. Oder sie hatten einfach Streichhölzchen gezogen. Er hatte hier das Sagen, das spürte Erica. Sie hatte einen seiner Pokale in der Hand gehalten und miterlebt, dass er wie James Dean an ein Auto gelehnt dastand. Und als er sie seinen Gefolgsleuten hätte vorstellen sollen, hatte er sich geschämt und so getan, als existierte sie nicht, als wäre sie seine Schwester oder Cousine, eine Geistererscheinung, die es irgendwie in sein Revier verschlagen hatte. Und die Jungs hatten mitgespielt.

In dem klaren Bewusstsein, dass alles, was sie jetzt von sich geben würde, verzweifelt klingen musste, sah sie ihn an und fragte: »Legen wir uns hin?«

Jordan blickte sich unschlüssig um. »Weiß nicht. Vielleicht kommt jemand rein.«

»Da kommt schon keiner«, entgegnete Erica, und schließlich legte er sich mit ihr auf das untere Bett, blickte sich jedoch ständig im Raum um. Als er das T-Shirt auszog, sah sie, dass er kräftiger geworden war. Seine Brust wirkte wie in Abschnitte unterteilt und fühlte sich hart an.

Nach fünf Minuten stützte sich Jordan auf ihre Schultern, stemmte sich hoch und sagte: »Du hättest nicht herkommen sollen.«

»Ich weiß«, erwiderte Erica.

Er richtete den Blick über sie hinweg auf das vorhanglose Fenster. »Ich muss zurück. Ich möchte die letzten Sketche sehen.« Er setzte sich hastig auf und zog sein T-Shirt an. Während er den Kopf durch den Ausschnitt zwängte, kniff er vor lauter Mühe die Augen zusammen wie ein Baby bei der Geburt. Als Erica sich aufrichtete, krachte sie mit dem Kopf ans obere Bett.

Schweigend gingen sie zur Sporthalle hinunter, er wie immer ein paar Schritte voraus. Hätte sie sich einfach auf den Weg gesetzt, wäre er wahrscheinlich ewig weitergegangen, ohne zu bemerken, dass sie nicht mehr hinter ihm war. Er hatte sich verändert. Er, der für sie immer selbstverständlich gewesen war, die einzige Konstante in ihrem Leben, zeigte sich jetzt distanzierter denn je. Was für ein grauenvoller Sommer. Erst die Enttäuschung mit dem Friedenscorps, jetzt das.

Noch während sie den Abhang hinunterstolperte, beschloss sie, sich umzubringen. Sie traf die Entscheidung ganz leidenschaftslos. Es fühlte sich richtig an. Es war einfach stimmig.

»Ich muss aufs Klo!«, rief sie Jordan zu, der fast schon unten angelangt war. »Ich laufe kurz zum Schlafhaus zurück.«

Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und rief: »Okay, wenn’s unbedingt sein muss. Findest du den Weg nach unten allein?« Wahrscheinlich dachte er, sie hätte ihre Periode, etwas, das er nicht völlig durchblickte.

»Ja«, brüllte sie, und Jordan verschwand im Wald. Diesmal sah sie sich gründlich um, als sie wieder im leeren Schlafhaus stand. Die Betten waren ordentlich gemacht, denn alle uncoolen Angewohnheiten wurden die Außenseiter in einem einzigen Sommer nicht los. Erst nach und nach würde die Unordnung Einzug halten, bis die Zimmer zu Hause irgendwann aussähen wie nach einem Einbruch. Nur die Plattensammlungen blieben perfekt in Schuss. Sobald einer Mutter beim Putzen ein Album aus der alphabetischen Reihenfolge geriete, würde ihr Sohn sie beschimpfen, bis Tränen flossen.

Sie wusste über das Leben von Jungs nur das, was sie durch Jordan erfahren hatte. Wie hätte sie auch viel mitbekommen sollen? Selbst als ihr Vater noch mit ihnen zusammenlebte, war er kaum mehr gewesen als eine Figur in einem Schattenspiel. Seine Männlichkeit hatte er vor Opal und ihr immer versteckt. Nicht einmal ohne Hemd hatten sie ihn jemals gesehen. Opal hatte als kleines Kind nicht gewusst, dass auch Männer Brustwarzen hatten. Männliche Brüste waren in ihrer Vorstellung flach wie Bretter gewesen.

Sie ließ ihren Blick durchs Schlafhaus wandern und sah ausschließlich Männersachen. Wie mit einer Wünschelrute streifte sie durch den Raum. Auf dem Fensterbrett stand eine gelbe Dose Miconazol. »Zur Linderung von Juckreiz im Leistenbereich« stand auf dem Etikett. Das Wort »Leistenbereich« berührte sie unangenehm, obwohl sie es nicht ganz verstand. Es hatte etwas mit den Genitalien zu tun, so viel stand fest, hörte sich männlich und mysteriös an. Auf der Ablage neben dem oberen Stockbett lag Lesestoff, den sie ebenfalls als männlich empfand: zwei Science-Fiction-Romane von Robert Heinlein, ein Computerhandbuch und mehrere Mad-Ausgaben. Die rote Badehose, die in der Ecke über einer Stuhllehne hing, war auf links gedreht, sodass man das feuchte, verhedderte Innennetz sah.

Als sie sich auf Jordans Bett setzte, bemerkte sie eine Schuhschachtel, die unter der Ablage auf dem Boden stand, hob sie auf und nahm den Deckel ab. Es lag Krimskrams darin – Pflaster, Rasierutensilien, ein Asthmaspray und ein Fläschchen Kinder-Aspirin. Dieser Mann, dieser Jordo, der neue, ungetestete, von College-Erstsemestern hergestellte Drogen ausprobierte, schluckte noch immer niedrig dosiertes Aspirin, wenn er Kopfschmerzen hatte. Erica nahm sich das Fläschchen. Es musste genügen, denn etwas Besseres war auf die Schnelle nicht aufzutreiben. Bis sie den Kinderverschluss geöffnet hatte, vergingen Minuten, und es gelang ihr auch nur mithilfe der Zähne. Sie zog den Wattebausch heraus, schüttete sich eine gute Portion in die Hand und beschloss, sie zu schlucken, sobald sie wieder im Auto der Strangs saß. Sie würde nach New York City fahren und bei der Ankunft tot sein. Sie steckte die Tabletten in ihre Blusentasche, legte das Fläschchen in die Schachtel zurück und machte sich auf den Weg zu Jordan und seinen Eltern. Seltsam euphorisch ging sie den Abhang hinunter.

Abends auf der Rückbank, wieder eingepfercht zwischen Klappstühlen und Picknickkorb, wartete sie, bis Jordans Mutter ihre Ausführungen über Moccasin Hill und den guten Einfluss des Camps auf ihren Sohn beendet hatte, holte diskret die Tabletten hervor und steckte sich alle auf einmal in den Mund. Der Geschmack war intensiv und vertraut. Sie brannten im Hals und waren bröckelig wie Kreide. Plötzlich fielen ihr Dinge ein, an die sie Jahre nicht gedacht hatte: saure Bonbons, Vitamintabletten für Kinder, schlaflose Fiebernächte. Sie musste beinahe würgen. Es war die richtige Entscheidung und eine sanfte Todesart. Sollte sie zufällig doch überleben, würde sie in einer psychiatrischen Klinik erwachen, einer Anstalt wie der in Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen, nahm sie an. Was nicht das Schlechteste wäre, dachte sie. Während das Auto der Strangs auf den Highway nach Süden auffuhr, machte Erica es sich erst mal bequem.

Drei Stunden später wurde sie wach geschüttelt.

»Du hast die ganze Zeit geschlafen«, sagte Jordans Mutter. Die Innenbeleuchtung brannte, und Erica war putzmunter und überhaupt nicht benebelt. Automatisch griff sie nach ihrem Buch und nach ihrer Tasche. Der Nachtportier trat ans Auto und hob die Klappstühle heraus, damit sie aussteigen konnte.

»Also dann, vielen Dank«, sagte sie.

»Sehr, sehr gern«, erwiderte Jordans Mutter. »Du bist eine tolle Reisebegleitung. Hoffentlich sehen wir dich in Zukunft öfter.« Ihr Mann nickte und winkte kaum merklich.

Als das Auto weg war, blieb sie kurz an der Bordsteinkante stehen. Der Portier verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah sie fragend an, ohne etwas zu sagen. Gleich würde sie in die Wohnung hinauffahren, wo ihre Mutter und ihre Schwester wahrscheinlich Musicalduette sangen oder einander die Zehennägel knallrosa lackierten. Opals Fuß würde in Dotties Schoß liegen, und Erica würde so schnell wie möglich an ihnen vorbeigehen. Sie musste mit ihnen leben; sie musste dort oben wohnen, weil es für sie nichts sonst gab – kein Ruanda, kein Zimmer von Jordan Strang, keinen Tod. Der Geschmack des Kinder-Aspirins, seine süße Schärfe, hing ihr im Rachen und würde wahrscheinlich noch Jahre dort haften.