Zehn
Erica legte sich hin, und das Mädchen klebte ihr an jede Schläfe eine Elektrode. Wie Äste, die aus einem Kopf entsprangen, dachte sie, während sie sich im Wandspiegel betrachtete. Sie hatte erwartet, wie das Opfer einer Vivisektion auszusehen, betäubt und an Schläuchen auf einem Tisch aus Edelstahl, doch das Ganze wirkte viel eher mythologisch: Da wuchs ein Baum aus einer Frau. Sie erinnerte sich vage an eine Geschichte in einem Buch mit griechischen Sagen, das sie einmal gelesen hatte.
»Ich setze mich hinter die Scheibe, wo Sie mich nicht sehen können, und stelle Ihnen Fragen«, sagte das Mädchen. »Während Sie antworten, misst das Gerät Ihre Hirnströme. Entspannen Sie sich, und denken Sie an etwas Schönes. Denken Sie an Ihren Lieblingsort.«
Das Mädchen verschwand in den Nebenraum. Als die erste Frage kam, verlagerte Erica fast unmerklich ihren Körper auf der Papierauflage. »Halten Sie Essen in Ihrem Fall für einen Liebesersatz?« Das Mädchen war jung, etwa so alt wie Erica. Der infantile Tonfall hatte sich noch nicht ganz abgeschliffen. Manche Fragen klangen eher wie Kinderreime.
»Nein«, antwortete Erica. Jordan hatte ihr geraten, beim Test zu lügen. Es wäre doch interessant, eine ganze Studie zu ruinieren und die aufgestellte Theorie, wie immer sie lautete, komplett zu vermasseln.
Von solchen Aktionen lebten sie nun schon seit Monaten. Jordan war auf die Idee gekommen. Nachdem er immer wieder Anzeigen im hinteren Teil der Village Voice gelesen hatte – Anzeigen von Doktoranden, die Versuchspersonen für psychologische Studien suchten –, waren Erica und er losgezogen. Wie Blutspenden gegen Geld, dachte Erica, doch obwohl es ein bisschen zwielichtig war, hatte sie ihren Spaß. Die Doktoranden behandelten sie immer sehr freundlich, und gleich nach dem Test wurde bezahlt. Wenn sie, wie heute, nach Übergewichtigen suchten, wurde Erica immer sofort genommen. Einmal hatte sie eine Tüte Cookies essen müssen, während ihr ein junger, blonder Mann Witze erzählte, um den Zusammenhang zwischen Humor und Freude am Essen zu untersuchen. Doch die Cookies – Stella d’Oro – waren trocken und uninteressant und die Witze bestenfalls mau gewesen. Ohne den Sinn der Studien jemals zu hinterfragen, antwortete Erica immer brav, nahm das Geld und verschwand. Als sie an diesem Tag das Gebäude verließ, haftete noch Elektrodengel an ihren Schläfen.
Es war Spätnachmittag, als sie mit den fünfundzwanzig soeben verdienten Dollar in der Faust auf den Washington Square hinaustrat und beschloss, Jordan zu besuchen. Er hatte sich am Abend zuvor ins NYU Hospital begeben, um mit anderen gesunden jungen Männern, in deren Verwandtschaft es Fälle von Herzerkrankungen gab, an einer zweiwöchigen Studie teilzunehmen. Diesmal würde er nichts verfälschen können, weil sie von ihm nichts weiter wollten als Blut- und Urinproben und seine Herzfrequenzdaten. Wahrscheinlich fläzte er sich gerade auf einem hohen Bett in einem pastellfarben gestrichenen Zimmer, und sie beneidete ihn. In ihrer gemeinsamen Wohnung funktionierte die Heizung nur sporadisch, und unten auf der Straße fanden die ganze Nacht hindurch Drogendeals statt. Oft wurde Erica von lautem Streit geweckt. Dann hatte wieder einer beschissen oder war beschissen worden.
Der Winter hatte früh eingesetzt. Schon jetzt, Anfang Dezember, stürmte es heftig. Auf dem Weg über den Washington Square kam sie an den üblichen Dealern und Obdachlosen vorbei, aber auch an einer Gruppe warm eingepackter Filmstudenten der New York University, die gerade etwas drehten. Sie hatte schon viele Drehs im Washington Square Park gesehen. Hin und wieder inserierten Filmstudenten in der Village Voice auf der Suche nach Schauspielern, boten jedoch nie Geld dafür, weshalb sich Erica und Jordan nie gemeldet hatten. Heute saß eine schwarz gekleidete Frau mit einem Papagei auf einer Bank. Die Kamera filmte sie mehrere Minuten lang.
Erica ging weiter. Ein junger Mann, der am Brunnen stand, sagte: »Hey, Baby, ich mag dicke Weiber. Da hat man was zum Festhalten.« Anders als wenige Jahre zuvor zuckte Erica nicht mit der Wimper. Früher hätte sie nach einer solchen Bemerkung den restlichen Tag im Bett verbracht. Jetzt ging sie ungerührt weiter, ohne den Kerl auch nur böse anzusehen.
Sie gehörte zu den Frauen, die im Kaufhaus nie mit Duftproben angesprüht wurden. Kaum verließ sie den Aufzug, wendeten sich die verbissen lächelnden Models ab und zielten mit ihren Zerstäubern in die entgegengesetzte Richtung, sodass sie völlig unberührt zwischen den Duftwolken hindurchging. Interessant, dass sie mit vierundzwanzig praktisch unsichtbar war, denn es gab inzwischen mehr von ihr als je zuvor. Sie blieb konsequent bei der Jahre zuvor bewusst gefassten Entscheidung, »sich gehen zu lassen«. Ihr Körper war in alle Richtungen auseinandergegangen. Die Fesseln waren dick geworden, und der Hals verschwand zwischen den Schultern. Um ihre Knochen unter der Haut zu fühlen, musste sie wie eine Archäologin graben. Hatte sie ihr zentimetertief unter der Fettschicht liegendes Schlüsselbein einmal ertastet, erschien es ihr wie eine Trophäe.
Jordan störte es nicht, dass sie noch mehr in die Breite gegangen war. Es schien ihm sogar zu gefallen, weil sie nun ein noch schrägeres Paar abgaben. Ein noch ungleicheres vor allem – er mit seinen schmalen Hüften und dem langen, ausdruckslosen Gesicht, sie mit ihrer Leibesfülle.
»Ihr seid zwei richtig traurige Gestalten«, hatte Jordans Mutter am Telefon gesagt. »Irgendwas ist da schiefgelaufen.« Seitdem hatte Jordan jeden Kontakt mit ihr abgebrochen. Ihre gelegentlich auf dem Anrufbeantworter hinterlassenen Nachrichten lösten keinerlei Reaktion in ihm aus. Er hörte sich unbewegt an, was die aufgezeichnete Stimme sagte; dann spulte er vor, sodass sie wie in einem Chipmunk-Weihnachtssong schrill und quengelig quäkte und nicht mehr zu verstehen war.
Auch Erica verweigerte sich ihrer Mutter seit deren erstem Besuch. »O mein Gott, wie kann man nur so leben!«, hatte Dottie gesagt, während sie sich einen Weg durch das vollgemüllte Wohnzimmer bahnte. Sie hatte einen kleinen eingetopften Farn mitgebracht, den sie so fest mit beiden Händen umfasste, als hätte sie keine Lust, ihn in dieser neuen Umgebung zurückzulassen.
Nichts war trauriger, dachte Erica, als wenn Eltern ihren erwachsenen Kindern in deren neuem Zuhause auf die Pelle rückten. Hier, bitte, sagte man zueinander, das ist aus mir geworden. Dottie ließ sich auf dem zerschlissenen Futonsofa nieder, und als sie zwanzig Minuten später aufstand, war die gesamte Rückseite ihres hellblauen Kleids mit weißen Katzenhaaren bedeckt. Dabei besaßen sie gar keine Katze. Das Sofa stammte von Jordans Bruder, der jede Menge Haustiere hatte. Während Dottie ihren Mantel anzog, starrten Erica und Jordan stumm auf ihren Rücken. Es war ein intimer Moment, ein boshafter Streich, von dem nur sie wussten. Dottie würde mit Katzenhaar übersät zu ihrem Lunch im Four Seasons erscheinen, und auch dort würde niemand, nicht einmal der Oberkellner, ein einziges Wort darüber verlieren.
»Bitte denk darüber nach, was ich gesagt habe«, forderte Dottie sie an der Tür auf. »Und es könnte nicht schaden, wenn du dich ein bisschen hübscher machen würdest.« Während sie ihre Handtasche öffnete, murmelte sie: »Am Geld soll es nicht scheitern …«
»Mit Geld hat das nichts zu tun«, entgegnete Erica, nahm die fünfzig Dollar dann aber doch und bereute es die ganze Nacht hindurch. Im Bett neben Jordan ließ sie den spannungsgeladenen Nachmittag Revue passieren, dachte an den kritischen Blick, mit dem ihre Mutter die Wohnung auf der Suche nach einer geeigneten Sitzgelegenheit gemustert hatte.
»Ich breche den Kontakt zu ihr ab«, verkündete Erica.
»Warum?«, fragte Jordan. »Sie gibt dir wenigstens Geld. Das ist besser als bei meinen Eltern. Die wollen ganz ohne Kohle immer nur mit mir reden.«
Wenn Dottie anrief und Erica darum bat, sie zu besuchen und über alles zu sprechen, lehnte Erica ab. »Sollte ich dich in irgendeiner Weise verletzt haben, entschuldige ich mich dafür«, sagte Dottie. »Aber du lebst nun mal im Dreck, Erica, und das kann ich nicht ignorieren. Du weißt doch, dass ich immer sage, was ich denke.«
Erica wollte verstoßen werden, sich jeder Kontrolle entziehen und ihrerseits alle Ansprüche aufgeben. »Bitte, ich weiß, wir standen uns nie besonders nahe, und ich war nicht die beste Mutter, aber ich habe das Gefühl, dass du mich bestrafen willst, Erica«, sagte Dottie.
»Ich bestrafe dich nicht«, entgegnete Erica und wusste, dass sie vom Telefon wegkommen musste, um nichts Unüberlegtes von sich zu geben. Manchmal platzte etwas aus einem heraus, ohne dass man es wollte, aber verantwortlich war man dann trotzdem. »Ich will mit Jordan allein sein. Ich brauche das jetzt.«
»Gut, wenn du meinst«, erwiderte Dottie kühl. Nach diesem Tag begann sie, Erica Briefe zu schicken, in denen sie ihre Tochter bat, alles zu überdenken und wenigstens anzurufen und mit ihr zu reden. »Wenn du willst, machen wir eine Mutter-Tochter-Therapie«, schrieb sie. »So etwas gibt es bestimmt. Schließlich gibt es heutzutage alles.« Erica antwortete auf keinen einzigen Brief, und nach einiger Zeit kam keiner mehr. Nach und nach verschwand Dottie aus ihrem Blickfeld.
Manchmal sah sie abends aus dem Fenster und dachte an ihre Mutter, die vielleicht selbst gerade in der Wohnung an der Central Park West am Fenster saß. »Ich bin wieder da!«, hatte Dottie vielleicht eben noch gerufen und die Haustür aufgerissen, doch sie war ein paar Jahre zu spät dran. Die eine Tochter war – ausgerechnet – in Yale, die andere lebte in Alphabet City »im Dreck«.
Niemand hätte gedacht, dass Erica und Jordan so lange zusammenbleiben würden. Nach ihrem Besuch im Sommercamp Jahre zuvor hatte Erica selbst geglaubt, es wäre zu Ende. Doch als Jordan im Herbst in die Headley High zurückkehrte, fand er sich einmal mehr in der Rolle dessen wieder, der nichts zu sagen hatte. Einen kurzen Sommer lang war er der Anführer der anderen Außenseiter gewesen, aber Ende August hatte man die Außenseiter in ihr Duckmäuserleben zurückgeschickt. An einem Septembertag im vorletzten Schuljahr hatte Jordan Erica am Trinkbrunnen angesprochen und gefragt, ob sie mal wieder mit zu ihm nach Hause wolle. Es war keine Bitte gewesen; er hatte einfach gefragt, und sie hatte genickt.
Als sie an jenem Nachmittag mit ihm im Bett lag, wusste sie, dass es diesmal länger gehen würde. Vielleicht mangels Alternativen, doch darüber dachte sie nicht weiter nach. Jordan war zurück, sein Körper noch hart und braun vom Sommer. Schon nach kurzer Zeit würde er wieder weich und bleich sein und die Gleichung abermals aufgehen.
Auch als sie sich nach der Highschool trennten, um verschiedene Colleges zu besuchen, machte sie sich keine Sorgen. Sie spürte, dass keiner von ihnen auf sich allein gestellt klarkäme würde und dass sie nach den vier Jahren wieder zusammen sein würden. Sie hatte Jordan von Colleges abgeraten, die befürchten ließen, dass er dort wieder diese durch Mikrochips erzeugte Macht erlangte, die nicht zum ihm passte.
»Was willst du am M.I.T.? Da stehst du immer im Schatten deines Bruders«, sagte sie, und er gab nach. Monatelang lag der MIT-Aufnahmeantrag unberührt unter seinem Bett. Letztlich landete Jordan an der University of Michigan, einem akademischen Kosmos, der so gigantisch war, dass in ihm niemand bestimmen, niemand Macht ausüben konnte. Erica verschlug es ans Bennington College, Vermont, hauptsächlich weil sie genommen wurde. Zwar war ihr Highschool-Zeugnis mies ausgefallen und auch der Zulassungstest enttäuschend, doch das Motivationsschreiben hatte sie aus der Perspektive ihrer selbst mit neunzig als Rückblick auf ihr ganzes Leben geschrieben, und Bennington stand auf so was.
Die eindrücklichsten Erinnerungen an ihre Collegezeit betrafen den im Winter unablässig fallenden Schnee und die zahllosen Partys: große, laute Feten mit tropischen Themen und blauen Drinks in Kokosnussschalen. Weil alle wie verrückt kifften, wurde die Luft im Wohnheim nie ganz klar. Mädchen probierten unverbindlichen Sex mit Jungs oder untereinander aus. In dem wilden Durcheinander konnte man sich nie sicher sein, was frühmorgens mit umgebundenem Duschtuch aus welchem Zimmer herauskommen würde. Erica interessierte das alles nicht. Was nicht hieß, dass ihr Körper nicht nach Zuwendung schrie – manchmal tat er es sogar so heftig, dass sie glaubte, ihre schlummernde Zimmergenossin Nilda Guy müsste es hören. Doch Nilda, hispanische Stipendiatin aus der Bronx, schlief friedlich weiter. Erica war froh, dass sich Nilda kaum um sie scherte; sie wurde in Ruhe gelassen und musste ihr nicht nachts quer durch den Raum das Herz ausschütten. Sie war zu der Ansicht gelangt, dass jeder Mensch – zumindest aber sie selbst – im Grunde eine gewaltige wabernde Mischung aus Fest und Flüssig darstellte. Vielleicht war es das Beste für sie, noch schwerer zu werden, nicht leichter. Sie beschloss, festzuhalten – an sich und an Jordan –, alles, was sie zusammen hatten, um sich zu scharen wie eine Mutter im Einkaufszentrum, die ihre Kinder um sich versammelt, damit keines verloren geht. Nichts sollte ihr mehr entwischen. Alle Kraft sollte ihr bleiben, nicht eine Kalorie verbrennen.
Im ersten Collegejahr fuhr sie über die Weihnachtsferien nach New York und vom Port-Authority-Busterminal direkt zur Wohnung der Strangs. Jordan und sie zogen sich in sein Zimmer zurück, das so aussah wie früher, nur ohne Poster. Einzig die winzigen Löcher der Reißzwecken waren zurückgeblieben.
»Und? Was ziehst du dir rein?«, fragte Jordan.
Erica war verwirrt. Wollte er wissen, welche Drogen sie nahm? Nein, er meinte die von ihr belegten Seminare. Pflichtschuldig zählte sie alles auf. »Ethno, Makro, der Tod im Roman des zwanzigsten Jahrhunderts und Japanisch.«
Jordan nickte und spulte seine eigene Liste herunter, die aus Mathe und naturwissenschaftlichen Seminaren bestand. Dann legte er sich seufzend aufs Bett. Er wirkte zu groß für das Zimmer, zu schlaksig und sperrig, zu alt.
»Bleibst du in Ann Arbor?«, wollte Erica wissen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ist zwar scheiße da, aber wahrscheinlich bleibe ich. Wüsste nicht, was ich sonst machen sollte. Und du?«
»Ich auch nicht.«
»Ist dasselbe in Grün«, sagte Jordan, und seine alte Art zu reden, die manchmal wenig Sinn ergab, und die Vertrautheit dieser Ausdrucksweise, ihr ruhiger Rhythmus, rührten Erica. Sie setzte sich auf Jordan und beugte sich über ihn, sodass ihm ihr Haar ins Gesicht hing. Sie stank noch nach Greyhound, nach Zigarettenrauch und Desinfektionsmittel, aber das war egal. Männer musste man einfangen wie junge Rinder. Man musste sie mit kleinen Tricks dazu bringen, einen zu lieben, denn von selbst kamen sie eher nicht darauf. Wenn Jordan mit ihr zusammen war, fiel ihm wieder ein, was er brauchte und zwischenzeitlich vergessen hatte. Ihre Hände strichen über seine flache Brust, und aus seinem erschlafften Mund drang ein Seufzer.
Sie hatten sich zusammengerauft, und jetzt, mit fünfundzwanzig, konnte Erica kaum mehr ohne ihn sein. In diesem Dezember besuchte sie ihn täglich im Krankenhaus, obwohl er immer leicht genervt reagierte. Meistens saß er im Bett und sah fern, wenn sie kam, oder spielte Karten mit seinem Zimmergenossen, einem Busfahrer mit einem Emphysem. Abends war es in der Klinik still wie im Kaufhaus vor Ladenschluss. Der durch die Gänge hallende Gong hätte statt Ärzte in den OP auch Verkäuferinnen in die Dessousabteilung rufen können. Als Erica das Gebäude betrat, wurden gerade die Tabletts in die Geschirrwagen gestellt und weggekarrt.
An diesem Abend sah sich Jordan eine Gameshow an und aß dabei Dosenpfirsiche. Von Ray, seinem schlafenden Bettnachbarn, waren nur lange, rasselnde Atemzüge zu hören. Anfangs flüsterte Erica, doch Jordan winkte ungeduldig ab. »Den Alten weckt sowieso nichts. Der übertönt den größten Lärm mit seinem Geschnaufe. Ein einziges weißes Rauschen.«
So glücklich wie jetzt hatte Erica ihn noch nie gesehen. Er führte ein friedliches Leben. Mit flatterndem Haar und Papierschuhen an den schlurfenden Füßen ließ er sich im hinten offenen Kittel von einem Tag zum nächsten treiben. Als die Pfirsiche gegessen waren, führte er die kleine geriffelte Schale zum Mund und trank den restlichen Saft.
»Behandeln sie dich gut?«, fragte sie.
»Eins a. Das Medikament, das wir kriegen, hat interessante Nebenwirkungen. Man wird so verträumt. Wir müssen erzählen, wie es sich anfühlt, und die schreiben das ernsthaft Wort für Wort mit. Wenn ich zur Schwester sagen würde: ›Ich habe das Gefühl, mein Herz ist ein Aufzug, der durch den Schacht des Lebens rauscht‹, würde sie das notieren, und in einem Jahr würde es genau so im Medikamentenverzeichnis stehen.«
»Wann kommst du nach Hause?«, fragte Erica. Es war ihr einfach so herausgerutscht; sie wusste genau, wann er zurückkommen würde. Jordan reagierte wie erwartet gereizt.
»Hab ich dir schon hundertmal gesagt – mindestens zwei Wochen, sonst zahlen sie nichts. Du wirst es auch mal vierzehn Tage allein in der Wohnung aushalten!«
Sie nickte und schlug die Augen nieder. Natürlich hielt sie das aus. Sie war immer allein gewesen, und es hatte sie bisher nie gestört. Sie hatte nie geglaubt, eine Wahl zu haben. Man war allein, basta. Unbewusst hatte sie während der Pubertät eine in Ansätzen existenzialistische Haltung entwickelt und nie wieder abgelegt.
»Du bist so abhängig von mir«, sagte Jordan, und obwohl er so tat, als wäre das schrecklich, klang er, als würde er damit prahlen.
»Wir hängen beide voneinander ab«, entgegnete Erica, und Jordan zuckte fast zusammen.
»Das glaubst auch nur du.« Er schaltete den Fernseher wieder ein. »Denk doch, was du willst.«
Warum war er so geworden?, fragte sie sich, als sie nach dem Ende der Besuchszeit durch die im Halbdunkel glänzenden Korridore ging. Und warum akzeptierte, ja brauchte sie das? Vielleicht weil sie nichts anderes kannte und nur vermuten konnte, was zur Liebe zwischen Mann und Frau dazugehörte. Sie konnte diese Liebe ziemlich gut imitieren, aber manchmal bekam die Mimikry Risse, und ihr verletzliches Inneres trat zutage. Dann vergaß sie sich und flüsterte Jordan in ungewohntem Ton etwas zu, und Jordan sah sie an, als wäre sie irre geworden. »Was soll das?«, sagte er, während er sich von ihr löste. Erst dann bemerkte sie, dass ihre Arme ihn wie Efeu umschlungen hatten.
Zurück in der Wohnung blieb Erica in der dunklen Diele stehen. Das war mehr als Einsamkeit; sie fürchtete sich regelrecht ohne Jordan. »Hallo?«, rief sie vorsichtshalber, als würde sich ein Einbrecher oder Mörder daraufhin melden. Doch sie schaffte es nicht, damit aufzuhören. »Ist da jemand?«, hakte sie mit brüchiger, hoher Stimme nach. Sie hatten seit dem College in drei verschiedenen Apartments im East Village gelebt, und dieses war noch das bewohnbarste, aber Angst hatte sie trotzdem.
Als sie die Deckenlampe einschaltete, sausten die Kakerlaken in die Ritzen zwischen Wand und Boden. Sie stieg die Leiter zum Hochbett hinauf. Fast alle, die sie kannte, schliefen in einem Hochbett unter der Decke, der Rest nahe dem Boden auf Futons. Wer wirklich erwachsen war, dachte Erica, hatte einfach ein stinknormales Bett. Doch die Wohnungen ihrer Bekannten waren klein, und Betten sollte man tagsüber möglichst nicht sehen, zumindest sollten sie sich nicht auf Augenhöhe befinden. In diesen Wohnungen musste man in Betten steigen oder sich zu ihnen niederknien. Erica blickte in die Wohnung hinunter. Aus dieser Perspektive wirkte der Raum wie aus dem Lot geraten. Je länger sie starrte, umso mehr kippte er, wie van Goghs Zimmer in Arles.
Auf dem Bord über dem Bett lagen Kekse und eine eingedrückte Tube Spermizid-Gel. Außerdem stand dort der Fernseher, ein kleines Schwarz-Weiß-Gerät, das Jordan von der Straße mitgebracht hatte und das erstaunlich gut funktionierte, außer, man wollte CBS sehen. Erica guckte so gut wie nie fern, Jordan dagegen oft. Vorzugsweise schräge Serien aus den Sechzigern, Hawaii Five-O und The Mod Squad.
»Hey, schau mal«, rief er dann beispielsweise, »Peggy Lipton in einer Nehru-Jacke!« Erica ging nie darauf ein.
Jetzt, ohne ihn, lauschte sie den gepeinigten Stimmen, die von der Straße heraufdrangen. Als sie von dem Geschrei genug hatte, schaltete sie den Fernseher ein, um den Lärm zu übertönen, legte den Kopf auf die Kissen, griff nach der Tüte auf dem Bord und machte sich über die Kekse her. Mallomars waren perfekt, so rund und glatt wie ein Türknauf. Während sie die Dinger ungeniert in sich hineinschlang, guckte sie eine Talkshow, an der ausschließlich Versager teilnahmen. Vielleicht sollte sie schnell mit dem Taxi zum Studio fahren und live ihre eigene Geschichte erzählen.
Die ersten beiden Gäste waren das grauenhafteste Paar, das Erica je gesehen hatte. Die Frau hatte zwanzig Jahre zuvor noch in der Kennenlernphase mit ihm Schluss gemacht. Daraufhin war er so wütend geworden, dass er Lauge gekauft und sie ihr ins Gesicht geschüttet hatte. Wenn er diese Frau nicht bekam, sollte sie auch keinem anderen gehören. Von Schuldgefühlen gebeutelt und noch immer für sie entflammt, hatte er sich um sie gekümmert, als sie danach blind und entstellt war. Schon nach kurzer Zeit waren sie wieder unsterblich verliebt gewesen und inzwischen längst miteinander verheiratet. Ihr Buch, in dem sie die Geschichte erzählten, war gerade erschienen. »Wir sind Ausgestoßene«, sagte die Frau. Sie trug eine dunkle Brille und hatte ihr pechschwarzes Haar hoch aufgetürmt. »Niemand möchte mit uns befreundet sein. Sobald jemand unsere Geschichte hört, will er nichts mehr mit uns zu schaffen haben. Die Leute verstehen uns einfach nicht.«
Der Mann drückte ihre Hand und rutschte dichter an sie heran. »Ganz genau. Ich liebe diese Frau sehr. Sie hat mir von Anfang an alles bedeutet.«
Erica starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Sie stellte sich die beiden vor, wenn sie nachts miteinander schlafen wollten. Mr. Lauge nahm Mrs. Lauge behutsam die dunkle Brille ab und brachte die leeren Augen einer Statue zum Vorschein. Er hatte sie zur Blinden gemacht; nun blieben sie für immer vereint – sie, weil sie ihn brauchte, er wegen der unerträglichen Schuld. Mehr schien nicht nötig zu sein, um zwei Menschen lebenslang aneinanderzubinden.
Es folgte Werbung. Erica konnte sich nicht mehr bewegen. Sie war erschöpft vom Zucker und wie betäubt von der Geschichte des Ehepaars Lauge. Und dann geschah es: Eine alte Hundepfeife ertönte, die niemand auf der Welt hören konnte, nur Erica. Sie beugte sich zum Bildschirm vor und vernahm eine Stimme, einen vertrauten Ruf. »Sind Sie eine kräftig gebaute Frau?«, rief die Stimme, und Erica antwortete pflichtbewusst »Ja«, so als hätte ein Psychologie-Doktorand die Frage gestellt. »Verstecken Sie sich in altbackener Kleidung, weil Sie Ihren Körper nicht zeigen wollen?«
»Ja«, sagte Erica, »oh ja«, und im nächsten Moment füllte Dottie Engels den Bildschirm.