Zwölf

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weigerte sich Jordan, sein Patientenarmband abzunehmen. Erica fühlte sich an die Mädchen in ihrer Highschool erinnert, die die silbernen Armbänder zum Gedenken an die im Vietnamkrieg gefangenen und vermissten Soldaten auch dann noch getragen hatten, als klar war, dass keiner zurückkommen würde. Es hatte immer eine gewisse Dramatik gehabt, wenn die Mädchen in der Pause ihre Handgelenke verglichen und die unbekannten Namen vorlasen, als wären es die von Geliebten. Jetzt lag Jordan auf dem Hochbett und ließ im Schlaf den langen Arm über die Kante baumeln. Wenn Erica vorbeiging, sah sie den Plastikstreifen, in den sein eigener Name in verblassendem Lila eingestanzt war. Er trug das Band schon seit mehreren Wochen.

Jordan fand im hinteren Teil der Village Voice keine Jobs mehr und blieb den ganzen Tag zu Hause. Für Erica war es dagegen ein Leichtes, in der Fülle der Studien über adipöse Frauen etwas für sich aufzutreiben. Trotzdem waren sie so knapp bei Kasse, dass Jordan bereits sein letztes Bar-Mizwa-Geld vom Sparbuch abgehoben hatte. Ende Dezember beschloss er, es mit dem Drogenhandel zu versuchen – nichts Massives oder Riskantes, wie er versicherte, nur ein harmloser kleiner Deal –, und verschaffte sich mehrere Namen von seinem Bruder, der als Chemiestudent das gesamte M.I.T. mit Drogen versorgt hatte.

Erica war anfangs dagegen. »Das ist gefährlich«, sagte sie, während er das Zeug in der Küche siebte und portionierte. »Du könntest im Knast landen. Ich könnte im Knast landen.« Jordan schwieg und machte weiter. Schließlich gab sie klein bei, sah zu und geriet nach und nach in den Bann der flinken Handbewegungen, mit denen er Zeitschriftenseiten zu kleinen Umschlägen für jeweils ein halbes Gramm Koks faltete. Schließlich wog er etwas von dem Pulver ab und schüttete es in ein Kuvert, auf dem das Foto von Miss Clairol prangte. So mussten sich die Pionierfrauen gefühlt haben, wenn sie ihren Männern beim Reinigen und Laden des Gewehrs zusahen.

In einer halben Stunde würden Jordans erste Kunden kommen. Zu ihrer eigenen Verwunderung ging Erica noch schnell durch die Wohnung und wischte da und dort mit einem Lappen über die Möbel. Diese Leute waren ihre allerersten Gäste, wenn man sie denn als solche bezeichnen konnte. Als es klingelte, raste sie hinunter, um die Haustür zu öffnen. Vor ihr standen zwei Teenager in farbenfrohen Skianoraks. »Wir wollen zu Jordan«, sagte das eine Mädchen.

Erica musterte sie, drückte sich an die Wand, ließ sie herein und gab ihnen auf der Treppe den Vortritt. Die Mädchen – Erica schätzte ihr Alter auf sechzehn Jahre – rochen nach Schnee und Shampoo und nahmen immer zwei Stufen auf einmal. »Hübsche Wohnung«, sagte das eine, als sie das Apartment betraten. Dann öffneten sie die Jacken und schüttelten die langen dunklen Haare.

Jordan kam mit einem großen Spiegel aus der Küche, den er wie eine Platte mit Vorspeisen hielt. »Mandy und Parker?«, fragte er, und sie nickten. »Wollt ihr was von dem Coke schnüffeln, bevor ihr geht?«

Erica krümmte sich innerlich. Schnüffeln! Jordan hatte wieder mal einen falschen Begriff verwendet, aber die Mädchen bemerkten es nicht. Sie setzten sich auf die verranzte Couch, während Jordan das Päckchen öffnete und auf dem Spiegel, der sonst immer an der Wand über dem Schminktisch hing, mehrere schmale Lines legte. Am Morgen hatte Erica ihren Scheitel auf gut Glück ziehen müssen. Jetzt sah sie von der Tür aus zu, wie die Mädchen ihre glänzenden Köpfe über den runden Spiegel beugten und beim Inhalieren wie die Trüffelschweine grunzten.

Sie blieben stundenlang, koksten und unterhielten sich angeregt. Wie sich herausstellte, waren sie Headley-High-Schülerinnen kurz vor dem Abschluss. Jordan zeigte sich begeistert und flirtete sogar mit ihnen, was Erica maßlos erstaunte. Er saß aufrechter da als sonst, klang plötzlich lebhaft und wollte die beiden gar nicht mehr gehen lassen.

»Unterrichtet Mr. Catapano immer noch Mathe?«, wollte er wissen.

Parker verdrehte die Augen. »Der alte Arsch.«

»Genau! Der konnte kaum eine Raute an die Tafel malen, ohne einzupennen!« Die nächsten Lines gerieten krumm und breit wie Himmelsschrift, weil seine Hände zitterten und er hektisch hantierte. »Gibt es noch dieses ätzende Wandbild? Das mit Susan B. Anthony und Helen Keller und so?«

So, wie er daherredete, hätte man ihn für den früheren Schülersprecher halten können, dachte Erica. Auf einmal hegte er nostalgische Gefühle für eine Institution, die er und die ihn verachtet hatte, und gab sich kumpelhaft gegenüber zwei Mädchen, die etwas von ihm hielten, weil er ihnen verschaffen konnte, was sie haben wollten.

Sie fühlte sich wie ein altes Fischweib, das sich im Hintergrund hielt. Ziellos wanderte sie durch die kleinen Zimmer. Beim nächsten Mal sollte sie am besten einen Morgenrock und rosa Pantöffelchen tragen, um das Bild abzurunden. Jetzt jedenfalls schenkten ihr die Mädchen nicht die geringste Beachtung, sondern imitierten ihre Englischlehrerin für Jordan. Mandy stand auf und sagte: »Leute! Leut-eee! Ihr verschwendet hier eure Zeit, nicht meine!«

Als der Himmel dunkel wurde und sie endlich aufbrachen, wippte Jordan leicht mit den Füßen und sagte: »Jederzeit. Ihr könnte euch Tag und Nacht melden.« Dann trug er den Spiegel ins Schlafzimmer zurück.

Während die Mädchen ihre Anoraks anzogen, öffnete Erica schon mal die Tür. Plötzlich drängte es sie, ihnen zuzuflüstern: »Er war total unbeliebt in der Schule. Ich auch. Ihr hättet ihn gehasst und euch über ihn lustig gemacht.«

Die beiden sahen sich ausdruckslos an – wahrscheinlich ein Trick, den sie einstudiert hatten, um in Situationen wie dieser nicht loszuprusten – und verzogen sich schweigend. Sekunden später hallte ihr Johlen durchs Treppenhaus.

Von diesem Tag an legte Jordan seine gesamte Energie ins Dealen. Wann immer Erica die Wohnung betrat, saß er bei dröhnender Stereoanlage in der Küche und beugte sich über eine Kolonie kleiner weißer Ameisenhügel. Erica stand nicht besonders auf Kokain und konnte sich die allgemeine Begeisterung dafür nicht erklären – sie hatte zu viele Artikel über weiße Mäuse gelesen, die sich gegenseitig zerfleischten, um an die Tränke mit dem versetzten Wasser heranzukommen. An manchen Abenden nahm Jordan den Spiegel mit hinauf aufs Hochbett und legte fein säuberlich ein paar Lines. Am meisten schreckte sie der Anblick ihres breiten, roten Gesichts, das sich schwankend im Spiegel zeigte. Zu nah, zu viel. Wie sollte man sich Stirn an Stirn mit sich selbst entspannen? Obendrein befiel sie beim Schnupfen jedes Mal ein leichtes Angstgefühl, gefolgt von dem Unbehagen, mit dem man etwas Zähflüssiges, Bitteres die Kehle hinunterwürgte. Alle anderen brauchten, warum auch immer, diese Spannung, wollten unbedingt high sein. Erica war die Ausnahme, die Maus, die sich in die Ecke verkroch und den Schatten der weit oben hängenden Tränke ignorierte.

Sie bezweifelte, dass es Jordan wirklich ums Koksen ging. Ihrem Gefühl nach lag ihm viel mehr an der Gesellschaft, die es ihm brachte. Plötzlich kamen Leute, riefen an, erschienen Abend für Abend. Mandy und Parker tauchten immer wieder auf und schickten Freunde. Jordan wurde zum Gastgeber aller New Yorker Zwölftklässler. In der Wohnung herrschte ständig rege Betriebsamkeit. Der Türöffner summte, die Stereoanlage dröhnte. »Legt auf, was ihr wollt«, sagte Jordan großzügig zu sechzehnjährigen Jungs, weil er wusste, dass das ihrer Vorstellung vom Paradies gleichkam.

Jungs mit Oberlippenflaum kauerten über den Platten oder standen vor dem Regal und gingen Jordans Science-Fiction-Sammlung durch. »O mein Gott, du hast die Erstausgabe von Alpha State Centurions!«, riefen sie und schlugen sich an den Kopf.

Erica war die gute Seele des Ganzen. Sie bereitete auf dem Fensterbrett in der Küche Sonnentee zu und füllte die Schränke mit Pepperidge-Farm-Cookies, obwohl schon Stunden später die Käfer darauf krabbeln würden. In der Wohnung wimmelte es von unglaublich dreisten Käfern, die sich kein bisschen darum scherten, dass man sie sah. Morgens fielen sie fluoridbesoffen von Ericas Zahnbürste ab.

Sie musste raus. Ihr wurde alles zu eng, zu viel. Eines Vormittags ging sie in die New York University, um an einer weiteren Studie teilzunehmen. Der leitende Doktorand war erstaunlicherweise selbst übergewichtig. Mitchell Block hatte ein großflächiges, intelligentes Gesicht und einen Bart. Alles an ihm wirkte überdimensioniert. Er erinnerte an die Holzfällerfiguren aus Gips vor den Pancake-Lokalen an den Interstate Highways.

Körperliche Größe hatte Erica schon früh fasziniert. Sie erinnerte sich an ein Foto von Diane Arbus, »Jüdischer Riese zu Hause bei seinen Eltern«, das sie in der Highschool gesehen und bei dessen Anblick sie leise aufgeschrien hatte. Der junge Riese, hoch über seinen verblüfften, geschrumpften Eltern ragend, musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf durch die Decke zu stoßen. Ausladende Menschen – ob in die Höhe oder in die Breite ausladend – hatten ständig Angst, Grenzen zu sprengen, zu viel Raum auf der Welt einzunehmen, zu viel Luft einzuatmen.

»Hören Sie mir gut zu, Erica«, sagte Mitchell Block sanft.

Beim Klang ihres Namens aus seinem Mund überzogen sich ihre Arme mit Gänsehaut. Ihr war, als würde er sie kennen, auch wenn er ihren getippten Namen von der Karteikarte in seiner Hand ablas. Wahrscheinlich saß er schon den ganzen Vormittag da und sagte: »Hören Sie mir gut zu, Susan. Hören Sie mir gut zu, Michelle.« Und die übergewichtigen Frauen spähten aus ihren Höhlen und waren schlagartig hellwach, denn seit Jahren hatte sie niemand bei ihrem Namen gerufen, und keine Stimme war jemals so tief zu ihnen vorgedrungen.

Es gehe um Wortassoziationen, erklärte er, und Erica wollte ihm unbedingt etwas bieten. Vielleicht würden ihm die entsprechenden Antworten das Gefühl geben, etwas Bedeutendem auf der Spur zu sein. Er würde »Essen« sagen und sie wie aus der Pistole geschossen »Liebe« erwidern. Er würde »Körper« sagen und sie mit »Hass« kontern. Seine Augen würden immer größer und die Wörterliste immer schneller abgespult werden. Minutenlang würden sie sich die Bälle zuspielen.

Doch die Wörter, die er vorgab, waren nicht logisch miteinander verbunden. Die Liste enthielt nicht die kleinste Anspielung auf Essen, ausgenommen vielleicht »Tisch«, wenn man großzügig war. Schließlich legte Mitchell lächelnd den Stift aus der Hand.

»Sehr gut, vielen Dank. Jetzt muss ich Ihnen etwas gestehen. Ich habe nicht auf Ihre Antworten geachtet, sondern ausschließlich auf Ihre Augenbewegungen. Um die geht es nämlich in dieser Studie. Ich möchte herausfinden, ob übergewichtige Menschen wirklich im Hier und Jetzt leben oder sich nicht vielleicht, sogar im Gespräch, in ihre eigene Welt zurückziehen.«

»Und was haben Sie herausgefunden?«

Wieder lächelte Mitchell Block. »Darüber darf ich keine Auskunft geben. Aber meiner Ansicht nach leben Sie noch in der realen Welt, so viel kann ich sagen.«

»Na ja, ich schaue vorbei, sooft es geht«, erwiderte Erica.

Er lachte, und sie spürte, dass sie errötete. »Ich muss jetzt weitermachen«, erklärte er, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Vielen Dank, Erica. Es war schön, mit Ihnen zu sprechen.« Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie hatte das Gefühl, einen riesigen Fanghandschuh zu ergreifen, dem menschliche Wärme entströmte.

An diesem Abend war Jordan zappelig – der Winter ödete ihn an, und er war voller Bewegungsdrang. Er stopfte sich ein Bröckchen Koks in die Nase und ließ es dort schmelzen. Für die übliche Prozedur fehlte ihm die Geduld. »Ich will raus«, sagte er. »Irgendwohin, ganz egal.«

Sie gingen durch den rieselnden Schnee in eine Bar im West Village, die Jordan angeblich gut kannte. Er hatte die peinliche Angewohnheit, gegen Ende des Abends, wenn die Theke abgewischt wurde, alte Barmänner in Gespräche zu verwickeln. Dann drehte er sich auf dem Hocker hin und her, nagte an seinem Rührstäbchen und schwafelte zwanghaft über Gott und die Welt. Er hatte ein Faible für alte Männer – Männer, die seiner Meinung nach gelebt hatten. Im Frühjahr war es noch schlimmer; dann setzte er sich in den Washington Square Park und belaberte die alten Schachspieler, die an den Steintischen saßen und sich zu konzentrieren versuchten. Manchmal musste Erica ihn regelrecht wegzerren, damit die Leute ihre Partien beenden konnten. Er war eine Witzfigur, auch wenn keiner der Alten je über ihn lachte. Sie duldeten ihn und hoben bei jeder widersinnigen Äußerung nur langsam und verwundert den Blick.

In der Bar stellte sich schnell heraus, dass seit Jordans letztem Besuch der Wirt gewechselt hatte. Mehrere Männer standen herum, einige ganz in Leder; andere saßen allein an den Tischen, die Stühle nach hinten gekippt, ein Bier in der Hand, die Augen schläfrig geschlossen. Auf dem Bildschirm an der Wand, groß wie ein Panoramafenster, erschien Joan Collins in Nahaufnahme, aber mit abgeschaltetem Ton. Ein müder Abend in einer Schwulenbar.

Jordan traute seinen Augen nicht. »Das hieß früher Paddy’s, ich bin mir ganz sicher«, flüsterte er. »Eine nette kleine Kneipe, in der man Pool spielen konnte.« Dann ging er hinaus, um sich das Schild über der Tür anzusehen. »The Grist Mill«, verkündete er und zupfte verlegen an seiner Cordhose. »Wir können gern wieder gehen, wenn dir das lieber ist. Du als Frau fühlst dich hier doch bestimmt nicht wohl.«

»Du als Mann fühlst dich hier doch bestimmt nicht wohl«, entgegnete sie.

In diesem Moment erlosch die Deckenbeleuchtung, und ein Scheinwerferstrahl richtete sich auf das kleine Podium hinten in der Bar. Erica setzte sich hastig, um dem Licht auszuweichen, und Jordan tat es ihr gleich. Eine Drag-Show begann. Die erste Nummer war eine ziemlich gute Darbietung eines Playbacks von »New York, New York« durch einen Mann, der mit einer Perücke aus schwarzen, wie angeklatscht wirkenden Haaren und riesigen, an Seesterne erinnernden falschen Wimpern als Liza Minelli verkleidet war. »Dieser Song ist für meine Mutter!«, rief er.

»Willst du gehen?«, fragte Jordan leise. »Wir könnten uns rausschleichen, wenn er fertig ist.«

Doch Erica wollte bleiben. Vielleicht sah sie es kommen; vielleicht wusste sie es sogar bereits. Sie machte es sich bequem, bestellte einen Scotch und sah sich die Show an. Der Mann auf der Bühne sang jetzt ein Medley aus Songs von Barbra Streisand. Bei jeder zweiten Textzeile schielte er übertrieben und sagte »Oh, Mr. Arnstein«, um ein paar Lacher abzuräumen. Das Publikum an diesem Mittwochabend war überschaubar und im ganzen Raum verteilt, aber höflich. Die Leute klatschten nach jedem Song, und keiner verließ die Bar.

Gleich nach der unvermeidlichen Diana-Ross-Nummer kehrte der Mann auf die Bühne zurück, diesmal in einer gigantischen, wogenden Robe mit Pünktchenmuster. Seine Verkleidung war perfekt – die großen runden Rougeflecken, die fleischigen, orangerot geschminkten Lippen, das wie Heu auf dem Kopf aufgeschichtete Haar. Auch die Gestik passte. Wie einst Dottie rauschte er mit kreisenden Armen über die Bühne. »Sag mal, das ist doch …«, flüsterte Jordan. »Ist das nicht …?«

Er erhielt keine Antwort. Ericas Blick haftete an dem Mann, der nun einen von Dotties ältesten Witzen brachte. »Neulich war ich im Zirkus, ich wollte das Zelt kaufen. Als mich die Zirkusleute fragten, ob sie es einpacken sollten, habe ich gesagt: ›Nein, ich ziehe es gleich an!‹«

Ericas Herz schlug wie wild. Sie leerte ihr Glas, behielt das Eis im Mund und zerbiss es. Es fühlte sich an, als wäre ihr Kopf ein Steinbruch, aus dem sie Felsblöcke schlug. Die meisten Menschen schafften es, sich von ihren Eltern zu lösen; die meisten stiegen eines Tages einfach in einen Bus und verschwanden. Ericas Mutter aber schrieb ihrer Tochter Mitteilungen an den Himmel, die Erica bei jedem Blick zur Sonne sah. Erst die grauenhafte Werbung für Damenmode, jetzt das. Nach dem Ende der Comedy-Karriere hatte Erica geglaubt, es sei endlich vorbei, doch Dottie Engels hatte offenbar eine längere Halbwertszeit – sie blieb im Blut, man wurde sie nicht los. Ihr breites, vertrautes Gesicht war allgegenwärtig, und ihre Witze, die den Selbsthass befeuerten, wenn man ebenfalls korpulent war, vermittelten das Gefühl, als dicker Mensch tunlichst lustig zu sein.

»Du bist immer so ernst, Schatz«, hatte Dottie früher oft gesagt. »Lach doch ein bisschen!« Erica war darüber immer achselzuckend hinweggegangen. Am Bennington College hatte es eine Gruppe von stark übergewichtigen, sehr resoluten Frauen gegeben, die an einem bestimmten Tisch in einer Ecke des Speisesaals zusammensaßen. Sie engagierten sich in der Gleichstellungsbewegung und unterstützten die Hotline für Vergewaltigungsopfer und waren das, was Dottie als »humorbefreit« bezeichnet hätte. Einmal sprach eine von ihnen Erica an der Salatbar an und bat sie um ihre Unterschrift für eine Petition. Erica kritzelte rasch ihren Namen hin und schob das Tablett ein Stück weiter. Auch wenn sie sich dafür hasste, wollte sie keinesfalls mit diesen Frauen in Verbindung gebracht werden. Nur aufgrund ihrer äußeren Gemeinsamkeiten hatten sie in ihr eine Gesinnungsgenossin gesehen: mondgesichtig, verletzlich und für hehre Ziele zu haben.

»Gehen wir?«, fragte Jordan, und während sich der Mann auf der Bühne noch im Verbeugen die Dottie-Engels-Perücke vom Kopf zog, schlichen sie sich hinaus.

Am nächsten Tag wurde sie von irgendetwas aus tiefem Schlaf gerissen und stand auf, bevor Jordan erwachte und seine ersten Kunden eintrudelten. Während des Abstiegs vom Hochbett warf sie einen Blick auf sein Gesicht. Weil Jordan immer mit offenem Mund schlief, sah er so aus, als machte er mitten im Satz eine Pause.

Sie schloss den Reißverschluss an ihrem alten grünen Anorak und stieg die Treppe hinunter. Die ungewöhnliche Kälte an diesem Morgen störte sie nicht. Der Wind zerzauste ihr Haar, wehte es ihr in die Augen. Sie ging quer durch die Stadt zur NYU und direkt ins Institut für Psychologie, das ihr mittlerweile vertraut wie die eigene Wohnung war. Sie mochte den Schwefel, der in der Luft lag, und den deutlichen Tiergeruch. Auf dem Weg durch den Korridor spähte sie in die kleinen quadratischen Sichtfenster. Durch eines strahlte das grelle Licht eines Diaprojektors, das mit dem nächsten Bild schlagartig schwächer wurde. Die Studenten im Halbdunkel hatten die Köpfe zu einer Leinwand geneigt, die für Erica unsichtbar war.

Mehrere Fenster weiter entdeckte sie Mitchell Block, der mit dem breiten Rücken zur Tür in einem kleinen Raum saß. Ihm gegenüber hockte, die Hände im Schoß, eine junge, ebenfalls füllige Frau, die den Blick nicht ein einziges Mal zu seinem Gesicht hob.