Dreizehn
»Unterirdisch!«
»Was?«
»Es ist unterirdisch. Nichts für ungut, aber ich finde es schlicht nicht witzig.«
Als Opal eines Abends nach einer Aufzeichnung von Rush Hour spät in die Wohnung zurückkam, wurde sie von Dottie erwartet. Im dunklen Wohnzimmer war nur ein glühendes Zigarettenende zu sehen, doch Dotties Stimme klang klar und überraschte Opal.
Sie tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Ihre Mutter saß auf der Couch und trug ihren grünen Kimono, ein Geschenk von Sy. Vor ihr auf dem Tisch stand ein überquellender Aschenbecher. »Ich finde es dilettantisch!«, fuhr Dottie fort. »Ich mag nicht mehr auf dem neuesten Stand sein, aber ob etwas funktioniert oder nicht, erkenne ich noch. Haben eure Autoren jemals Your Show of Shows gesehen? Hat auch nur einer von ihnen schon mal von Sid Caesar gehört?« Sie machte eine winzige Pause. »Haben die jemals von mir gehört?«
In Opal machte sich leise Verzweiflung breit. Die Sendung war gut, das konnte niemand bestreiten. Das humoristische Niveau war zwar nicht gleichbleibend hoch, und gelegentlich wurde ein Witz versemmelt, doch fast immer entstand ein Rhythmus, der die Zuschauer mitriss. Im ersten Sketch des Abends war es um eine Selbsthilfegruppe für Männer mit mangelndem Selbstbewusstsein gegangen, deren Teilnehmer – Sonny Bono, Ike Turner, Tom Hayden – von Schauspielern dargestellt worden waren. Als Nächstes hatten sie ein Mini-Musical mit dem Titel Long Day’s Journey into a Hard Day’s Night gebracht. Alle Mitglieder der Familie Tyrone hatten Pilzkopfperücken getragen und O’Neills Text mit Liverpooler Akzent gesprochen. Opal, die mit Walt Green, dem zweiten Praktikanten, in den Kulissen saß und zusah, war klar geworden, wie anders sie sich dabei fühlte als bei den Auftritten von Dottie. Hier ging es um so viel weniger. Natürlich hoffte sie das Beste für die Sendung, doch dort auf der Bühne stand nicht ihr ganzes Leben, und wenn das Licht erlosch, musste sie nicht die Luft anhalten.
Sie betrachtete ihre Mutter. Dotties Augen waren so klein vor Müdigkeit, dass Opal sie am liebsten wie ein dösiges Kind ins Bett gebracht hätte.
»Setz dich noch ein bisschen zu mir«, sagte Dottie, und Opal fügte sich widerwillig.
»Geht es nur mir so?«, fragte Dottie.
»Was meinst du mit ›so‹?«
Ihre Mutter fuhr mit der Hand durch die Luft. »Dass ich diesen Humor nicht verstehe. Ich komme mir vor wie jemand aus einem anderen Land – nein, von einem anderen Planeten –, der die geltenden Bräuche erst lernen muss. Ich kapiere es einfach nicht, Opal. Was ist nur aus der guten alten Comedy geworden? Reicht es nicht mehr, auf der Bühne zu stehen und sich mit dem Publikum zu unterhalten? Ohne das ganze Brimborium. Eine schlichte Nummer, vielleicht mit ein bisschen Musik untermalt, drei, vier Imitationen. Das Unkomplizierte ist weg!«
»Jetzt ist es eben anders. Heutzutage ist Abwechslung gefragt«, erwiderte Opal, doch sie sagte es leise, und es klang nicht sehr überzeugend. Ihr schwante, dass Dottie keinen Trost suchte, sondern reden wollte. Dottie zündete sich die nächste Zigarette an und streckte Opal die Packung entgegen. Das war eine Premiere. Normalerweise klagte sie sehr darüber, dass Opal rauchte. »Nur weil ich eine widerliche Gewohnheit habe, musst du sie nicht übernehmen.« Jetzt entzündete sie tatsächlich ein Streichholz für Opal und hielt ihr die Flamme hin, wie um zu sagen: Was soll’s. Mit uns geht es so oder so bergab. Nach kurzem Zögern nahm sich Opal eine Zigarette und beugte sich über das Streichholz.
»Vor meinem ersten Auftritt bei Carson war ich wahnsinnig nervös, so wie alle beim ersten Mal«, begann Dottie.
Opal nickte. Ihre Mutter hatte am Tag der Sendung aus Kalifornien angerufen und den Mädchen, die an zwei Nebenanschlüssen lauschten, über die Fernverbindung noch einmal ihre Nummer vorgetragen.
»Um mich abzulenken, hat mir die Haarstylistin kleine Anekdoten über Leute erzählt, die vor mir in der Sendung aufgetreten sind. Und auf der Bühne schwitzt man wegen der Scheinwerfer wie ein Schwein, muss aber so tun, als wäre man bei einer wahnsinnig tollen Cocktailparty. Wenn es eine Party gewesen wäre, hätte ich nach fünf Minuten die Flucht ergriffen und mich zu Hause mit einem Schlauch abgespritzt. Stattdessen musste ich sitzen bleiben, und mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, und sie fanden mich gut, wie du weißt. Ich war witzig. Ich will mir nicht selbst auf die Schulter klopfen, aber ich darf wohl sagen, dass ich tatsächlich witzig war.«
Von der Tür her kam ein Geräusch. Als Opal aufblickte, stand Sy in seinem Kimono da, dem Gegenstück zu Dotties Hausmantel. »Ich fand dich jedenfalls immer witzig«, sagte er. »Mich hast du damals immer zum Lachen gebracht.« Er gähnte und bemühte sich, wach zu werden.
»Wo ist die Platte?«, fragte Dottie unvermittelt. »Du weißt schon, die, die wir uns neulich angehört haben.« Sie stemmte sich langsam hoch, ging zum Regal mit den Langspielplatten, sah sie kurz durch und fand das Gesuchte: ihre allererste LP, eine Live-Aufnahme mit dem Titel Alles Dottie. Sie zog die Platte aus der Hülle. Trotz der vielen Kratzer, die von häufigem Abspielen zeugten, war es eindeutig ihre Stimme, die plötzlich durch die Wohnung hallte.
»Gleich rufen die Nachbarn die Polizei, Dot!«, sagte Sy, setzte sich aber und hörte zu.
Opal betrachtete das Gesicht ihrer Mutter und sah, mit welcher Freude sie der Aufnahme lauschte. Jedes Wort sprach sie lautlos mit.
»Ich wurde gefragt, ob ich Lust hätte, bei Hollywood Squares mitzumachen«, tönte es von der Platte. »Hoffentlich setzen sie mich nicht in die oberste Reihe – das ganze Ding würde zusammenkrachen!« Es folgte dröhnendes Gelächter. Kaum war es abgeebbt, fuhr Dottie fort. »Meine Tränensäcke sind so schwer, dass sie mir der Lieferjunge neulich nach Hause tragen musste!« Die nächste Lachsalve ertönte, dann kam Applaus auf. »Gut, dass es euch gefällt«, rief die jüngere Dottie. »Ich bin nämlich noch lange nicht fertig mit euch!«
Als die Platte zu Ende war, glänzten Dotties Augen. »So, meine Damen, Zeit fürs Bett«, sagte Sy hastig. »Die kleine Zeitreise war wunderbar, aber ich brauche jetzt meinen Schönheitsschlaf.«
Er reichte Dottie die Hand. Als die beiden gegangen waren, blieb Opal noch eine Weile sitzen. Sie griff nach der Hülle von Alles Dottie, auf der ein Sonnenblumenfeld mit riesigen Blüten zu sehen war. In jede war ein Foto ihrer Mutter montiert. Wie fühlte es sich an, einst allgegenwärtig gewesen zu sein – ein ganzes Feld besetzt zu haben – und plötzlich nur noch wenig Platz einnehmen zu dürfen? Körperlich war ihre Mutter massiger denn je, doch ihr Bild begegnete Opal nicht mehr auf Schritt und Tritt. In diesem Moment bereiteten sich Dottie und Sy auf die Nachtruhe vor, zogen ihre Kimonos aus und stiegen ins Bett. Opal stellte sich vor, wie sie schliefen – nebeneinander, nicht miteinander –, wie sie ihre Körper immer wieder anders betteten, um sich gegenseitig Schutz zu bieten, und sie im Lauf der Nacht wie Sanddünen hierhin und dorthin verschoben.
Neben Opal lag das Kreuzworträtsel, das sich Sy an diesem Tag vorgenommen hatte. Alle Kästchen waren ausgefüllt. Doch bei näherer Betrachtung ergaben einige Antworten keinen Sinn. Sy hatte einfach irgendetwas hingeschrieben, um das Rätsel gelöst zu haben. Sie warf einen Blick auf die Fragen. Bei 24 waagerecht wurde »Autorin Anaïs« gesucht; Sys Antwort lautete »Pin«. Anaïs Pin – Opal hätte beinahe aufgeschrien. Dennoch war Sy ein anständiger Mensch und lag in diesem Augenblick neben ihrer Mutter. »Man muss mit dem arbeiten, was man hat«, lautete einer von Dotties Sprüchen. »Ich bin nun mal keine Twiggy. Deshalb setze ich mein Gewicht ein und wuchere mit meinen Pfunden. Ist das so schlimm?«
Und war das nicht besser als das, was die meisten hatten? Früher, in Jericho, hatten Opal und Erica ein Codewort benutzt, wenn ihre Mutter wieder einmal weinte. »Rosa-Lidschatten-Alarm«, flüsterte Erica, während sie den Kopf zur Tür von Opals Zimmer hereinsteckte. Mit Sy würde es weniger Tränen geben. Dafür friedlichen Schlaf und chinesisches Essen in einer endlosen Parade von Silberschälchen. Vielleicht wollte Dottie nichts weiter als Freundschaft; vielleicht war das ab einem bestimmten Punkt im Leben genug.
Opal war es gewohnt, stets von Menschen umgeben zu sein. In Yale hatten sie morgens dieselben Stimmen geweckt, zu deren Gemurmel sie abends eingeschlafen war. Doch hier in der Wohnung klang alles leiser, es gab weniger Stimmen. Hier war man auf sich allein gestellt, musste selbst für Geräusche sorgen.
Bei der Arbeit freute sie sich auf jede Minute, die sie mit Walt Green zusammensein konnte. Er war zum Gefährten geworden, zum Kumpel, zum einzigen Menschen, mit dem sie dort wirklich sprach. Sie verbrachte viel Zeit am Kopierer und holte oft bei einem Handwerker in Downtown Requisiten ab. Joel Macklin, der Regieassistent, der sie eingestellt hatte, war nett zu ihr, doch von den anderen wurde sie größtenteils ignoriert. Manchmal fragte ein Autor, ob sie zurande komme, aber für längere Unterhaltungen herrschten im Studio zu viel Hektik und Chaos. Die Darsteller blieben auf Distanz zum Rest und hausten in ihren Garderoben hinten im Gang, als stünden sie unter Quarantäne. Manchmal sah Opal sie wie die Figuren einer Schlafzimmerkomödie von einem Raum in den anderen huschen.
Freitagabends saß sie mit Walt in den Kulissen, während sich ringsum Männer und Frauen mit Kopfhörern Einsatzzeichen für Ton und Licht gaben. Einmal beobachtete sie einen Darsteller, einen Klugscheißer namens Stevie Confino, beim Warten auf seinen Auftritt. Keinen halben Meter von ihr entfernt stieß er mehrmals rasch und heftig Luft aus und täuschte nach links an wie ein Boxer, kurz bevor er zwischen die Seile hindurch in den Ring steigt. Sie dachte an ihre Mutter. Sie stellte sich vor, wie sie hinter der Bühne nervös auf ihr Stichwort gewartet und ein letztes Mal überschüssigen Lippenstift abgetupft hatte.
Die Mittagspausen verbrachten Walt und sie in einem Café in der Seventh Avenue. Walt studierte im dritten Jahr an der Columbia University und hatte sich für den Fernsehjob zwei Semester freigenommen. Die Offenheit, mit der er über das Praktikum sprach, beeindruckte Opal und half ihr, das Ganze etwas lockerer zu sehen. Er stellte ihr auch persönliche Fragen, brachte sie zum Reden. Über seine Witze konnte sie unbefangen lachen, anders als sonst, wenn jemand sie aufzog.
»Was kommt dabei raus, wenn man einen Mafioso mit einem Semiotiker kreuzt?«
»Was?«, fragte Opal.
»Ein Angebot, das man nicht verstehen kann«, antwortete Walt grinsend.
Sie lachte und zündete sich eine Zigarette an. »Sehr gut!«
»Für die Sendung allerdings zu anspruchsvoll. Ich habe den Witz an den Autoren getestet – keine Chance.« Er schüttelte den Kopf. »Kennst du dich inzwischen ein bisschen aus am Set? Ich kann dir gern die Leute zeigen, die für dich interessant sein könnten, und dich vor denen warnen, die dir das Leben zur Hölle machen.«
»Danke«, sagte Opal lächelnd. »Aber trotz allem gefällt es dir im Prinzip, oder?«
»Kommt darauf an. Wir beide sind natürlich reine Arbeitssklaven, aber man kriegt eine Menge mit. Man lernt fürs Leben.«
»Was zum Beispiel?«
»Ist dir aufgefallen, dass manche Darsteller ungefähr jede Viertelstunde eine fünfminütige Pause einlegen? Rate mal, was die in der Toilette machen! Aber sie verdienen eben einen Haufen Geld und können es sich leisten. Die haben im Gegensatz zu uns ein festes Monatsgehalt. Was nicht heißen soll, dass ich mein Gehalt für Kokain ausgeben würde. Na ja, ich weiß nicht. Meine Eltern finden es verrückt, in der Comedy-Branche zu arbeiten. Sie finden diese Welt deprimierend. Deshalb erzähle ich ihnen auch nicht mehr alles. Wie heißt es so schön in dem Billie-Holiday-Song? ›Don’t explain.‹ Aber ich wollte nie etwas anderes machen.«
»Das war immer schon dein Traum?«
»Seit ich das erste Mal die Dick Van Dyke Show gesehen habe. Ich stellte mir vor, wie ich den ganzen Tag gemütlich in der Redaktion sitzen, herumblödeln und Witze erfinden würde. Und jeden Tag mit Morey Amsterdam und Rose Marie essen ginge.«
»Die arme Rose Marie! Hat nie einen Mann abgekriegt. Ewig Single.«
Walt grinste. Er war ein attraktiver Mann und wirkte ausdauernd und vital. Wie ein kleiner Muskel, dachte Opal.
»Und du?«, fragte er. »Hast du vor, in diese ›deprimierende Welt‹, wie mein Vater sie nennt, einzutauchen?«
»Keine Ahnung. Ich bin in dieser Welt groß geworden. Meine Mutter arbeitet in der Branche.«
»Wirklich? Kenne ich sie?«
Während sie es ihm erzählte, wurde ihr Gesicht so heiß, als verriete sie etwas zutiefst Privates.
Walt betrachtete sie verwundert. »Wahnsinn. Aber du bist so … zierlich. Ich hätte dich nie mit ihr in Verbindung gebracht.«
»Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich«, versicherte Opal eilig.
»Kommst du nach deinem Vater?«
»Weiß nicht …« Ihre Stimme erstarb. Sie zuckte kurz mit den Schultern.
»Entschuldigung, ich wollte nicht indiskret sein.«
»Warst du nicht. Aber bei manchen Themen bin ich ein bisschen eigen.«
»Das ist doch bei allen so. Jeder hat seinen wunden Punkt. Wenn man sich eine Weile unterhält, erkennt man, was den anderen umtreibt. Mehr, als dieses eine Thema zu variieren, bleibt meist nicht übrig.« Er schüttelte den Kopf und schwieg lange. Opal wartete angespannt, was er als Nächstes sagen würde.
Er hob jedoch nur den Arm und warf einen Blick auf die Uhr. »Wir gehen jetzt besser. Geld kriegen wir zwar nicht, aber pünktlich sollen wir sein.« Sie schlenderten zurück zum Rockefeller Center, wo die Fahnen im starken Wind knatterten. Walt ergriff ihren Arm. Einen Moment lang bildete Opal sich ein, sie hätten einen wichtigen Job, wären UNO-Delegierte auf dem Rückweg vom Lunch. Sie dachte an ihren Vater und fragte sich, ob ihre Miene zu viel verraten hatte, als Walt sich nach ihm erkundigte. War ihr Vater ihr »Thema«? Sie wusste es nicht zu sagen. Norm Engels ließ sich nicht isoliert von dieser chaotischen Familie betrachten. Während sie noch überlegte, ob sie Walt mehr darüber erzählen sollte, passierten sie schon die schwere Glastür, und der richtige Augenblick war vorbei.
»Lass dich ansehen«, sagte Mia Jablon im Tonfall einer Mutter, die lange von ihrem Kind getrennt gewesen war. Eigentlich trat ein braves Kind in einem solchen Fall einen Schritt zurück und nahm die Musterung mit hängenden Armen hin. Ließ es über sich ergehen, dass die Mutter sein Handgelenk packte, den Arm anhob, um ihn gleich darauf fallen zu lassen, eine Haarsträhne von links nach rechts strich und das Hemd rabiat in den Rock- oder Hosenbund stopfte – so tief, wie es nur Mütter tun durften. Doch Mia wollte lediglich einen Blick auf sie werfen, was Opal nicht störte. Immerhin war Mia ihre Babysitterin gewesen, hatte für sie gekocht, sie schlafen gelegt und in der Erkältungssaison ganze Nächte in einem weißen Kinderschaukelstuhl gedöst, um sie zu bewachen. Reglos stand Opal da, während Mia sie lange betrachtete. Dann umarmten sie sich.
»Du bist eine Schönheit«, flüsterte Mia. »Ich wusste, dass es so kommen würde. Das habe ich damals schon gesehen.«
In Opals dritter Praktikumswoche bei Rush Hour war Mia für die zweite Hälfte der Staffel als Darstellerin dazugestoßen. Ein Produzent der Sendung hatte sie in einem kleinen Club in Tribeca entdeckt, wo sie als Mitglied der von ihr gegründeten rein weiblichen Musik-Comedy-Gruppe Synchronous Menses aufgetreten war. Sie spielte selbst erfundene Figuren. Ihre beliebteste war Soapy Waters, eine alte schwarze Bluessängerin, die ihr Leben lang als Tellerwäscherin gearbeitet hatte. Mia pflegte einen sehr reflektierten Humor. Sie stellte sich auf die Bühne und sagte: »Klar möchte ich früher oder später Kinder haben, aber später wird für mich wahrscheinlich immer noch zu früh sein.«
Neun Jahre lag ihre letzte Begegnung zurück. Das rechneten sie gleich am ersten Abend bei einem Essen in Mias und Lynns Loft aus. In diesen neun Jahren hatte sich Mia kaum verändert; nur etwas kantiger war sie geworden, so als hätte man sie mit einem Filzstift umrandet. Sie war nach wie vor schlank und drahtig. Ihr rotes Haar war an manchen Stellen nachgedunkelt und wirkte nicht mehr so mädchenhaft, doch den Zopf trug sie zu Opals Freude noch immer.
»Endlich bin im Fernsehen gelandet!«, sagte Mia, während sie den Tisch abdeckte. »Jahrelang hieß es, mein Gesicht wäre dafür nicht geeignet. Es würde zerknautscht aussehen und vor der Kamera einfallen wie ein Soufflé. Deine Mutter – die hat ein Gesicht! Die Kamera hat sie nicht nur geliebt, sondern vor Liebe förmlich gefressen!«
»Nur wenn sie nicht zuerst die Kamera gefressen hat«, erwiderte Opal und schämte sich sofort.
Niemand wagte es zu lachen. »Wie geht es Dottie?«, fragte Lynn hastig. Mia und sie waren erst vor Kurzem von der alten Brooklyner Wohnung in das große Lagerhaus-Loft in der Franklin Street gezogen. Ob sie kaum Möbel hatten, weil der Umzug so kurz zurücklag, oder ob die Leere ästhetisch begründet war, konnte Opal nicht sagen. In jedem Fall gefiel ihr der karge, turnhallenartige Raum. Die beiden bewegten sich darin wie Katzen, dachte Opal, während sie ihnen beim Abräumen zusah. Sie hantierten in einem völlig synchronen Rhythmus, wie Paare, die lange miteinander verheiratet waren. Zum ersten Mal begriff sie, dass Mia und Lynn zusammengehörten, was wahrscheinlich schon immer ein offenes Geheimnis gewesen war, und plötzlich schämte sie sich ihrer Ignoranz in der Kindheit, der aufgedrehten, ständig quasselnden Opal von früher. Als Erwachsener hatte man einen anderen Blick auf die Dinge, sah alles viel klarer. Während Mia mit einer Messerklinge die Krümel vom Tischtuch kratzte, blies Lynn die dicken Kerzen in der Tischmitte aus. Alles war eingespielt, es bedurfte keiner Worte.
»Meiner Mutter geht es gut«, sagte sie. »Sie hat jetzt einen Freund. Er heißt Sy, und sie wirken sehr glücklich. Sie sind ständig zusammen.« Weder Mia noch Lynn erwiderten etwas. Alle drei schwiegen, als wäre von einer Toten gesprochen worden.
Mia zupfte an den Weintrauben auf ihrem Teller, bis sie alle abgerissen hatte und die knotigen Stiele an einen Haufen Knochenschlüssel erinnerten. »Ich habe oft an deine Mutter gedacht und ihre Karriere aufmerksam verfolgt«, sagte sie nach einer Weile und rutschte auf ihrem Stuhl herum, bis sie bequem saß. »Schon bevor ich sie persönlich kennenlernte, war ich voller Bewunderung, weil sie es als Frau im Comedy-Business geschafft hatte. Und sie war unglaublich originell. Wenn man sich ihre ersten Sendungen heute ansieht, erkennt man ihren ganz eigenen Ton. Damit meine ich nicht so sehr ihren Humor, sondern ihre Dreistigkeit, ihre Ungeniertheit. Manchmal fand ich sie nicht mal komisch, aber das störte mich nicht.«
Opal nickte. »Das haben Erica und ich als Kinder nie kapiert.«
»Ich schon«, fuhr Mia fort. »Sie war eine völlig eigenständige Künstlerin, strahlte aber auch Wärme aus – ganz im Gegensatz zu den Frauen, die später kamen und sich in ihrer Verbitterung suhlten. Du weißt schon, dieser weinerliche Humor, der dann irgendwann aufkam. Ich sehe Dottie noch vor mir, damals in der Mike Douglas Show. Das war richtig aufregend – so wie wenn etwas Wichtiges beginnt und man voller Vorfreude ist, aber noch nicht weiß, was passieren wird. Diese gewaltige, exzentrische Mutterfigur, die sich auf der Bühne austoben durfte. Als sie später diese schrägen Lieder sang und die durchgeknallten Figuren erfand, hat sie das Feld komplett beherrscht, und alle waren verrückt nach ihr. Und dann war mit einem Schlag alles vorbei. Ich habe nie verstanden, warum deine Mutter in keinem Comedy Special mehr auftreten durfte. Lynn und ich haben stundenlang in TV Guide nach ihrem Namen gesucht, bis ich kapierte, dass es weniger an ihr lag als am Zeitgeist. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, was die Frauenbewegung alles verändert hat. Plötzlich war es peinlich, wenn Frauen Witze über ihren Körper machten, aber Dottie hörte nicht auf. Wie eine Maschine. Mein Gott, diese ›Busenwitze‹ …«
»Tittenwitze«, sagte Lynn. »Ich glaube, ›Titten‹ trifft es hier besser. Wenn du zum Fernsehen willst, solltest du das Vokabular beherrschen.«
Mia lachte. »Stimmt, ich erinnere mich. Ihre Bandbreite war nicht besonders groß. Ihre Stärke war die Beständigkeit. Wer eine bestimmte Art von Comedy wollte, bekam sie von Dottie. Sie erfüllte alle Erwartungen.«
»Und jetzt macht sie Mode für Dicke«, sagte Opal. Erstaunt bemerkte sie, dass ihre Stimme durch den Raum hallte, als wäre sie in einem Museum und hätte plötzlich begonnen zu schreien.
»Stört dich das?«, fragte Lynn.
Opal sah sie an. »Nein, es ist mir peinlich.«
»Sie beißt sich durch«, sagte Mia und beugte sich mit verschränkten Armen über den Tisch. »Ich beiße mich schon seit einer Ewigkeit durch. In den neun Jahren seit unserer letzten Begegnung habe ich in vier Restaurants gekellnert – in einem musste ich ein Häubchen aufsetzen und ein Körbchen mit warmem Gebäck herumtragen. Ich habe morgens um drei Schriftsätze für eine Anwaltskanzlei getippt und am Clinique-Stand in Bloomingdale’s Feuchtigkeitscreme verkauft. Wenn ich abends mit der Subway nach Brooklyn zurückfuhr, war mir fast schlecht vor Müdigkeit. Dann musste ich sehen, dass ich zu Kräften kam, um drei Stunden später wieder nach Manhattan zu fahren und in einem Club vor vielleicht zehn Leuten aufzutreten.« Sie schwieg eine Weile. »Und jetzt bin ich im Fernsehen und soll so tun, als wäre ich unverbraucht, voll motiviert und noch nicht vom Leben erschöpft. Ich würde deine Mutter nicht so vorschnell kritisieren. Sie ist eine ganz tolle Frau. Ihretwegen musst du dir wahrscheinlich nie Sorgen um Geld machen. Du wirst jedenfalls nie in einer Wohnwagensiedlung leben und dich von Olivenbrot ernähren. Stattdessen studierst du in Yale, was großartig ist, aber ein bisschen mehr Dankbarkeit wäre schon angebracht. Sieh dir dein Leben an, Opal, und dann sieh dich um.«
Als sie zu Ende gesprochen hatte, wirkte Mia ein bisschen verlegen. »Verzeih mir die Tirade, aber das liegt mir wirklich am Herzen. Ich find’s auch nicht toll, wenn ich Dottie im Fernsehen vor einem Ständer mit Ballonkleidern sehe, aber was soll man machen? Wahrscheinlich käme jedes Leben wie ein Werbespot für Dickenmode rüber, wenn man es öffentlich ausstellen würde. Deine Mutter ist ans absolute Extrem gegangen – mehr lässt sich die Tatsache, dass sie dick ist, nicht ausschlachten. Aber wer weiß, vielleicht machen Lynn und ich irgendwann Werbung für Lesbenmode!« Mia klopfte mit den Fingern rhythmisch auf den Tisch. »Mädels, bei uns gibt’s die größte Auswahl an Designer-Overalls und dicken Boots! Zieht die Sachen Weihnachten an – eure Eltern werden todunglücklich sein!«
Opal lachte befreit auf und lehnte sich zurück. Sie hätte stundenlang dasitzen und Mia Jablons Ausführungen über Gott und die Welt zuhören können. Mias Erfolg in der Sendung war garantiert, obwohl sie eine vollkommen andere Ausstrahlung hatte als Dottie. Mia würde nicht den ganzen Bildschirm füllen, sondern nur einen Bruchteil davon in Anspruch nehmen, ihn wie mit einem Streichholz beleuchten, sodass der Blick der Zuschauer ganz automatisch dem Lichtpunkt folgte. Von ihrem intelligenten, asymmetrischen Gesicht bekam man nie genug. Opal spähte kurz zu Lynn hinüber, die Mia mit einem Lächeln um die breiten, vollen Lippen ansah. Plötzlich empfand sie Neid auf die Liebe der beiden, auf jede Liebe zwischen zwei Menschen, die so lange anhielt. Sie selbst hatte das nie gehabt und nicht mal gewusst, dass es möglich war.
Am Ende des Abends fiel es Opal schwer, Abschied zu nehmen. Ganz langsam zog sie ihre Jacke an und schloss den Reißverschluss wie in Zeitlupe. Während Lynn in der Küche Geschirr stapelte, standen Opal und Mia vor der Tür zusammen.
»Ich würde Dottie gern wiedersehen«, sagte Mia. »Meinst du, sie freut sich, wenn ich mich melde? Irgendwann wart ihr zu groß für Babysitter, und wir haben uns aus den Augen verloren. In ihrem Leben gab es so viele Menschen …«
»Aber natürlich«, erwiderte Opal wahrheitsgemäß, denn ihre Mutter freute sich immer über die Wiederbegegnung mit Leuten, die sie lange nicht gesehen hatte, auch wenn es sich dabei oft um alte Fans handelte.
»Ich würde ihr so gern helfen«, fuhr Mia fort. »Vielleicht können wir ihr einen Auftritt in der Sendung vermitteln. Ich als Neuling habe da zwar im Moment nichts zu melden, aber ich könnte es vorschlagen, wenn ich ein bisschen länger dabei bin – falls es dann immer noch gut für mich läuft.«
»Sie hasst die Sendung«, sagte Opal. »Sie findet sie überhaupt nicht witzig.«
Mia schüttelte den Kopf. »Sei dir da mal nicht so sicher. Dottie ist sauer, wenn man sie ausschließt. So etwas habe ich selbst schon erlebt. Als ich erfuhr, dass ich den Job bekomme, waren meine Kolleginnen von Synchronous Menses plötzlich ganz komisch zu mir, ziemlich fies. Sie meinten, ich würde dort meinen Humor nicht anbringen können und Verrat am Feminismus begehen, bla, bla. Genau das Gleiche habe ich schon zwölf Jahre zuvor zu hören bekommen, als ich mir für die Hochzeit meiner Cousine Judy die Beine rasierte. Dabei hätten die meisten von ihnen sofort zugeschlagen, wenn sie den Job hätten kriegen können. Sie halten sich mit Lebensmittelmarken über Wasser und wollen doch gesehen werden, wollen raus in die Öffentlichkeit. Alle fühlen sich abgehängt, das musst du immer bedenken. Dottie glaubt, die ganze Welt hätte sich verändert, und vielleicht stimmt das ja auch, aber das muss nicht unbedingt schlecht sein. Es ist eben schwer, wenn man sein Geld mit einer bestimmten Masche verdient hat. Ich hatte zum Glück bisher noch nie Erfolg und bin vollauf zufrieden, dass ich jetzt etwas Neues beginnen und das Alte hinter mir lassen kann.«
»Solange du mich nicht hinter dir lässt«, rief Lynn aus der Küche.
»Niemals!«, rief Mia zurück.
Opal fuhr im Lastenaufzug hinunter. Überall gab es plötzlich Paare. Doch dieses Phänomen, das wurde ihr klar, war nicht neu. Neu war, dass es ihr auffiel und dass es sie traurig machte. Mia und Lynn, Erica und Jordan, Dottie und Sy. Wieder fragte sie sich, ob auch ihr Vater eine Partnerin hatte oder allein im Coconut Court wohnte, einer von denen, die mit ihrer Arbeit »verheiratet« waren. Sie hatte einen zweiten Brief geschrieben und ihn gefragt, ob er den ersten erhalten habe, doch auch darauf war keine Antwort erfolgt. Tamara, die alle paar Tage Opals Postfach in Yale leerte, hatte ihr mitgeteilt, dass nichts Wichtiges gekommen sei. Allmählich würde sich Opal mit anderen Dingen beschäftigen müssen.
Doch es war schwierig, an einem solchen Abend über andere Dinge nachzudenken, während man allein aus dem warmen Licht einer fremden Wohnung auf die Straße hinaustrat. In Lower Manhattan war es vollkommen still. Auf der Straße sammelte sich das Regenwasser in glänzenden Pfützen. Als sie den Blick zum Fenster von Mia und Lynn hob, sah sie einen Schatten hinter dem Papierrollo länger und gleich darauf breiter werden. Alle hatten sie ihre Wahl getroffen, sich festgelegt. So sollte es sein, dachte sie. Nur sie hing noch in der Luft. Ringsum beschlossen die Frauen, mit Männern zu leben, weil sie sich nach ihrem körperlichen Gegenstück sehnten, oder, wie Mia, mit einer Frau zusammen zu sein auf der Suche nach etwas, das Opal sich nicht vorzustellen vermochte. Die Behauptung, eine Frau suche das Gleichartige in einer anderen Frau, erschien ihr zu klischeehaft. Die quirlige Mia und die bedächtige, zur Ironie neigende Lynn mit ihrem Wolfsgesicht ähnelten sich überhaupt nicht. Im Grunde hatte sie keine Ahnung von Beziehungen, gleich, welcher Art. Sie wusste nur, dass es in der Natur der Menschen lag, sich einander zuzuwenden, so wie sich Pflanzen dem Licht entgegenreckten.
Im ersten Collegejahr hatte sie mit Tom Kennerly geschlafen, einem leicht unterernährten, gut aussehenden Jungen, dem sie eines Morgens im Speisesaal begegnet war. Zu Beginn erzählte sie ihm nur wenig von sich, doch er wusste bereits über ihre Mutter Bescheid. Sie führte diese Beziehung gewissermaßen mit emotionslosem Eifer: Es fühlte sich gut an, zu den sexuell aktiven Frauen im Wohnheim zu zählen, die abends mit dem Buch Our Bodies, Ourselves herumsaßen wie die Mitglieder einer Bibelgruppe.
»Blasenentzündung, eindeutig Blasenentzündung«, lautete etwa die Diagnose einer sachkundigen Senior-Studentin für die jüngere Kommilitonin, die sich auf dem Stuhl gegenüber vor Schmerzen krümmte, und schon wurde jemand in den nächsten Supermarkt geschickt, um Cranberrysaft und Naturjoghurt zu kaufen. Sie waren ein Geheimbund, und dass man Sex haben musste, um ihrem Club anzugehören, gefiel Opal am besten daran. Sie begann sogar, die Briefkastenecken in Frauenzeitschriften zu lesen, machte jeden Test, der ihr unterkam, und rechnete die Punkte zusammen, um zu erfahren, wie hoch ihr »Intimitätsquotient« und ihr Scheidungsrisiko war. Es freute sie, dass sie bei allen Tests gut abschnitt, und zugleich war es ihr peinlich.
Das tatsächliche Zusammensein mit Tom fand sie weit weniger angenehm. In seinem Bett starrte sie mit leerem Blick in den Spiegel über der Kommode, aus deren Schubladen Pulloverärmel hingen und an die Arme von Leuten erinnerten, die aus dem Zug heraus winkten. Wenn alle anderen im Kino saßen und Harold and Maude und direkt danach Herzkönig sahen, klammerte sie sich an Toms schmalen Körper, während er wie eine kleine Maschine in sie hinein- und aus ihr herausglitt. Es klappt!, sagte sie sich nicht ohne Freude, auch wenn es die Freude der einstigen Skeptikerin war, nicht die einer Verliebten. Man hatte sie überzeugt; ihr Körper war begehrenswert und funktionierte ordnungsgemäß. Und obwohl sie manchmal über dem Ganzen zu schweben und auf das kleine Zimmer, den verzerrenden Spiegel und die rosige Haut des jungen Mannes aus Lyme, Connecticut, hinabzusehen glaubte, war alles immer wie gewünscht verlaufen, und er strengte sich jedes Mal an, bis sie mit einem verblüffend langen Zischlaut kam.
Doch das Ganze hatte keinen Bestand, denn wie sie einander zwei Wochen später beim Essen in Naples Pizza mit schlechtem Gewissen gestanden, war keiner von ihnen in den anderen verliebt. Gleich nach der Beichte prusteten beide erleichtert los. Sie erhoben sogar die Gläser und stießen auf das Fehlen aller Gefühle an. In der Prüfungszeit wurden die Treffen seltener, doch gelegentlich beobachtete Opal ihn beim Frisbeespielen auf der Wiese, wie er weit ausholte und der Schwung ihn hoch in die Luft hob. Sie stand in einiger Entfernung da und fragte sich, woher das Bedürfnis, sich zu verlieben, stammen mochte und warum sie es als eine Art Geburtsrecht betrachtete. Vielleicht war es reiner Impuls. Völlig ahnungslos erstrebte sie einen Zustand, den sie nicht kannte und von dem sie todsicher nicht durch die eigenen Eltern erfahren hatte.
»Euer Vater kann nicht lieben«, hatte Dottie gesagt. »Es fällt ihm unheimlich schwer, Gefühle zu zeigen.« Im Grunde hatte die ganze Generation nur schlechte Väter hervorgebracht. In den Fünfzigern waren den Ehemännern nach und nach warme Bündel präsentiert worden, die strampelten und süß aussahen, aber säuerlich rochen. Die Väter hielten sie unbeholfen im Arm, immer ein Stück vom eigenen Körper entfernt, wie Jugendliche den riesigen Blumenstrauß bei einem wichtigen Date. Seitdem waren die Väter anders geworden. Eine ganz neue Art tummelte sich auf der Erde: bärtige junge Männer, die sich im Wehenschmerz krümmten, Männer, die das Alte Testament nach einem guten Namen für ihr Kind durchstöberten. Solche Männer empfand Opal als eine andere Spezies. Sie waren ihr völlig fremd.
Sie machte es sich zu leicht, wenn sie ihren eigenen Vater nur schrecklich fand. Es war zu einfach gedacht, ja unbedacht, und sie tat es schon so lange, dass sie gar nicht mehr anders konnte. Jetzt stellte sie es infrage. Sie begann, Zweifel zu hegen. Ihren ersten Brief hatte sie einen Monat zuvor abgeschickt und seitdem gewartet. Es war ihr ganz eigener Schmerz – Erica oder Dottie konnte sie davon unmöglich erzählen. Außerdem war das Geheimnis zu wenig spektakulär. Der erhoffte Briefwechsel wäre so viel bemerkenswerter gewesen: eine innige, freimütige Korrespondenz mit Informationen, die Opal berührten, veränderten und verstörten. Sie würden sich jahrelang schreiben und die Sache, wenn eines Tages alles gesagt war, einvernehmlich im Sande verlaufen lassen.
Doch er schrieb nicht. Jedes wöchentliche Telefonat mit Tamara in Yale ergab, dass in Opals Postfach nichts Wichtiges gelandet war. »Kommst du auch wirklich im Herbst zurück?«, fragte Tamara immer wieder so argwöhnisch, als sähe sie die Gefahr, Opal könnte sich nie wieder aufraffen und das »Urlaubssemester« zum Dauerzustand werden.
Abends, allein in der Wohnung, verspürte sie manchmal den Wunsch, das Gesicht ihres Vaters zu betrachten, obwohl ihr die Aufnahmen, die sie besaßen, wenig verrieten. Dennoch kramte sie immer wieder die alte B.-Altman-Schachtel mit den Schnappschüssen aus jenem anderen Leben aus dem Dielenschrank hervor. Die meisten Fotos waren im Familienurlaub entstanden. Auf jedem sah ihr Vater annähernd gleich aus – käseweiß, selbst im Hochsommer offenbar von keinem Sonnenstrahl berührt.
Walt Green hatte gefragt, ob sie ihrem Vater ähnele. Daran dachte sie wieder, als Walt eines Abends zum Essen zu ihr nach Hause mitkam. Immer wenn er den Kopf ins gelbe Licht der Lampe über dem Küchentisch hob, wirkte sein Blick ungewohnt intensiv. Er hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht, den sie weitertranken, als sie fertig gegessen und das Geschirr in der Spüle gestapelt hatten. »Hier hast du also deine Kindheit verbracht«, sagte er. »Diese Küche ist riesig!«
»Willst du auch den Rest sehen?«, fragte Opal, und als er nickte, brachen sie, jeder mit dem Glas in der Hand, zu einer Tour durch die Wohnung auf. »Wahnsinn«, sagte Walt im Wohnzimmer. »Du solltest meine Bude sehen, oben, gleich bei der Columbia. Wir hausen zu dritt in einem winzigen Rattenloch in der 112th Street. Ich schlafe auf einer Ausziehcouch wie Mary Tyler Moore. Aber das hier ist keine Wohnung, das ist ein ganzes Haus mitten in Manhattan. Ich bin schwer beeindruckt.«
Nachdem alle Zimmer besichtigt waren und sie Richtung Küche zurückgingen, blieb Opal vor dem Dielenschrank stehen. »Wenn du willst, zeig ich dir noch was«, sagte sie hastig. Walt stimmte schulterzuckend zu. Opal öffnete die Schranktür, streckte die Arme in die Höhe, packte die B.-Altman-Schachtel und trug sie ins Wohnzimmer. Dort kramte sie nach dem Fotoalbum, legte es wie eine Schlittendecke über seinen und ihren Schoß und schlug es auf. Es enthielt mehrere Seiten mit Babyfotos von Erica, gefolgt von zwei Seiten mit Bildern von Opal.
»Der Klassiker«, sagte Walt. »Beim zweiten Kind ist es nicht mehr so spannend, da wird viel weniger geknipst. Bei meiner Schwester und mir war es genauso.« Nach den Babyfotos kamen die Schnappschüsse aus den Familienurlauben. »Schau mal, die Weltausstellung. Da waren wir damals auch.«
»Da waren praktisch alle. Erinnerst du dich an den italienischen Pavillon?«
Er nickte lächelnd. »Klar. Der war toll. Und ich erinnere mich noch an einen anderen. Man setzte sich auf einen Stuhl, und während man durch einen Schacht gehoben wurde, konnte man sich die Funktionen des menschlichen Gehirns ansehen. Das war super. Aber am besten erinnere ich mich an die Hitze und dass ich ständig auf die Toilette musste.«
Opal blätterte um. Auf der neuen Seite mit weiteren auf dem Gelände der Weltausstellung geknipsten Fotos klebte in der obersten Reihe ein Bild, für das sie damals hatte posieren müssen. Sie erinnerte sich noch sehr gut an den Tag. Viele Stunden hatte sie in einem System aus dunklen Tunneln und Rutschen verbracht und draußen nichts mehr gesehen, als sie am Nachmittag ins grelle Sonnenlicht trat. Und kaum noch etwas gehört. In ihren Ohren hallte das Lied der Grillenkinder, »It’s a small world, after all«. Es war in verschiedenen Sprachen gesungen worden und ihr von Mal zu Mal unverständlicher erschienen, bis es nur noch wie Kauderwelsch geklungen hatte – »Gluka brznik faxmilgriv«. Welche Sprache sollte das sein?, dachte sie. Russisch? Griechisch? Sie erkannte sie nicht, konnte sich aber nicht länger damit beschäftigen, weil ihr Vater sie fotografieren wollte. Inmitten anderer Kinder, die ebenfalls vor Kuppeln und Bögen posierten, stand sie voller Ungeduld da. Die Väter drehten an den Objektiven ihrer neuen klobigen Kameras, während die Kinder stöhnend die Arme schwangen und die Aufnahmen ruinierten. Der lange Moment zwischen Scharfstellen und Auslösen erschien Opal fast unerträglich. Doch weil ihr Vater schlecht gelaunt war, beklagte sie sich lieber nicht, sondern verharrte zappelig und augenrollend in dem unsichtbaren Rahmen, den er um sie gezogen hatte.
Nachdem die Aufnahme erledigt war, hatte ihr Vater ein Schwämmchen genommen und das Foto akribisch mit einer chemischen Flüssigkeit abgerieben, die wie giftiges Salatdressing roch. Und später am Nachmittag hatte er im Wohnzimmer in Jericho gesessen, das Foto in ein Album gesteckt und das Bild seiner jüngeren Tochter hinter Plastik versiegelt.
Jetzt saß Opal vor dem Album, senkte den Blick auf das Bild und sagte: »Da, schau.«
Walt betrachtete das Foto lange. Plötzlich sog er so scharf die Luft ein, dass Opal erschrak.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ich fasse es nicht.«
Sie blickte wieder hin und konzentrierte sich auf die Stelle, die er fixierte. »Was soll da sein?«, fragte sie, während sie verständnislos zu ihm aufsah.
»Das bin ich!«, sagte Walt.
Sie guckte noch einmal. Hinter der sechsjährigen Opal trottete muffig und müde ein kleiner Junge vorbei. Sein Haar war stoppelkurz, die Farbe nicht erkennbar und sein Blick in die heiße, offene Ferne gerichtet. Opal und er, Gefangene zweier verschiedener Familien, sahen sich nicht. Das Reden und Lachen, das Babygeschrei und die aus den Pavillons dringende Musik übertönend rief eine gestresste Mutter vielleicht: »Walt! Walt Green! Du kommst auf der Stelle hierher! Walt! Walt!« Doch der Junge ging weiter.
Ja, das war er. Sie war sich so gut wie sicher. Sie blickte zwischen dem Bild und dem Erwachsenengesicht hin und her und sah, dass er dieselben Wangenknochen hatte wie damals, dieselben kleinen, scharfen Augen und vollen Lippen. Nur die Frisur unterschied sich, war jetzt so wild, als wollte er seine Eltern noch immer für die Glatze bestrafen, die sie ihm viele Sommer zuvor verpasst hatten.
Opal und Walt umarmten sich stürmisch und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. »Wahnsinn!«, sagte sie immer wieder. »Unglaublich! Das ist einfach Wahnsinn!«
Walt schenkte nach. Sie wurden unbefangener, sprachen gleichzeitig, unterbrachen sich. Als er von seiner Familie erzählte, veränderte sich seine Stimme. Seine ältere Schwester Nissa hatte drei Jahre zuvor einen Nervenzusammenbruch erlitten.
»Es war schrecklich. Es hat uns alle wahnsinnig mitgenommen. Wenn ich so darüber nachdenke, hatte es sich schon den ganzen Sommer angebahnt. Sie hat einfach aufgehört zu essen. Als meine Eltern sie in ihrer Wohnung besuchten, hatte sie alle Küchenschränke ausgeräumt und bewahrte ihre Schminksachen darin auf. Sie haben Nissa in Sojourn House in Vermont einweisen lassen, eine Art Farm für Essgestörte. Man muss da jeden Morgen bestimmte Arbeiten erledigen, die Kühe melken und so weiter. Sie blieb ein halbes Jahr dort und lebt jetzt wieder in ihrer Wohnung, weil es ihr angeblich besser geht. Aber sie hat sich verändert. Sie hat zwar Freundinnen und geht zur Arbeit, aber sie wirkt immer so teilnahmslos. Ich glaube, seit dem Zusammenbruch hatte sie keinen Freund mehr. Sie ist zu dem Typ Frau geworden, der Freundinnen in die Abtreibungsklinik begleitet.«
»Was soll das heißen?«
»Die Art von Frau, die selbst nie abtreiben muss, die sich nie auf jemanden einlässt«, erklärte Walt. »Wenn meine Eltern hin und wieder fragen, ob sie zum Abendessen kommen will, sagt sie jedes Mal etwas wie: ›Nein, geht nicht, ich muss Julie oder Andrea in die Abtreibungsklinik fahren.‹ Meine Eltern machen sich wahnsinnige Sorgen.« Er schüttelte den Kopf. »Jede Familie hat ihr Geheimnis. Und von allen wird erwartet, dass sie es wahren, ob es ihnen passt oder nicht.« Seine Stimme klang belegt und traurig. »Wir können es uns nicht aussuchen – es ist überall das Gleiche. Als wäre man in den KGB hineingeboren worden.«
»Ja, ich weiß.« Opal betrachtete seine Faust, mit der er den Stiel des Glases umfasste. Er hatte etwas sehr Direktes. Er war wie ein Kind, wie ein Junge – der Junge auf dem Foto. Eine Zeit lang schwiegen sie. Schließlich nahm Opal das Album vom Tisch, um sich den kleinen Walt noch einmal anzusehen. Er war damals wirklich dort gewesen, und jetzt saß er hier neben ihr. Als er sich zu ihr beugte, um das Bild besser betrachten zu können, streifte der Ärmel seines Pullovers ihr Handgelenk, und sein Atem strich über ihr Haar.
»Lass mich noch mal sehen«, sagte er, kniff die Augen zusammen, hielt das Album ins Licht. Plötzlich wirkte er skeptisch. »Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Er sieht zwar aus wie ich, aber ich war damals dicker. Ich war ein ziemlicher Moppel und habe eine Zeit lang Übergrößen getragen. Langsam glaube ich, dass ich das doch nicht bin.«
»Wirklich nicht?«, fragte Opal mit vor Enttäuschung blecherner Stimme.
Walt schüttelte den Kopf und sagte, sicher sei er sich nicht, doch es wirkte nicht überzeugend. Nein, er war es nicht, dachte Opal. Als er das Album wieder auf ihren Schoß legte, fühlte es sich plötzlich schwer an. Sie hatte zu viel getrunken; gleich würde sie weinen. Walt musterte sie verdutzt, fast peinlich berührt und stand kurz danach auf, um zu gehen. Sie wollte auch, dass er ging. Sie fühlte sich unsicher, haltlos.
Einzig sicher und unwiderlegbar war, dass es sich bei dem Mädchen um sie selbst handelte, dachte Opal, als Walt weg war. Würde sie sich jemals auf einem fremden Foto im Hintergrund entdecken, gäbe es keine Zweifel. Sie warf einen letzten Blick auf das blinzelnde Mädchen im orangefarbenen Hosenrock und stellte verwundert fest, dass sie sich kaum verändert hatte.
Der Winter schritt voran, und ihr Vater hatte immer noch nicht geschrieben. »In deinem Postfach war nur Werbung«, sagte Tamara. »Werbung für diese grauenhaften Spring-Break-Trips nach Fort Lauderdale, ein Mitgliedsantrag der Black Students’ Alliance, nur solche Sachen. Worauf wartest du eigentlich?« Opal behauptete standhaft, sie warte auf nichts Bestimmtes. Kaum hatte sie es gesagt, wusste sie, dass es wirklich so war. Wenn er bisher nicht geschrieben hatte, würde er es nie tun. Sie hatte ihm drei Briefe geschickt, einer kläglicher als der andere. Drei Briefe von der eigenen Tochter, und er rührte sich nicht.
Manchmal weckten sie spätnachts Küchengeräusche – der dröhnende Mixer, das sirrende Elektromesser, die glucksende Spülmaschine. Unglaublich, wie viel Dottie und Sy aßen. Eigentlich wollte sie von den Exzessen der beiden nichts wissen. Sie begann sich, zurückzuziehen, sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause. Wenn Walt oder Mia ihren Namen quer durchs Studio riefen, tat sie gelegentlich so, als hätte sie nichts gehört.
Eines Nachmittags wurde sie von Stevie Confino zum Kokskaufen geschickt. Auf dem Weg in ihre Mittagspause sprach er sie diskret an. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Ich muss in fünf Minuten in die Maske, und du bist die Einzige, die ich fragen kann. Ich wäre dir ewig dankbar, Opal. Ich revanchiere mich mit sexuellen Diensten. Ich gebe dir meinen erstgeborenen Sohn!«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er kaum je ein Wort mit ihr gewechselt. Sie betrachtete seine erwartungsvolle Miene, das mit Wasser angeklatschte Haar, das um den Hals drapierte Handtuch. Er war so jung und lächerlich, und sie erklärte sich einverstanden, um es hinter sich zu bringen. Stevie schickte sie mit vier Fünfzigdollarscheinen plus Taxigeld nach Downtown.
In der East Seventh Street stieg sie aus und las noch einmal die Adresse auf dem Zettel zwischen ihren behandschuhten Fingern. Dann klingelte sie an einem heruntergekommenen Gebäude auf der Südseite der Straße und wartete fröstelnd vor dem Eingang.
Als die Tür geöffnet wurde und sich die Schwestern gegenüberstanden, spürte Opal nur dumpfes Erstaunen. Schmerzlos und still glitt etwas in ihr hinunter, wie Schnee, der vom Dach rutscht. »O mein Gott«, sagte sie.
Erica starrte sie an. Auf ihrem gelben T-Shirt, das jahrealt war und an das sich Opal noch erinnern konnte, stand Reva and Jamie: First North American Tour. Schweigend lehnte Erica am Türrahmen. Es war früher Nachmittag und eiskalt auf der Straße. »Willst du raufkommen?«, fragte sie schließlich.
Opal nickte, und sie stiegen eine schmale, dunkle Treppe hinauf. Als Erica im zweiten Stock die Wohnungstür aufschloss, schlug ihnen aus der Diele Heavy Metal entgegen. Die Musik fräste sich wie eine Säge durch die Wohnung. Jordan Strang, den Opal seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen hatte, saß in dem kleinen, schmuddeligen Wohnzimmer auf der Couch. Er unterbrach, was immer er gerade gemacht hatte, blickte auf und fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen, bis er sie wiedererkannte. Dann warf er Erica einen hilfesuchenden Blick zu.
»Alles in Ordnung«, sagte Erica. »Du erinnerst dich doch an Opal.«
Jordan zuckte kurz mit den Schultern, nickte und sagte: »Wie gewonnen, so zerronnen.« Dann erhob er sich schwerfällig wie ein alter Hund und trottete ins Schlafzimmer. Gleich darauf knarzte eine Leiter.
»Ist jemand gestorben?«, fragte Erica.
»Was?«
»Ist jemand gestorben«, wiederholte sie, diesmal im Tonfall einer Feststellung, wie um zu sagen: Du bist bestimmt aus einem guten Grund hier und nicht, um mir einfach so einen Besuch abzustatten. Opal schüttelte den Kopf. »Es kommt gleich jemand«, erklärte Erica. »Geschäftlich. Können wir später reden?«
»Erica«, sagte Opal, doch ihre Schwester verstand noch immer nicht. Opal griff tief in ihre Hosentasche und zerrte die vier klein gefalteten Fünfziger hervor. »Ich bin geschäftlich hier. Ich soll es abholen.«
Endlich begriff ihre Schwester. Sie atmete langsam aus und blinzelte mehrmals.
»Soll ich wieder gehen?«, fragte Opal. »Soll ich abhauen?«
Erica schüttelte den Kopf. Sie setzten sich auf die Couch, die mit einer dicken Schicht Katzenhaare bedeckt war. »Darf man hier rauchen?«, fragte Opal nur der Höflichkeit halber. In Wahrheit hätte es sie geschockt, wäre Rauchen in dieser Wohnung verboten gewesen. Bei all dem, was hier in der Luft lag – Katzenhaare, wummernde Musik und Feuchtigkeit –, würde sich niemand am Rauch stören.
»Klar«, sagte Erica.
Opal zündete sich eine Zigarette an. »Das ist total verrückt«, sagte sie. »Einfach nur verrückt.«
»Stimmt. Aber ich kenne das schon. Nicht mit dir – mit Mom. Ich kann hinschauen, wohin ich will, sie ist überall. Wie diese Mengendiagramme in der Grundschule. Alles überschneidet sich in dieser blöden Familie.«
»Aber es ist nicht mehr so schlimm wie früher«, wandte Opal ein. »Im Fernsehen sieht man sie kaum noch, außer in diesen Werbespots.«
»Ja, die Werbespots.«
Schweigend hingen sie ihren Gedanken nach. Opal war klar, dass auch Erica jetzt das Bild einer dicken, ewig tanzenden Frau vor Augen hatte. Während sich die Frau drehte und drehte, verfärbte sich ihr Kleid wie durch Zauberhand, war erst rot und wurde nach und nach grün, wie Lackmuspapier.
»Sie verdient ihr Geld damit«, sagte Opal. »Aber am Anfang musste ich ganz schön schlucken.«
»Ich kann das nicht, Opal«, sagte Erica plötzlich.
»Was kannst du nicht?«
»Mit dir reden. Es geht einfach nicht.« Sie stand ruckartig auf, ungelenk. »Ich kann mich mit diesen Dingen zuzeit nicht beschäftigen. Ich habe so viel anderes im Kopf.«
Opal erhob sich sehr langsam. Sie hatte noch gar nichts gesagt; sie war ja eben erst gekommen. Sie hatte weder von Dotties Verliebtheit erzählt noch von den Briefen an ihren Vater. An ihren und Ericas Vater. »So schlimm war es eigentlich gar nicht, früher«, sagte sie zögerlich. Ihre Stimme klang plötzlich höher. »Eigentlich hatten wir ziemlich viel Spaß, du und ich. Du hast immer für mich gekocht, und dann saßen wir vor der Glotze. Und hyperventiliert haben wir, erinnerst du dich? Das bilde ich mir doch nicht ein?«
Erica wandte den Blick ab. »Ich sage Jordan Bescheid und bringe dir das Koks.«
Sie verschwand im Schlafzimmer und kehrte gleich darauf mit zwei Papiertütchen zurück. Papier im Tausch gegen Papier, dachte Opal, als sie ihrer Schwester das Geld gab. Das Ganze war so schäbig, so erbärmlich. Während sie die Tütchen in der Tasche ihrer Daunenjacke verstaute, den Reißverschluss zuzog und die Tür öffnete, überkam sie tiefe Traurigkeit. Langsam stieg sie die Treppe hinunter, die ganze Zeit darauf hoffend, Erica würde vor die Wohnungstür treten und sie zurückrufen. Sie sah den über das Geländer gebeugten Kopf ihrer Schwester vor sich. »Komm zurück, Opal!«, würde sie klagen, und Opal würde das Herz stehen bleiben.
Doch Erica wollte das nicht. Erica wollte mit Jordan Strang in der traurigen, kleinen Wohnung in Ruhe gelassen werden. Genau genommen eine gute Story, dachte Opal. Fast wie in einer griechische Tragödie: Die eine Schwester vertickt, die andere kauft. Doch es gab niemanden, dem sie die Story erzählen konnte. Als sie die Haustür aufzog, blies ihr der Schnee schräg ins Gesicht.