Vierzehn
»Und dann stand allen Ernstes meine Schwester auf der Matte«, sagte Erica. »Unglaublich. Da denkt man, in dieser riesigen Stadt hätte man ein bisschen Privatsphäre, aber von wegen!«
»Ich bin meine Privatsphäre gründlich leid«, erwiderte Mitchell Block. »Meine Leute leben in Wisconsin, die sehe ich nie. Ich versuche schon seit Jahren, meinen Eltern New York schmackhaft zu machen, aber sie haben Angst. Wahrscheinlich haben sie 60 Minutes gesehen und gehört, dass man sich hier ohne einen Revolver nicht mehr auf die Straße trauen darf, und damit war die Sache erledigt.«
Sie saßen in der Cafeteria des Loeb Student Center der New York University. Obwohl beide Unmengen in sich hineinstopften, hatte keiner das Gefühl, sich für die Berge Kartoffelsalat auf dem Teller entschuldigen zu müssen, und auch den Nachschlag von der Theke gönnten sie sich ohne schlechtes Gewissen. Fast den ganzen Nachmittag saßen sie dort. Die Putzfrau wischte erst alle anderen Tische ab, bis nur noch der von Mitchell und Erica trocken war. Als sich die Frau mit dem triefenden Schwamm näherte, war klar, dass sie aufbrechen mussten.
»Komm mit«, sagte Mitchell und führte sie in sein Büro im Untergeschoss des Psychologischen Instituts. In dem winzigen Raum brannte grelles Neonlicht, doch Mitchell hatte New-Yorker-Cartoons und einen überdimensionierten Kalender an die Wände gehängt, um für eine wärmere Atmosphäre zu sorgen. Auf seinem Schreibtisch lag ein großer Magnet, an dem ein Haufen Büroklammern klebte. Erica spielte mit den Klammern herum. Sie wollte noch nicht gehen.
Mitchell blickte auf seine Armbanduhr. »Ist zwar schade, aber ich muss in fünf Minuten zurück. Oder willst du den wissenschaftlichen Fortschritt aufhalten?«
Erica lächelte ihn an. Sie kannten sich noch nicht lange. Zweimal hatten sie gemeinsam zu Mittag gegessen. Beide Male hatte Erica ausgiebig geredet, während Mitchell ihr zumindest dem Anschein nach ebenso ausgiebig zugehört hatte. Er war einunddreißig und mit seiner Doktorarbeit, an der er seit Jahren saß, zur Hälfte fertig. Etwa alle sechs Monate schrieb er sie um, und seinen Professoren zufolge wurde sie zunehmend schräger. Man hatte ihm geraten, entweder eine Pause zu machen oder sie einfach fertigzustellen, die Sache hinter sich zu bringen und endlich das Leben in Angriff zu nehmen.
Erica hatte sich nach und nach in das Blickfeld von Mitchell Block geschoben. An jenem ersten Morgen, als sie vor dem Seminarraum auf ihn gewartet hatte, war er ihr mit oberflächlicher Herzlichkeit begegnet. Sie hatte ihm rasch erzählt, sie interessiere sich für die Studie und habe seit ihrer ersten Begegnung häufig daran gedacht. Das war nicht gelogen – sie hatte wirklich sehr oft an den Tag gedacht, an den Klang von Mitchells Stimme beim Aufsagen der Begriffe und an die Art, wie er die rosa Karteikarte zwischen den Fingern mit den dicken Gelenken gehalten hatte. Wie sie selbst strahlte auch er einen gewissen Überdruss aus. Anfangs hatte sie geglaubt, er wüsste etwas über sie, was ihr selbst verborgen war, doch nach gründlicher Überlegung begriff sie, dass er nur das Gleiche wusste wie sie, dass seine Wahrnehmung ihrer glich. Das alles hatte sie aus seiner kleinen Liste mit Wörtern, aus dem matten Licht in seinen Augen und aus einem Körper geschlossen, der genau so viel Platz einnahm wie ihrer.
Beim ersten gemeinsamen Mittagessen hatte er ihr das Wichtigste aus seinem Leben berichtet, und sie hatte sich mit Informationen über ihr Leben revanchiert. Ohne nachzudenken, hatte sie ihm erzählt, dass Dottie Engels ihre Mutter war, und noch im selben Augenblick über sich gestaunt, denn sie erzählte es mittlerweile fast niemandem mehr. Sie war auch nicht sonderlich stolz darauf, aber sie wollte, dass er es wusste.
»Du nimmst mich doch auf den Arm«, sagte er.
Sie schüttelte schweigend den Kopf.
»Sehr interessant. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist.«
Sie aßen Softeis aus dem Automaten in der Snackbar. Beide Plastikschüsseln waren mit einer Riesenportion Eiscreme gefüllt. Erica kam sich vor wie bei einem »Date« – ein Wort, für das sie nur Ironie übrig hatte. Mit einem Mal empfand sie sich als Teil eines Paars. Sie dachte an die Symmetrie zwischen Archie und Veronica aus ihren Comics, die sich in Pop Tate’s Chocklit Shoppe gegenübersaßen und verschämt an ihrem Icecream Soda nippten. Plötzlich fühlte sie sich auf seltsame, irgendwie sexuelle Art bloßgestellt und reagierte mit einem abrupten Bekenntnisdrang. Sie erzählte in schlichten und klaren Worten von ihrer Mutter und von ihrem Leben als Kind einer prominenten Person. Nicht einmal Jordan gegenüber war sie jemals so offen gewesen, obwohl er ihr ständig Details zu entlocken versuchte.
»Steht ihr euch nahe, du und deine Mutter?«, fragte Mitchell. Erica schüttelte heftig den Kopf.
»Wir sprechen nicht miteinander.« Der Satz klang gewichtig, hochoffiziell.
»Warum nicht?«, hakte er nach. Da war sie, die gefürchtete Frage, auf die sie keine Antwort hatte.
Nach kurzem Zögern brachte sie nur: »Ich weiß es eigentlich nicht«, hervor.
Auf dem Heimweg nahm sie das Gespräch in Gedanken mehrmals auseinander und baute es wieder zusammen. Der letzte Teil der Unterhaltung, in dem es um den fehlenden Kontakt zu ihrer Mutter gegangen war, trieb sie innerlich um. Mitchell musste glauben, dass auch in ihr die dunkle Traurigkeit steckte, die die Ergebnisse seiner Studie dicken Frauen zuschrieben. Sie hatte keine Lust mehr, ihn auf diesem Gebiet zufriedenzustellen, seinen klinischen Erwartungen zu entsprechen. Stattdessen wollte sie von nun an wie ein Flachrelief aus der Studie hervorragen als das Mädchen mit den strahlendsten Augen und den geringsten Verletzungen. Sie wünschte sich so sehr, dass er sie wirklich kennenlernte, und konnte gleichzeitig den Gedanken an das, was er über sie erfahren würde, nicht ertragen.
Mitchell saß den ganzen Tag mit dicken, größtenteils tief unglücklichen Frauen zusammen, die ihr gesamtes Leben vor ihm ausbreiteten. Er lauschte schweigend, nickte und lächelte ihnen gelegentlich aufmunternd zu. Sie wollte nicht eine von ihnen sein, sondern eine ganz andere, die nicht in die Studie passte, eine, die ihm die schön geschwungenen Kurven in seinen Diagrammen verhunzte.
Die Zwölftklässlerinnen waren mal wieder da. Wie Kurtisanen lagen sie auf dem Wohnzimmerteppich, dachte Erica, während sie über beide hinwegstieg, um ins Schlafzimmer zu gelangen. Jordan stand mit ausgestreckten Armen in der Mitte des Raums und balancierte einen Kokslöffel auf der Nase, um die zwei zu bespaßen. Erica stieg zum Hochbett hinauf und legte sich hin. Wie immer nach einer üppigen Mahlzeit war sie satt und leicht benommen. Der milchige Vanillegeschmack, den das Eis in ihrem Mund hinterlassen hatte, erinnerte sie an Mitchell, an Sex, an Süßes, Kaltes. Versonnen stellte sie sich seinen massigen Leib splitternackt vor, malte sich aus, dass er unter den Winterkleidern wie der eingeölte Körper eines Gewichthebers glänzte. Doch an Mitchells Körper wölbten sich vermutlich keine Muskelstränge hervor. Wahrscheinlich glich er eher einer Kesselpauke, war glatt und rund und trotzdem kraftvoll.
Als Jordan einige Zeit später ins Bett stieg, hoffte sie, er würde sie nicht berühren. Mit einem kurzen Seitenblick stellte sie fest, dass seine langen Arme auf dem Spiegel zugange waren. Das Patientenband baumelte locker am kümmerlich dünnen Handgelenk. Seine Geschäfte liefen offenbar gut. Wenn nachmittags die Kunden kamen, setzte er sich mit ihnen zusammen, legte Lines und ließ die Leute probieren, wofür bereits bezahlt worden war, doch niemanden schien das zu stören. Die Wohnung hatte sich in einen Salon mit Jordan als väterlichem Hausherrn verwandelt. Er erzählte den Highschool-Schülern Anekdoten aus den Sechzigerjahren, was wirklich ein Witz war – er spielte sich als Experten für eine Ära auf, die er selbst nur als Kind erlebt hatte. Und obwohl sämtliche Geschichten aus zweiter Hand stammten, gaben sich die Kids damit zufrieden. Erst neulich war Erica Ohrenzeugin eines kleinen Vortrags über Leben und Werk von Hunter S. Thompson geworden, den Jordan im Wohnzimmer vor drei gebannt lauschenden Jungs gehalten hatte.
Sie betrachtete das über den Spiegel gebeugte Profil mit dem ständig im Nasenloch steckenden Strohhalm – eine Art lebenserhaltende Maßnahme – und dachte daran zurück, wie sie etwas mehr als drei Wochen zuvor zum letzten Mal miteinander geschlafen hatten, kurz vor der ersten Begegnung mit Mitchell. Mit Mitchell hatte sich etwas verändert; plötzlich waren da Alternativen. Es musste nicht unbedingt Jordan sein, ganz und gar nicht. Die Erkenntnis versetzte sie in Begeisterung.
»Was gibt’s zu grinsen?«, fragte er, und sie bemerkte, dass sie die ganze Zeit vor sich hin lächelte.
»Ach, nichts«, erwiderte sie, ohne das kleine verstohlene Schmunzeln loszuwerden. Wenn er wüsste! Dann würde er nicht so ruhig mit dem Strohhalm im Nasenloch dasitzen und sein Spiegelbild anstarren wie der übers Wasser gebeugte Narziss!
In der Nacht träumte sie vom Besuch ihrer Schwester. Opal kam die Treppe hoch, stieß die Tür auf und trat in die Wohnung.
Stunden später, kurz bevor das Dunkel zögerlich dem Morgen wich und auf der Straße Müllwagen und Kräne ihre Lasten hoben und senkten, als wären sie weltbeherrschende Dinosaurier, erwachte sie. Jordan schlief neben ihr mit tief ins Kissen gedrücktem Gesicht. Vorsichtig, um sich nicht an der Decke zu stoßen, setzte sich Erica auf.
Warum hatte sie Opal einfach so weggeschickt? Was hatte sie damit bezweckt? Ich bin kalt, dachte sie und schämte sich. Mit keinem Menschen hatte sie mehr Zeit verbracht als mit Opal, viele lange, unwiederbringliche Jahre, die nur noch in Fotoalben und in Nächten voller Alkohol und Nostalgie existierten.
Und warum machte Opal den Drogenkurier? Erica verstand überhaupt nichts mehr. Ihre Schwester war immer so brav gewesen, so sauber und gesetzestreu. Es passte einfach nicht zu ihr, dass sie, ihr kleines Äffchen, im tiefsten Winter Kokain kaufen ging. Erica legte sich wieder hin, drehte sich zur Seite und vergrub ihr Gesicht ebenfalls in das Kissen.
Mitchell Block behauptete, seine Familie zu lieben, aber für ihn war das wesentlich einfacher, denn er sah sie nie. Seine Leute erschienen nie nachts im Fernsehen oder auf der Bühne von Schwulenbars oder plötzlich vor der Tür. Die gesamte Kommunikation zwischen ihm und seiner Familie spielte sich übers Telefon und in Briefen ab. Wenn er an seine Eltern dachte, empfand er nichts weiter als eine melancholisch angehauchte Liebe, den leicht ziehenden Schmerz, den man ab einem gewissen Alter verspürte. Als erwachsenes Kind hatte man zwangsläufig eine merkwürdige Rolle inne. Man lebte sein eigenes Leben, fuhr durch die Gegend, gab anderen Anweisungen und wurde ernst genommen, doch im Hintergrund lauerten weiterhin die beiden Menschen, die einen innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einem Nichts machen konnten. In ihrer Anwesenheit war man wieder das Baby mit dem riesigen Kopf und krabbelte, anstatt aufrecht zu gehen. In Bennington hatte es Erica immer gespürt, wenn eine Kommilitonin im Wohnheim mit ihren Eltern telefonierte. Plötzlich klang die Stimme belegt und monoton. Noch am Ende des Gangs war es zu hören.
»Kritisieren dich deine Eltern nie?«, hatte sie Mitchell gefragt. »Bringen sie dich nie in Verlegenheit? Ich kenne keine Eltern, die das nicht tun.«
Nach kurzem Überlegen schüttelte er den Kopf. »Nein, eigentlich nie. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.«
»Nicht mal, weil du so dick bist?« Sie hatte das Wort zum ersten Mal in seinem Beisein verwendet und bekam plötzlich Angst, ihn damit beleidigt zu haben.
»Ich hatte gehofft, du hättest es nicht bemerkt«, sagte Mitchell leichthin und eher belustigt. Sie wartete, dass er weitersprach. »Komischerweise habe ich mich als Kind nie dick gefühlt. Meine Eltern haben immer betont, dass ich gesund sei. Ich habe bei meiner Geburt viereinhalb Kilo gewogen, und darauf waren sie so stolz, als hätte ich den ersten Preis in einem Kälberzuchtwettbewerb gewonnen. Wegen meines Gewichts haben sie mich nie auch nur andeutungsweise kritisiert. Vielleicht war das gar nicht so gut. Vielleicht hätten sie mich besser auf Diät gesetzt. Aber meine Eltern waren schrecklich naiv und sind es bis heute. Sie halten es für gesund, viel Sahne und Käse zu essen und natürlich Unmengen rotes Fleisch. Rauf mit dem Cholesterinwert und immer schön die Arterien verstopfen, das ist ihr Credo.«
»Ich fand es immer schrecklich, dick zu sein, aber ich hielt es für mein Schicksal«, berichtete Erica. »Ich habe dagesessen und auf den Tag gewartet, an dem ich die abgelegten Klamotten meiner Mutter anziehen konnte: Caprihosen mit Gummibund, Blusen mit Abnähern. Meine Schwester Opal ist dürr. Sie kommt nach unserem Vater, der war geradezu ausgemergelt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, dünn sein. Da könnte ich ebenso gut versuchen, mich in Männer hineinzudenken.«
»Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, wie es ist, ein Mann zu sein?«
Erica zuckte mit den Achseln. »Na ja, ich kann mir ungefähr ausmalen, wie es sich anfühlt, wenn die Brust behaart ist und dieses Ding zwischen den Beinen baumelt, aber darüber hinaus – nein.« Sie sah ihn an. »Und du? Kannst du das?«
Mitchell dachte nach. Dann sagte er: »Durch die vielen Interviews, die ich mache, stecke ich immer wieder eine Zeit lang in einem anderen Menschen. Wenn man sich monatelang Geschichten von Frauen anhört, bekommt man einiges mit. Zum Beispiel an dem Tag, als du reinkamst.«
»Was war da?«, fragte sie peinlich berührt, aber auch neugierig.
»Ich fand dich sehr interessant, und zwar nicht nur als Testperson. Ich versuchte, mir vorzustellen, was für ein Leben du führst, wie du es lebst. Wie es ist, du zu sein.«
»Und?«
»Es ist mir nicht so recht gelungen.« Er schwieg. »Bis heute nicht. Du hast in deiner Kindheit und Jugend ungewöhnliche Erfahrungen gemacht. Nicht nur weil deine Mutter berühmt ist – aber sicherlich auch deswegen. Ich würde gern erfahren, wie das war.«
Jordan hatte ihr in der Highschool ähnliche Fragen gestellt, aber sie wollte ihm nichts erzählen. Mitchells Fragen dagegen störten sie überhaupt nicht. Es freute sie, dass er mehr wissen wollte. Sie legte sich ihre Erwiderung gründlich zurecht. Was sollte sie sagen? Vielleicht berichten, wie alle hundert Meter jemand auf Dottie deutete, wenn sie mit ihr die Central Park West entlangspaziert war? Oder wie man sich daran gewöhnte, die eigene Mutter mit allen anderen zu teilen, weil einem nichts anderes übrig blieb? Mitchell würde aufmerksam zuhören und nicken, doch verstehen würde er nichts. Menschen ließen sich nicht nach und nach öffnen, Fensterchen für Fensterchen wie bei einem Adventskalender. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Warum existierte kein Verein für Kinder von Prominenten? GABE wäre ein guter Name – Gesellschaft für die Abkömmlinge berühmter Erwachsener. Einmal pro Woche könnten sie sich reihum in einer anderen Wohnung zu langen, kathartischen Rebirthing-Sessions treffen. Sie sah sich im Kreis der Teilnehmer stehen, den Oberkörper heftig wiegend, die Arme um die beiden Kennedy-Kinder geschlungen.
»Lass es raus, Caroline«, riefen sie alle. »Du hattest es schwer, es war hart. Die Fotografen, die dich wie Fliegen umschwärmten, die schrecklichen Sammelteller, Kalender und Bierkrüge mit dem Gesicht deines Vaters. Lass es raus, Caroline, begib dich zurück zu den ersten Erinnerungen, zu dem samtig grünen, umzäunten Rasen, zu deinem Pony – hieß es nicht Macaroni? –, zurück in die Zeit, als du im Tüllkleidchen über den Rasen gelaufen bist, hin zu den großen gebeugten Knien und den starken, sich dir entgegenstreckenden Armen!«
Verglichen mit diesen Problemen wirkten Ericas Nöte banal. Sie stellte sich vor, wie – sobald die Reihe an ihr war – Caroline und ihr Bruder aufstanden, sich streckten, gelangweilt zu der Schüssel Nachos drüben auf dem Tisch schlenderten und nach einem Blick auf die Uhr draußen im Gang zu tuscheln begannen. Doch Erica hielt das Rebirthing durch. Die anderen stützten sie, wiegten sie in den Armen und brachten sie so weit zurück, wie es ging.
»Stell dir vor, du bist noch ganz klein«, sagte die Tochter von Harry Belafonte mit leiser, beruhigender Stimme.
Plötzlich war Erica zwölf und sah ihre Mutter im Fernsehen. In dem Witz, den Dottie erzählte, plünderte sie spätnachts den Kühlschrank. Die Zuschauer lachten so laut, als wollten sie nie wieder aufhören. Erica begann, um sich zu schlagen, doch die anderen hielten sie fest.
»Bleib dran, Erica!«, rief ihr einer der Sprösslinge von François Truffaut zu.
Sie ging weiter zurück, jetzt war sie sieben. Ihre Mutter – noch nicht berühmt, nur dick – stieg geziert in einen Swimmingpool, tauchte zuerst nur den großen Zeh ein. Wie schaffte sie es, trotz ihres Umfangs geziert zu wirken, wenn sie es darauf anlegte? Dottie stopfte sich die Haare unter die Badekappe – eine von denen, die ausschließlich Mütter trugen, mit riesigen, labbrigen Gummiblüten, die sie wie Flechten überwucherten. Sie glitt ins Wasser, teilte es mit ihrem massigen Leib in zwei Teile und schwamm mit erhobenem Kopf wie ein See-Elefant. Rings um den Pool spritzte das Wasser, und Erica zuckte zusammen.
»Weiter!«, kreischte die Tochter von Margaret Mead. »Geh so weit zurück, wie du kannst!«
Jetzt war sie wieder im großen Bauch ihrer Mutter. Sie steckte im Geburtskanal, schob sich die Wände entlang. Ihr Körper vibrierte im Rhythmus des Herzschlags. Sie schlug nun heftiger um sich, und alle kamen noch dichter heran, damit sie ihr beistehen konnten. Selbst das Interesse von Caroline und John war wiedererwacht, sie kehrten lässig zum Kreis zurück. »Ich komme raus!«, rief Erica, und wie auf einer Wasserrutsche im Vergnügungspark glitschte sie hinaus.